Barroco
Ein reines Sinnenspiel hat der Mexikaner Paul Leduc gestaltet - das bleibt der wohl wichtigste Film zum 500. Entdeckungsjahr Amerikas. "Ich erhebe nicht den Anspruch, Filme für alle zu machen", sagt Paul Leduc. Damit hebt er sich schon mal positiv von der Masse ab. Als "Barroco" in Cannes präsentiert wurde, war der Film eine echte Wohltat, weil er gerade dort durch sein eigenes Profil aus einem Angebot herausstach, in dem so vieles sich gleicht. Leduc arbeitet, abgesehen von einem ins Off entrückten Einstiegssatz, ohne gesprochene Worte. Der Mexikaner vertraut voll und ganz den Bildern, den Montagen, den Rhythmen, der Musik, den Liedern, den Bewegungen und Übergängen: Mit elementaren Dingen versteht er es, eine Reise in die Geschichte zu unternehmen und dabei permanent zu überraschen.
"Barroco" geht zunächst einmal aus von "Barockkonzert", einem Roman des Kubaners Alejo Carpentier. Leduc hat sich von diesem Buch allerdings nur sehr frei inspierieren lassen und etwa die Figur des mexikanischen Kreolen aufgegriffen, der mit einem karibischen Mulatten zu europäischen Wurzeln aufbricht. Vergleichbar mit den modulierenden Gesängen der Urwald-Indianer wechselt Leduc die Tonarten, um den kulturellen Reichtum aufzuzeigen und das mögliche sinnliche Vergnügen bewusst zu machen. Er selber sagte unlängst im Gespräch: "Ich geniesse es, verschiedene Kulturen zu erleben, und ich glaube, es müsste ein zentraler Sinn der Menschheit sein, verschiedene Kulturen zu wahren, die Kulturen verschieden zu wahren. Das soll nicht heissen, dass man gegen den Fortschritt sein muss, aber ich glaube, dass man Formen einer gemeinsamen Entwicklung finden müsste, indem man die verschiedenen Wurzeln behält."
Ein Haus am Meer, der Regenwald, das Floss der Eroberer auf Fluss, Eingeborene, Nixen, Zaubereien - die Kamera von Paul Leduc tastet ab: Figuren in ihrer Umgebung, die Landschaft, ein Zimmer in seiner Tiefe, kurz: Räume und Wesen, die sie beleben. Körperlichkeit herrscht vor, Liebe und Hass, Annäherung und Gewalt entstehen sinnblildlich vor unseren Augen. Und plötzlich spielt gar das Meer Orgel. Farben und Formen, Rhythmen, Harmonien und Dissonanzen, Kontrapunkte und melodiöse Entwicklungen: Die Zeit wird in Barroco zum belebten Raum, in dem sich eine Vision von Geschichte zwischen zwei Kontinenten entfaltet. Hier der alte europäische, dort der neue indianische. Der Bogen spannt sich von einem arabisch-iberischen Ursprung, versinnbildlicht in der Entwicklung zum Flamenco in der einzigartigen Moschee von Cordoba, zum lateinamerikanischen Befreiungskampf, der seinerseits in der musikalischen Entwicklung sein Pendent findet. Paul Leduc will nicht zuletzt zeigen, dass es andere Formen des Sehens, andere Formen des Hörens geben kann. Wenn Carpentier sagt, dass man in Lateinamerika in der Zeit reisen kann, so führt uns Leduc vor, was das visuell und klanglich heisst.
Walter Ruggle
Credits
Möchten Sie diesen Film zeigen?
Bitte füllen Sie unser Formular aus.
Kontaktieren Sie uns
Pressestimmen
Ein grosses Fresko, das die Geschichte des amerikanischen Kontinents durch die Musik, Farben und Landschaften zeigt. Der Film ist das Wunderwerk eines Antiquariats, in dem man entdeckt, dass die Kulturen sich, trotz des Massengenozids in Amerika, gleichwohl beeinflusst haben.
La Jornada, Mexico
Leduc gelingt es, die grosse Leidenschaft des karibischen Schriftstellers, die Musik, in all ihren Ausdrucksformen filmisch umzusetzen und Genres, Rhythmen, Epochen, Geschichten, Harmonien und Kontrapunkte in einem Werk zu verschmelzen, das ohne das gesprochene (nicht aber gesungene) Wort auskommt. Dieser grosse Film entstand mit der Ehrlichkeit dessen, der ohne Netz springt und sich nicht um den Aufprall kümmert; wenn er etwas will, dann das Überdenken der Geschichte.
El País, Madrid
Alles ist harmonisch barock: Von den Azteken-Feder-Büschen bis zu den Perücken, den Carabali-Trommeln bis zu den Sarabanden im Salon, vom Klang der Seemuscheln bis zum Rattern der Maschinengewehre im Spanischen Bürgerkrieg. Im Gegensatz zur kommunikativen Sprache, die sparsam und knapp auf ihre Funktion reduziert ist - nämlich die Information weiterzugeben - liebt die barocke Sprache Zusätze, das Spiel - das heisst die Freude, die Erotik. Die Struktur des heutigen Barocks ist das Spiegelbild eines gezwungenermassen zerbröckelten Wissens, das weiss, dass es nicht mehr in sich verschlossen ist. Die Kunst der Entmachtung, der Diskussion.
Beatriz Fernández-Lienhard