Nacer Khemir

Nacer Khemir wurde 1948 im tunesischen Korba als einziger Sohn neben fünf Töchtern geboren. Begeistert von der Zivilisation seines Landes, der andalusischen Vergangenheit seiner aus Córdoba stammenden Grossmutter und dem von ihr vermittelten poetischen Erbe wurde Khemir zuerst Erzähler. Gleichzeitig begann er zu malen und illustrierte Geschichten. 1972 recherchiert er nach den Erzählern in der Medina von Tunis. Diese Arbeit führt zu einer Sammlung von Erzählungen und Geschichten, die auch sein filmisches Werk prägen sollten. 1975 erscheint Das Buch «L’Ogresse», eine kalligraphische Erzählung, das zu einer neuen Wahrnehmung in Frankreich beiträgt. 1982 und 1988 erzählt Nacer Khemir während je einem Monat die Geschichten aus 1001 Nacht im Théâtre National de Chaillot in Paris, jeden Abend eine neue Geschichte, 25 Stunden Erzählkunst. Nach verschiedenen Kurzfilmen entstand 1984 Les baliseurs du désert, sein erster Langspielfilm, in dem er auch selber die Hauptrolle eines Lehrers im Wüstendorf spielt. Es folgten Das verlorene Halsband der Taube und Bab´Aziz - le prince qui contemplait son âme. Nacer Khemir reist noch immer als Geschichtenerzähler im traditionellen Sinn durch die Länder. Er lebt in Tunis und Paris.
Nacer Khemir zum Erzählen
Wie soll man von den Geschichten reden und insbesondere von den Geschichtenerzählern? Beginnen wir mit der Oralität. Das Mündliche ist die Sprache der Mutter. Im Arabischen gibt es eine gesprochene Sprache des Dialektes, die alle sprechen. Die geschriebene Sprache unterscheidet sich leicht davon. Die Sprache der Mutter ist die Sprache, welche die Menschen sprechen, die Sprache des Wunsches, der Sinnlichkeit. Irgendwann führt der Vater dann das Kind hinaus, damit es die geschriebene Sprache erlerne. Die geschriebene Sprache ist somit die Sprache des Vaters, die Sprache des Gesetzes. Dieses Phänomen dürfte auch in anderen Kulturen und Sprachen existieren, ob das nun im Deutschen sei oder im Italienischen. Man wird Unterschiede finden zwischen dem, was geschrieben ist, und dem, was gesprochen wird. Diese Mündlichkeit ist Bestandteil der Sprache der Mutter. Mit dem Geschichtenerzähler ist es anders als man in Europa denkt. Während der Geschichtenerzähler hier ursprünglich eher ein ländlicher Erzähler ist, ist der arabische Erzähler eine städtische Figur. Er tritt im 9. Jahrhundert zum ersten Mal in Erscheinung und erzählt während 1000 Jahren in den Kaffeehäusern der grossen Städte der arabischen oder muslimischen Welt, sei das nun in Kairo, Bagdad, Alexandria, Tunis oder Fez. Er erzählt Geschichten, die mehr den Romanen gleichen, er erzählt eigentliche Epen. Das Erzählen dieser Epen kann bis zu einem Monat dauern. Jeden Abend erzählt er einen kleinen Ausschnitt, eine Episode. Er erzählt so eine Fortsetzungsgeschichte.
Wie kamen die Geschichtenerzähler denn auf diese Welt? Ich erkläre es mir mit einer Art Bestimmung in der arabischen Kultur. Der Tag gehört der Gesellschaft, gehört uns allen. Die Nacht hingegen gehört jedem Einzelnen. Den ganzen Tag hindurch arbeiten die Menschen zum Beispiel in einem Ladengeschäft, und mit dem Sonnenuntergang schliessen sie dieses ab, um beten zu gehen. Etwas später ist noch ein zweites Gebet angesetzt, das etwa mit «Gebet zum Abendessen» übersetzt werden kann. Zwischen diesen beiden Gebeten wissen sie nicht, was sie tun sollen, ob sie nach Hause gehen sollen oder ins Geschäft zurückkehren. So sind die Kaffeehäuser entstanden. In diesen Kaffeehäusern, in diesen «No Mans Land» der Zeit, hat sich der Geschichtenerzähler eingenistet, um zu erzählen. Die zwei Gebete haben den Rahmen geschaffen für das Erzählen. Auch hier finden wir die Beziehung zwischen Gesetz und Wunsch: das Gesetz sind die Gebete, der Wunsch das Geschichtenerzählen zwischen den Gebeten. Die Geschichten aus 1001 Nacht zeigen diese Beziehung zwischen Gesetz und Wunsch auf ideale Weise. In der arabischen Kultur kennen wir zwei grosse Texte, die prägend sind, nämlich den Koran und die Erzählungen aus 1001 Nacht. Ich habe den Eindruck, dass der Koran als Text vom Himmel dasteht, der uns sagt, wie wir zu leben haben. Und ihm antworten die Geschichten aus 1001 Nacht, indem sie aufzeigen, wie wir leben möchten. Zwischen den beiden Texten steht diese ganze Kultur.
Was hat mich zum Erzählen gebracht? Zum einen habe ich Geschichtenerzähler gesehen und gefilmt, insbesondere in meinem ersten Film, L’histoire du pays du Bon Dieu. Es hat mich zutiefst berührt, eine 1000-jährige Tradition zu sehen, die sowohl in der Zeit überlebt hat als auch im Raum, in der islamischen Welt. Und ich wurde mir bewusst, wie diese Tradition am Verschwinden ist, still und ohne Beachtung einfach stirbt. Vielleicht auch aus Starrköpfigkeit habe ich beschlossen, diese Tradition weiterzuführen. So wurde ich mit der Zeit zum Geschichtenerzähler. Gleichzeitig lebte ich in Frankreich, im Exil. Das Exil ist der Ort des Nichtorts, das Nirgendwo. Ich fühlte mich nirgends zuhause und wusste nicht, wie ich mit dieser neuen Gemeinschaft, in der ich lebte, eine Beziehung beginnen sollte. Die Geschichten haben mich in eine Art Exil im Exil geführt, also an einen Punkt, der zunächst noch weiter entfernt scheint. Sie führten mich in eine andere Realität, die nicht das war, was ich lebte. Beim Erzählen hatte ich den Eindruck, die anderen einzuladen, Gastfreundschaft zu schenken, sie mitzunehmen auf eine imaginäre Reise. Mein erster Film war eine Hommage an einen Geschichtenerzähler. Er handelt von einem jungen Mann, der das Land Gottes verlassen möchte, da Gott sich nicht um ihn kümmerte. Auf der Suche nach den Grenzen trifft er bei jeder Ankunft an einem Ort jemanden, den er nach der Grenze fragt und der ihm eine Geschichte erzählt. Das war also eine Suche nach der Grenze mit Hilfe von Geschichten. Allmählich entdeckt der junge Mann, dass er nicht aus dem Land Gottes heraus kann, da es dort überhaupt keine Grenzen gibt. In diesem Film habe ich einen meiner liebsten Geschichtenerzähler porträtiert und ihm die Rolle von Sindbad gegeben. Er spielt auch in Les baliseurs du désert, dort die Rolle des Bettlers, also die Rolle des Todesengels.
Filmographie
1975 Le Mulet, Animationsfilm
1976 L'Histoire du pays bon Dieu, Kurzfilm
1977 L'ogresse, Kurzfilm
1978 Somaa, Kurzfilm
1984 Les baliseurs du désert (Die Wanderer in der Wüste)
1991 Tawk al hamama al mafkoud (Das verlorene Halsband der Taube)
2005 Le prince qui contemplait son âme
2007 Die Tunisreise (Regie: Bruno Moll)
2008 L'Alphabet de Ma Mère (Short)
2012 Sheherazade
2014 Looking for Muhyiddin
2014 Min Ayna Nabda? (Doc)
2018 Whispering Sands
Sheherazade (2011)
Scheherazade, das war jene Prinzessin, die ihrem Mann jede Nacht eine Geschichte erzählte und ihm versprach, die Fortsetzung in der nächsten Nacht zu bieten, um so den eigenen Kopf zu retten, denn der Sultan war hintergangen worden und hatte beschlossen, seine Bräute künftig nach der Hochzeitsnacht umzubringen. Die Geschichten der Scheherazade kamen aus dem indisch-persischen Raum, waren durch Handelsreisende in Umlauf gebracht worden und eine in die andere verschachtelt. Weiter
Bab'Aziz - Le prince qui contemplait son âme (2005)
Eins werden mit sich selber Zwei einsame Gestalten in einem Meer aus Sand: Ishtar, ein lebensfrohes Mädchen, und Grossvater Bab'Aziz, ein blinder Derwisch. Ihr Ziel ist das grosse Derwisch-Treffen, das alle 30 Jahre stattfindet, dessen Ort sich aber nur jenen offenbart, die mit dem Herzen der unermesslichen Stille der Wüste zu lauschen vermögen und sich von ihr leiten lassen. Weiter
Le collier perdu de la colombe - Tawk al hamama al mafkoud (1991)
Mit traumhaft schönen Bildern und im Erzählstil von 1001 Nacht beschwört der orientalische Märchenerzähler Nacer Khemir die Blütezeit der andalusisch-arabischen Hochkultur. An das weltberühmte mittelalterliche Buch "Das Halsband der Taube - von der Liebe und den Liebenden" erinnernd, schildert der Tunesier kontrastreiche Facetten der Liebe, für die allein die arabische Sprache sechzig Begriffe kennt. Dabei schafft die Geschichte von Hassan, der bei einem Meister Kalligraphie erlernt, den Rahmen für geschmeidig verknüpfte Episoden. Weiter
Les baliseurs du désert (1984)
«Wanderer der Wüste» vom tunesischen Filmemacher, Maler und Poeten Nacer Khemir spielt in einer vagen Gegenwart. Khemir führt uns bildlich gesprochen ins Leben der Wüste ein. Es ist ein Leben ausserhalb des gängigen Zeitbegriffs. Das Schiff, das da plötzlich vor den Mauern der Stadt liegt, könnte jenes von Sindbad dem Seefahrer sein. Es steht für das Meer, für die Suche nach der Weite, nach dem Anderen hinter dem Horizont. Das Schiff weist einerseits auf die andalusische Brücke: Cordoba ist da und Samarkand nie fern. Weiter