Sur
1987/88, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, hat Fernando Solanas den Spielfilm "Sur" realisiert. Ein Schlüsselwerk des jüngeren politischen Kinos genausosehr wie ein melancholischer Liebesfilm. 1976 übernahmen die Generäle in Argentinien die Macht; 1983 endete ihre Herrschaft. Die 6 Millionen Dollar anfänglicher Auslandschulden haben sie in dieser Zeit auf 45 000 Millionen Dollar anwachsen lassen. Ihre Kritiker und Gegner im Land haben sie terrorisiert, gefangengenommen, gefoltert, umgebracht. Einige konnten sich ins Exil absetzen, unter ihnen der Musiker und Filmemacher Fernando Solanas, der in Paris lebte und dort einen der eindrücklichsten Exilfilme drehte: "Tangos, el exilio di Gardel".
Diesem Klagelied der Trennung folgte nach der Rückkehr "Sur", in dem die Zeit der Finsternis in Argentinien noch einmal durchquert wird und damit auch ein stückweit bewältigt. Floréal (Miguel Angel Sola), die Hauptfigur in diesem Film, ist einer, der im Land geblieben war, der verschleppt wurde und die fünf Jahre in Gefangenschaft in Patagonien überlebt hat. Er kehrt nach dem Ende der Diktatur heim zu Rosi (Suso Pecoraro), seiner Frau, und zu seinem sechsjährigen Sohn, den er erst noch kennenlernen muss. Statt der Freude über die langersehnte Rückkehr überkommt ihn die Angst vor dem Wiedersehen nach all den Jahren. Die Geschichte hat Spuren hinterlassen, im privaten wie im öffentlichen Raum. Der Schmerz der Trennungen sitzt tief. "Sur" lässt diese Spuren aufscheinen und die Hoffnungen aufleben, die Floréal in den Tagesanbruch begleiten und sein Gesicht mit jenem seiner Frau in einer wortlosen Einstellung wieder eins werden lassen.
"Sur" ist Glauber Rocha gewidmet, dem "poeta" des über Jahre hinweg von der Politik ruinierten brasilianischen Filmschaffens, der kampfeslustig und viel zu jung gestorben ist. Fernando Solanas selber gehört zu den Schlüsselfiguren des lateinamerikanischen Kinos, das er und der Spanier Octavio Getino einst ein "Kino der Dekolonisation" genannt hatten. Wie Glauber Rocha kämpft Solanas in all seinen Filmen für die eigenen Bilder, die eigenen Töne, die eigenen Geschichten. Jene von Floréal ist auch seine Geschichte. Auch Solanas kehrte heim aus dem Exil und fand das geliebte Land ruiniert vor, viele der alten Freunde tot. Sein Film schwebt auf einer Wolke, die Nostalgie heisst, die am Himmel der Melancholie hängt und keine klaren Tage verheisst, aber auch nicht bloss die Regentage betrauert.
Nacht und Leere, Nebelschwaden und Tangoklänge: Sie dominieren schon die ersten Einstellungen. Die Kamera gleitet durch den Raum der leergefegten Strassen, das Bandoneon erklingt, man hört es atmen. Solanas' Kino ist ein betont visuelles und als solches auch ausgesprochen musikalisch. Schon in "Tangos - el exilio de Gardel", später auch in "El viaje" sparte er mit Dialogen, entwickelte er sein Thema mehr über dieKomposition der Bilder, über die Rhythmen, die Montage, über die Musik, die vom legendären Astor Piazzolla stammt. Floréal durchquert in "Sur" die Nacht und entscheidet sich erst im Morgengrauen für den Neuanfang, fürs Leben, für die Hoffnung, für die Liebe. In den Strassen vor seinem Haus begegnet er den Figuren von früher, erlebt er Szenen wieder, die er selber kennt oder die ihm sein toter Freund erzählt. Raffiniert durchdringen sich da die Ebenen. So lässt Solanas etwa die Schilderung der Verhaftung und Ermordung des Freundes von diesem selber erzählen und gleichzeitig nachspielen und aus diesem Nachspiel heraus laufend auch kommentieren. Es sind keine eigentlichen Rückblenden, die da inszeniert werden, vielmehr evozieren die vertrauten Orte die Geschichte(n), die in ihnen ruhen. Die Erinnerung ist ohne fassbare Struktur, sie ändert, manchmal wild, manchmal ruhig, und ein Gedanke ergibt den anderen.
Im Kino von Solanas geht es darum, über bewegte und bewegende Bilder Bewusstsein zu bewegen. Solanas liebt das Abschweifende der spanischen Sprache, diese Art des Erzählens, auf die man insbesondere auch im Süden des Kontinents stösst, die man in Romanen wie jenen von Gabriel Garcia Marquez liebt. Er hat das im Gespräch einmal als "die andalusische Seite Lateinamerikas" bezeichnet, und von dieser andalusischen Seite lebt auch "Sur", der alles andere als ein politisch dozierender Film ist. Der Titel steht nicht nur für eine Himmelsrichtung oder für die Bar an der Ecke der Quartierstrasse: Der Titel ist ein Programm. Sur, der Süden, steht für ein Projekt, das einige Freunde von Floréal verfolgten, ein paar ältere Männer, die naiv genug geblieben sind, an eine urtümliche Sehnsucht aller Menschen zu glauben, an die "Kraft des Begehrens". Sie gehörten der Tafelrunde der Träume an, trafen sich in der Bar "Sur", die nun verlassen und verschlossen den neuen Morgen erwartet. Sie erstellten eine Chronik der Plünderungen, um den Traum des freien Menschen des Südens am Leben zu erhalten. Denn, so ihre Logik, wenn der Norden alles zurückgeben würde, was er dem Süden im Lauf der Jahrhunderte geklaut hat, könnte man damit nicht nur ein Lateinamerika aufbauen, es würde für mehrere Kontinente zu einem anständigen Leben reichen.
Klar: Wer so real denkt, ist ein Spinner. Solanas liebt Floréals Freunde und schenkt ihnen Zeit, überzeichnet mit ihnen die Haltung der Macht sarkastisch. Operettenhaft und grotesk zeichet er etwa den Umgang der Kulturlosen mit der Literatur, wenn sie in der Bibliothek zum dämlichen Refrain ("Steht auf der Liste!") aufräumen mit allen Schlüsselwerken der Literatur- und Philosophie-Geschichte. Sie bieten den Machthungrigen wenig Halt. Für den Argentinier spielt sich das Leben in einem einzigartigen Raum ab, dessen eine Seite grenzenlos offen ist und Phantasie heisst, die andere von einer Mauer dominiert wird, der Mauer der Macht. "Es ist eine Illusion, ein Kind der Realität zu sein", meint Solanas im Gespräch, "nein, das sind wir nicht. Wir sind Teil eines poetischen Wesens, das eine Idee ausmacht. Von da ausgehend konstruieren sich die grossen Metaphern. Man muss also sein Kino permanent erfinden, und Kino erfinden heisst: seine eigenen Bilder erfinden." Wer kann das noch so frei wie er? Er nimmt die Nacht als Metapher, er lässt die Stunden der Rückkehr, des Zögerns, des Wartens, des Streunens durch die Strassen des Quartiers zur Nacht der Begegnungen mit der Vergangeheit, mit den Träumen werden, den geliebten wie den gefürchteten. Es ist so, als gelte es, die Nacht der Erinnerungen zu überwinden, bevor der neue Tag angegangen werden kann. "Weisst du, was in den letzten Jahren an Scheisse produziert worden ist?", fragt El Negro, "weisst du wieviel Jahre wir brauchen werden, diese Scheisse wieder loszuwerden?"
Walter Ruggle
Credits
Möchten Sie diesen Film zeigen?
Bitte füllen Sie unser Formular aus.
Kontaktieren Sie uns
Pressestimmen
«Mit Sur begab sich der Filmemacher, der selber während Jahren in Frankreich im Exil leben musste, auf eine innere Reise, und dies im doppelten Sinn: Sur ist eine Reise ins Herz Argentiniens und des Tangos, Sur ist auch die Beschreibung einer schwierigen Rückkehr nach Jahren der Trennung. Unterstützt durch Astor Piazzollas Bandeon-Klänge und die Liedtexte, die nicht untermalen, vielmehr kommentieren und interpunktieren, reflektiert Solanas Leben und Tod, Liebe und Hass, den Traum und seine Zerstörung.» Tages-Anzeiger, Walter Ruggle
«Argentinien 1983: Die Generäle haben abgedankt, nach fünfjähriger Haft wird der Arbeiter Floreal entlassen. Er irrt durch die Nacht, da er nicht zu seiner Frau zurückkehren möchte, von der er sich betrogen fühlt. Ein Toter gesellt sich zu ihm, lässt die Vergangenheit noch einmal auferstehen und ruft ihm die Notwendigkeit des Verzeihens und Weiterlebens ins Gedächtnis. In ausdrucksstarken Bildern komponierter, mit wehmütig-begehrlicher Tango-Musik unterlegter, poetisch verdichteter Film, der die Sehnsucht nach Freiheit und Glück bildhaft macht und sich für die Überwindung gesellschaftlicher und privater Hindernisse ausspricht.» Lexikon des internat. Films
«Mein Film ist der Triumph des Verlangens, des Willens, der Triumph des Lebens über den Tod. Der ganze Film ist eine Ballade, eine Reise, vom Tod zum Leben, von der Nacht zum Tag, von der Trennung zur Begegnung, von der Diktatur zur Demokratie. Für mein Leben war die Rückkehr in mein Land die Rückkehr zur Liebe.» Fernando Solanas