Sans soleil
In seinen filmischen Essays hat der Franzose Chris. Marker aufgezeigt, welches Potenzial an Fiktion in jedem Dokument steckt. Auch Lyrik gibt es, im Kino.
«Für Euch bedeuten Filme Unterhaltung. Für mich sind sie fast eine Art zu leben.» Was der Russe Vladimir Majakowski 1922 gesagt hat, das hätte der Franzose Chris. Marker auch unterschrieben. Von ihm existieren etwa so viele Angaben über den Geburtsort wie Versionen von Biographien. Er war ein Weltenmensch mit französischem Pass, 1921 geboren, studierter Philosoph, Mitglied der Resistance, ein Militanter im Leben wie im Kino, überall zu Hause. Er ist eine reisende Seele, Filmemacher par excellence. «Schöpfen heisst, sich erinnern», hat ihm der Japaner Akira Kurosawa, den er in «A.K.» zu fassen suchte, auf Band gesprochen. Die Erinnerung, das sind Bilder. Eine von Chris. Markers wunderbaren Erinnerungsarbeiten heisst «Sans Soleil», ist 1983 herausgekommen und hat ihren Titel von Mussorgski entlehnt. Denn Filme sind wie Musik: Sie entfalten sich in der Zeit. Marker selber nennt sich in diesem Filmpoem einen «Fürsprecher der Zeit». Sich Zeit nehmen, das ist eine Kunst, erst recht im Zeitalter der digitalen Hektik und Beliebigkeit. Marker: «Die Sache, die den meisten von uns fehlt, und vor allem den Cineasten, ist die Zeit. Die Zeit zu arbeiten, aber auch vor allem, nicht zu arbeiten. Die Zeit zu reden, zuzuhören und vor allem, zu schweigen. Die Zeit zu Filmen und nicht zu filmen, zu verstehen und nicht zu verstehen, erstaunt zu sein und zu warten aufs Erstaunen, die Zeit zu leben.» Auf japanische Art beten, beschreibt Marker in «Sans Soleil»: Ein Gebet, das sich ins Leben einfügt, ohne es zu unterbrechen. Wie ein guter Film.
Marker nimmt sich Zeit für die Bilder, begleitet sie in seinen Filmessays mit Kommentaren, die literarisches Format haben und bindet uns ein in einen Prozess der Wahrnehmung. Seine Texte schaffen die unterschiedlichsten Spannungen, indem sie das Bild, zu dem sie gehören, mal ganz direkt begleiten, mal sind sie vorausgeeilt, mal liefern sie die Erklärung hintennach. Mal heben sie unmerklich ab, mal graben sie sich ein. «Wie kann man sich an Durst erinnern?» fragt der Kommentar, und im Bild sehen wir eine Afrikanerin auf einem Flussboot. Das Bild wird angehalten, eingefroren. Von Anfang an war ein Tropfen hörbar, ein Geräusch, das auch später immer wieder aufgenommen wird. In einer zunächst kühnen Assoziation schneidet Marker auf den japanischen Penner, der den Verkehr an einer vielbefahrenen Kreuzung regelt und sich damit «an der Gesellschaft rächt». Auch er kennt den Durst, aber in seiner Erinnerung ist es das Verlangen nach Sake.
In «Lettre de Siberie» liess er eine kleine Sequenz dreimal ablaufen, jedes Mal mit einem anderen Kommentar. Wann ist Wahrheit? Wer sieht was? Was wird wahrgenommen? Wie leicht lässt man sich gerade von Bildern manipulieren? Markers Filme gehen dialektisch vor, stellen Bild, Ton und Text als gleichwertige Thesen in den Raum, um im Kopf des Betrachters, der Betrachterin erst eigentlich zusammenzuwachsen, zu entstehen. «Hitch hatte nichts erfunden, alles war da.» Zu dieser Erkenntnis kommt der «Vertigo»-Bewunderer Marker in «Sans Soleil». Auch die Fiktion dokumentierte 100 Jahre lang das, was da ist - erst in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sie begonnen, in virtuelle Räume vorzudringen, und wenn es eine neue Entwicklung gibt, dann jene technische: Im virtuellen Raum ist materiell nichts Existent und doch alles da. Marker hat in «Sans Soleil» bereits über die elektronisch generierten und verfremdeten Bilder nachgedacht, anhand des Computerkünstlers Hayao Yamaneko, der die existierenden Bilder elektronisch bearbeitet: «Wenn die Bilder der Gegenwart sich nicht ändern, die Bilder der Vergangenheit ändern.» Mit der «Zone» in Andrei Tarkowskis «Stalker» hat Marker die Computerarbeit damals verglichen. Bewegen wir uns am Ende aus Zeit und Raum?
© Walter Ruggle
Credits
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Pressestimmen
«In einer Kaskade von Bildern, selbstgedrehten und vorgefundenen, auf einem Trip durch das moderne Japan, aber auch mit Exkursionen nach Guinea-Bissau oder Island, San Francisco oder Paris, misst Sans soleil das Terrain des menschlichen Gehirns aus, seine Denk- und Erinnerungskapazitäten, die Produktivkraft der Imagination. Dabei werden die Elemente der politischen Ordnung neu verhandelt: Gesellschaft und Anarchie, Faschismus und Sozialismus, Krankheit und Gesundheit, Rationalität und Fantasie, Dokument und Fiktion – in einer Ursprünglichkeit, der kein Tabu zu sakrosankt, keine Utopie zu kühn ist. Kreatives Fieber. Kreativer Wahnsinn. Sans soleil ist ein Wendepunkt im modernen Kino. Man kann nicht mehr Filme machen, wie man es bislang tat, und man kann nicht mehr auf die Filme schauen in der vertrauten Manier.»
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
«Das Werk, das den Begriff ‹Filmessay› mehr als jedes andere mit Sinn erfüllt hat: Markers in Briefform gehaltene Reflexionen sind weniger klassischer Reisefilm denn ein kühner Versuch über das Funktionieren von Erinnerung in kinematografischer Form. Mit vergleichsweise simplen Mitteln hergestellt (auf 30-Meter-Filmrollen gedreht, ohne Synchronton, ohne Team), verblüfft Sans soleil bis heute durch seine virtuosen Perspektivenwechsel und Zeit-Schichtungen – es ist ein Film, der sich zuletzt ‹selbst erinnert›. Abgesehen von der Filmkritik hat Sans soleil unzählige andere Disziplinen herausgefordert, von der Medientheorie bis zur Gedächtnisforschung. Entstanden an der Schnittstelle von analoger zu digitaler Arbeitsweise, ist der Film im Schaffen Markers ein Wendepunkt, hin zu multimedialen Formen, und eine letzte Hommage an die Bedeutung, die Textur und die Schönheit des Film-Bildes. Ein Meisterwerk.»
Constantin Wulff, Filmmuseum Wien
«Markers Essays gehören zu den erfrischendsten filmischen Annäherungen an Wirklichkeiten, gerade weil sie sich selber und das Annähern auch immer wieder in Frage stellen.»
Walter Ruggle, Filmbulletin
«Unmöglich, in der lyrisch-philosophisch durchwogten Gedankenfülle, worin die Blumen der Weissagung wie die harschen Disteln der Statistik blühen, gleich ganzen Überblick zu erlangen.»
Stuttgarter Zeitung
«Man muss den Film zweifellos mehrmals sehen, um diese komplexe Konstruktion und den artistischen Witz, der darin steckt, zu erfassen.» Tagesspiegel
«Bilder und Worte spielen mit dem Zuschauer Hase und Igel – und während man atemlos zuschaut, tröstet man sich über die eigene Wehrlosigkeit hinweg mit einem Wort von Adorno: 'Der Wert eines Gedankens misst sich an seiner Distanz zu der Kontinuität des Bekannten.' Nach zehn Minuten hat Chris. Marker, dieser originelle Aussenseiter, gewonnen: Er hat aus der Banalität der Welt die ersten strahlenden Funken einer Welterklärung geschlagen.»
Süddeutsche Zeitung