Adieu Alain Tanner
Der Genfer Filmemacher ist 93-jährig gestorben.
Der Genfer Alain Tanner, geboren am 6. Dezember 1929, prägte den Schweizer Film seit den 1960er Jahren wie kein zweiter. Nun ist er am 11. September 93-jährig gestorben. Er war ein Freund und treuer Begleiter der Arbeit von trigon-film und hat uns vor zwanzig Jahren schon zwei Filme anvertraut, die im Süden und Osten spielten und also zur Kollektion trigon-film passten, in der er sie gerne gesehen hat: «Une ville à Chandigarh», den er 1966 zu Le Corbusier und seiner Architektur auf dem Subkontinent in Indien gedreht hatte, begleitet von einem Text seines Freundes und Co-Autors John Berger. Und «Les hommes du port», die sehr persönliche Rückkehr nach Genua 1995 und daselbst in den Hafen, in dem Alain Tanner in jungen Jahren und von der Ferne träumend gearbeitet hatte. Eine Meditation über die Arbeit und unsere Beziehung dazu.
Wir erinnern uns gerne an ihn, seine sonore Stimme und an seine Filme, die uns und nicht nur unsere Generation durchs Leben begleitet haben, angefangen bei den frühen dokumentierenden Essays «Nice Time» (1957) und «Les apprentis» (1964) zum Spielfilm-Aus- und Aufbruch in «Charles mort ou vif» (1969) über die von Bulle Ogier so wunderbar verträumt verkörperte Rosemonde in «La salamandre» (Rosemonde: «Quand tu fais l'amour, toi, tu fais l'amour comme ca ou tu fais des trucs?» - Paul: «Je fais des trucs.») hin zur Abreise nach Algerien in «Le retour d'Afrique» (1972), die nicht ganz so zustande kam, wie sie angedacht war, aber umso intensiver. «Jonas, qui aura 25 ans en l'an 2000» (1976) war Tanners grösster Erfolg, monatelang in den Kinos, der Film, der die Träume einer Generation in einer WG vor den Toren der Stadt zusammenbrachte und die Geschichte als Blutwurst präsentierte. Da waren sie alle vereint, Jean-Luc Bideau, Myriam Boyer, Jacques Denis, Roger Jendly, Dominique Labourier und Miou Miou. Und auch Myriam Mézières, mit der Tanner Jahre später experimentierfreudige Arbeiten schrieb und drehte wie «Une flamme dans mon cœur» (1987) und «Le Journal de Lady M» (1993).
Klar, «Charles mort ou vif» war ein Kind von 68, «une petite fresque d'histoire», wobei da mit François Simon als Unternehmer ein Alter ausstieg. In Locarno holte sich Alain Tanner, der in London seine Filmstudien absolviert hatte, mit diesem Spielfilmerstling auf Anhieb den Goldenen Leoparden. Später hat er, längst Schlüsselfigur des Neuen Schweizer Films, festgestellt, dass die Erzählung und die Form eines Filmes stark davon abhängen, wo und wann er entstanden ist und unter welchen Umständen. Man kann die Filme Alain Tanners denn auch ganz ausgeprägt als Spiegelungen eines Landes betrachten, dem viel von seiner Sensibilität abhanden gekommen ist. Sie bergen kostbare Bodenproben dessen, was die Schweiz ausmacht.
Alain Tanner war sich der Grenzen des Filmens auch filmend immer bewusst und hat dies mit thematisiert: «Selbst wenn du im Innern meines Bauches filmst, kannst Du nicht sehen, wer ich bin», sagt die Serviertochter in «Le Milieu du monde» (1974). Unübersehbar wie er in «Dans la ville blanche» 1983 Lissabon eine Hommage widmet, sich vor Bruno Ganz verbeugt und mit Hilfe einer Super-8-Kamera die eigenen Bilder gleichsam aufschlitzt. Seine Figuren philosophierten vor unseren Augen und Ohren über das Leben und also auch über das Kino.
In «Fourbi» lässt er 1996 seine Rosemonde aus dem Salamander wieder auftauchen, eine andere Generation. Der Genfer liebte es, die Kamera über seine Figuren streichen zu lassen, die, würde man sie in einem Raum zusammenführen, eine grosse Familie bildeten. Mehrmals registrierte er mit seismographischem Gespür leiseste Erschütterungen, etwa in «Messidor» (1979), dem Ausbruch zweier junger Frauen, die die bewegten Frühachziger vorwegnahmen. Sein «Jonas» beschrieb nicht nur die Hoffnungen einer Generation, er stiess auch an ihre Grenzen vor. Gesucht hat Tanner immer. Seine Erzählweise selbst ist eine suchende. Und zur Suche gehört, dass sie nicht immer ans Ziel führen kann. Tannes Filme waren hautnah an ihrer Zeit und eigentlich immer eine Spur voraus. Sie bilden, das zeigt jedes (Wieder)Sehen, eine Art Familienalbum, in dem die Figuren in ihrem Hier und Jetzt hörbar für uns übers liebe Leben sinnieren, darüber, dass es auf den Weg ankommt und nicht auf das Ziel, auf die gestellte Frage und nicht auf die Antwort. Adieu, Alain, avec un très grand merci!
Walter Ruggle
FILME ZUM SCHAUEN UND WIEDERSEHEN
Eine schöne Auswahl mit Filmen von Alain Taner finden sich zum Schauen im Streaming auf filmingo.
Die beiden Dokumentarfilme Les hommes du port und Corbusier - Une ville à Chandigarh sind in der edition trigon-film als Doppel-DVD erhältlich.
Weitere Informationen zu Les hommes du port
Weitere Informationen zu Une ville à Chandigarh - Le Corbusier
Shop
-
DVD
Alain Tanners wunderbare Annäherung an Genua / Le Corbusiers Indienprojekt