Otar Iosseliani
Geboren in Georgien, seit vielen Jahren in Frankreich lebend, hat sich Otar Iosseliani in seinem Werk stets mit dem Wert der Dinge im Lauf der Zeit beschäftigt. Seine Filme sind geprägt vom Fliessenden, der liebevollen Beobachtung, der Poesie, der Nostalgie auch. Dialoge sind Nebensache, alles ist Musik. Wenn man mit Otar Iosseliani über die Struktur seiner Filme redet, so kommt er auf das Bild des Skeletts zu sprechen, das sich als tragfähige Konstruktion in Lebewesen genauso findet wie in Skulpturen und in Filmen. Ob in «Es war einmal eine Singdrossel» (1972), «Pastorale» (1976) oder «Et la lumiere fut»(1989): Der Georgier setzt auf eine Grundstruktur, eine Art innere Bewässerung, die ihm den sanften Fluss ermöglicht, der sich aus jenen kleinen Strudeln ergibt, die das Leben ausmachen. Er betrachtet den Wert der Dinge im Lauf der Zeit, insbesondere die Verdrängung der immateriellen Werte durch Konsum und Besitz, den Verlust an Bewusstsein für Gegenstände wie für Beziehungen. Bravourös geschieht dies in «Les favoris de la lune» (1984), wo der Diebstahl zur Metapher fürs Leben wird und Iosseliani uns vor Augen führt, wie sich die Dinge bei jedem Handwechsel abnutzen, wie ihre Seele verlorengeht.
Musik und Mathematik
1934 im Zeichen des Wassermanns in der georgischen Hauptstadt Tbilisi geboren, besuchte Otar Iosseliani zunächst die Musikschule, studierte anschliessend in Moskau Mathematik, bevor er zwischen 1955 und 1961 von Alexander Dowschenko in die Filmregie eingeführt wurde. Musik und Mathematik bleiben Konstanten in seiner filmischen Arbeit, improvisiert er doch immer wieder auf einer vorgegebenen Struktur. Seit seinem ersten, stark experimentellen Film «April» (1962) spielt der Dialog als Träger von Inhalten kaum je eine Rolle, wohingegen die Musik in vielen Filmen auch im Bild direkt über Musizierende sichtbar ist. Ein Perkussionist und Schwerenöter ist eine tragende Figur in «Es war einmal eine Singdrossel». Er hängt praktische jeder Frau nach, die seinen Weg kreuzt, und kommt entsprechend knapp zum Einsatz im Orchester. Die jungen Musiker verweilen und musizieren in «Pastorale» im Dorf, dessen Sprache sie kaum verstehen. In «Et la lumière fut» verstehen wir über Worte gar nichts, und auch in dem im August in Locarno präsentierten neusten Werk «Chant d'hiver» (2015) hatten diejenigen, die die Untertitel zum Film machen mussten, wenig zu tun.
Otar Iosseliani ist so etwas wie der Meister des Stummfilms mit Ton. Er führt er uns auf einen praktisch dialogfreien Zustand der sinnlichen Wahrnehmung zurück: Schauen und Lauschen und über das derart Wahrgenommene empfinden, über alle Zeiten hinweg. In «Les favoris de la lune» hat der Filmemacher zwei Epochen ineinander gefügt, der jüngeren durch die Montage einen schnellen, der älteren einen gemächlichen Rhythmus verliehen. Weniger Bewegung, erklärte er mir damals, müsse nicht heissen, dass man nicht auch in einer Spannung lebe: «Heute macht man zwar sehr viele Bewegungen, aber man ist nicht mehr gespannt.»
Die Liebe zum Dokumentarischen
Der Georgier komponiert Elemente des Lebens auch dort, wo er rein dokumentarisch arbeitet und ein Fronleichnamsfest im Baskenland filmt («Euskadi», 1983) oder das parasitäre Mönchsleben in der Toskana («Un petit monastère en Toscanie», 1988). Er bezeugt, was er gesehen, erfahren, erlebt hat. Wenn er fiktiv vorgeht, bleibt das Grundanliegen dasselbe, auch wenn er hier die Zufälle selber bestimmt und kleine Rollen übernimmt. Im Bus dreht er seinen Schnauz in «Pastorale», als Safaritourist reist er in «Et la lumière fut» durch Afrika, in «Les favoris de la lune» schnappt er sich eine Nutte und lächelt den anderen zu: «Quel joli temps, mesdames!»
Vier Stunden dauert «Seule, Georgie» (1994). Auf den ersten Blick ist das eine immense Rückschau auf die Geschichte des ehemaligen sowjetischen Gliedstaates, prallvoll von Material. Iosseliani kehrte in die Heimat seiner Vorfahren zurück, um am Beispiel ihrer Kultur und Geschichte über einen schmerzlichen Prozess nachzudenken, der an verschiedenen Orten zu Kriegen geführt hat, wie man sie lange Zeit nicht mehr für möglich hielt. Auch «Chant d'hiver» fängt mit absurden Kriegsszenen an, in denen die einen Bomben auf die Seite der anderen schiessen, viele das Leben verlieren, die anderen zurückschiessen, und auch da viele das Leben verlieren, als wär's die logischste Sache der Welt.
Ein Ausserirdischer
Das georgische Kino hat einen ausgeprägten Sinn für die sanfte Ironie. Nichts von Holzhammer, aber permanente Nadelstiche, Leinwand-Akupunktur. Natürlich ist und bleibt Iosseliani dabei ein Nostalgiker, der sich nach den gemächlicheren Zeiten sehnt. Arm sein hätte zu sowjetischen Zeiten bedeutet, nicht korrupt zu sein, und so sei Armut eben etwas Ehrenhaftes gewesen, sagt er. Es ist in seinen Filmen immer wieder, als würde der Regisseur als Ausserirdischer auf den Planeten Erde kommen und in wenigen Bildern nach Hause berichten, was die Gattung Mensch da anstellt und auch, was das Menschsein auszeichnen kann.
Nicht ganz zufällig hat er einen seiner Filme auf dem afrikanischen Kontinent gedreht. In «Et la lumière fut» verarbeiten die Menschen im Dorf im Schau-Spiel, was der Tag ihnen geboten hat. Das schönste an diesem Film ist die konsequente Umkehr der Geschlechterrollen. Am Wasserplatz besorgen die Männer die Wäsche, in den Büschen jagen die Frauen das Wild, kommandieren nach Abschluss ihres Arbeitstages im Badebottich sitzend ihre Männer herum und schimpfen bös, wenn diese nicht gehorchen. Und im lokalen Puff bekommt ein Prostituierter nach geleisteter Arbeit als Lohn eine Banane.
Jacques Tati lässt immer mal wieder grüssen. In «La chasse au papillon» beschreibt Iosseliani wie der legendäre Franzose seine romantische Vorstellung vom gemütlichen Leben im Provinznest, wo die Moderne Einzug hält. Auch hier kehrt er alles um, lässt das Alltägliche absurd erscheinen und das Absurde alltäglich. Eines der diesbezüglich irrsten Beispiele findet sich in «Brigands» (1996), wo er uns in eine Folterkammer der Stalinzeit einlädt und uns den Folterkeller als die alltäglichste Sache der Welt präsentiert.
Heiter sein
In den Filmen von Otar Iosseliani ist alles in Fluss, herrscht ein dauerndes Kommen und Gehen - wie im Leben. In ein und derselben Wohnung werden Familien verhaftet, ziehen andere ein, um später selber entsorgt zu werden und neuen Platz zu machen. Je totalitärer ein System, desto schonungsloser geht es mit den Menschen um. Am Ende ist «Brigands» im Schoss des Kapitalismus angekommen, wo die Freiheit die Diktatur übernommen hat. Hier bleibt einem Kind nichts mehr übrig, als von ihr Gebrauch zu machen und die ganze Erwachsenensippe zu beseitigen - so, wie es das in den Computerspielen gelernt hat. Die Umstände mögen sich ändern, die Mechanismen bleiben die gleichen. Es gibt wenig Kummer, schon eher Durst. Zum Glück hat das Stadtkino eine Bar. Doch geben wir dem nur in seinen Filmen dialogscheuen Filmemacher das letzte Wort: «Unser Leben ist bereits so ernst, dass es besser ist, heiter zu sein.»
© Walter Ruggle
Chant d'hiver (2015)
Alles hängt mit allem zusammen in den Filmen des georgisch-französischen Regisseurs Otar Iosseliani: Die Französische Revolution und die Räumung von Flüchtlingslagern, neureiche Russen und verarmte Adelige, die Tochter des Polizeichefs und die kleine Gangsterin. CHANT D' HIVER ist ein skurriler Film mit tollen Slapstick-Einlagen, der an die Werke von Jacques Tati oder Buster Keaton erinnert. Weiter