L'homme sur les quais
Der haitianische Filmemacher Raoul Peck lässt seine weibliche Hauptfigur in die Kindheit in den 60er Jahren zurückblicken, um die Gegenwart begreifbarer zu machen. Haiti dominiert gelegentlich die Schlagzeilen, wenn Diktatoren die Karibikinsel beherrschen. Das war schon anfangs der 60er Jahre so, als das Duvalier-Regime den Menschen den Alltag zur Tortur machte. Raoul Peck, aufgewachsen in jenen Jahren auf Haiti, blickt in seinem Spielfilm "L'homme sur les quais" zurück und schildert aus der Perspektive eines Mädchens das Leben unter dem Militärregime. Eine realistische Nachinszenierung von historischen Ereignissen strebt er nicht an; Peck will vielmehr zu fassen versuchen, wie ein böser Traum, der Wirklichkeit wurde, von einem Kind erlebt wird. Was soll die achtjährige Sarah, die Hauptfigur seines Filmes, denken, wenn sie vom Balkon herab mitansehen muss, wie der Vater in Uniform einen Verwandten der Familie mit einer Eisenstange malträtiert?
Raoul Peck lässt Sarah als Frau von heute über ihre Kindheit von damals nachdenken. Er blendet zurück, lässt traumatische Szenen wie die beschriebene auftauchen: Unauslöschliche Erinnerungssplitter. Die Diktatur spaltet Familien. Die Männer auf den Quais, auf die der Titel anspielt, sind die Geheimpolizisten jener Tage. Einer von ihnen ist der Sadist Janvier, der auch den relativ regierungstreuen Vater Sarahs noch zu vertreiben wusste, auf dass das Kind mit seiner Grossmutter und den beiden Schwestern des Vaters aufwuchs. Peck hat einen atmosphärisch dichten Film gestaltet. Was den Film auszeichnet, ist sein Augenmerk auf kleinste Details, die der Atmosphäre von damals jene unerträgliche Spannung auferlegen, ist die quälende Stille, die an die ritualisierte Stille mancher Western erinnert: hier rekurriert sie auf eine Wirklichkeit, in der es nichts zu spassen gab.
Nicht die grossen Ereignisse, nicht der grosse politische Lärm interessieren Peck. Er konzentriert sich auf die kleinen Gesten der Protagonisten im sonnendurch-fluteten und verstaubten Dorf seiner Handlung. Die Perspektive des Kindes, aus der heraus er erzählt, ist ihm natürlich nützlich. Der Blick des Kindes, der hier vor allem der Blick des Mädchens auf die Strasse, ins Freie, in die nächste Welt draussen vor der Tür ist, ist gleichzeitig auch der Blick, der das Leben des Kindes verändern wird, denn da draussen spielen sich Dinge ab, die es so leicht nicht verarbeiten kann und will. "L'homme sur les quais" ist zwar auf Haiti angesiedelt (und in der Dominikanischen Republik gedreht) - er könnte aber überall dort spielen, wo Militärköpfe die Macht übernommen haben.
Walter Ruggle