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«Der Film ist zutiefst persönlich und zutiefst intim»
Die Regisseurin Cherien Dabis mit einem Statement zu ihrem Film «All That's Left of You».
«Meine erste Erinnerung an eine Reise nach Palästina geht zurück auf einen Besuch in unserem Heimatdorf, als ich acht Jahre alt war. Bewaffnete israelische Soldaten hielten meine Familie 12 Stunden lang an der Grenze fest. Sie durchsuchten den Inhalt unserer Koffer. Mein Vater stellte sich ihnen entgegen, als sie anordneten, uns alle einer Leibesvisitation zu unterziehen, einschliesslich meiner kleinen Schwestern im Alter von drei und einem Jahr. Die Soldaten schrien ihn an. Ich hatte grosse Angst, dass sie ihn töten würden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach dieser Tortur durch Jerusalem fuhr, den Kopf aus dem Fenster streckte und dachte: Das ist es, was es bedeutet, Palästinenser:in zu sein. Die Menschen mögen uns nicht, und deshalb behandeln sie uns schlecht.

Mein Leben ist voll von Geschichten über den Schmerz und den Konflikt, den ich in Palästina gesehen und durchlebt habe. Und doch verblassen meine Erfahrungen als palästinensische Amerikanerin, die grösstenteils in der Diaspora lebt, im Vergleich zu denen jener, die in Palästina leben, sowie zu den Generationen, die vor mir kamen. Mein Vater ist ein palästinensischer Flüchtling, der den grössten Teil seines Lebens im Exil verbracht hat. Ich bin mit seinen Geschichten aufgewachsen und mit denen meiner Familie und meiner Gemeinschaft, die immer noch dort leben, Geschichten von 1948, 1967 und den Intifadas. Ihre Erfahrungen wurden so tiefgreifend und bewegend weitergegeben, dass sie manchmal meine eigenen Erinnerungen zu sein scheinen.

‹Postmemory› wird definiert als die Erfahrung, dass die eigene Alltagsrealität von der Erinnerung an eine viel bedeutendere Vergangenheit überschattet wird, die die eigenen Eltern durchlebt haben. Die Betonung liegt jedoch auf den Ereignissen, die bereits vergangen sind. Was geschieht, wenn die Vergangenheit noch nicht vergangen ist? Wie heilt man ein Trauma, das noch nicht überwunden ist? Das unerkannt geblieben ist? Das aus dem Bewusstsein der Welt getilgt wird? Über diese Fragen habe ich einen Grossteil meines Erwachsenenlebens nachgedacht. Nun wollte ich mich der Erforschung der Antworten widmen. Ich wollte versuchen, mir und meiner Gemeinschaft durch das Erzählen von Geschichten zu helfen. Ich wollte das Mitgefühl der Welt für Menschen, die so viel durchgemacht haben, stärken. Also begann ich darüber nachzudenken, wie ich unsere Entstehungsgeschichte und die Geschichte des generationenübergreifenden Traumas von 1948 bis heute erzählen könnte.

All That’s Left of You ist nicht politisch. Der Film ist zutiefst persönlich und zutiefst intim. Ein historisches Epos, das die Geschichte des Landes mit den Augen einer Familie und drei Generationen des Kampfes erzählt. Ein Familienporträt, das die Beziehung zwischen Grossvater, Vater und Sohn und das Erbe des Traumas, das an jeden von ihnen weitergegeben wurde, untersucht. Es ist ein Drama mit durchdringenden Momenten der Freude, der Liebe und des Humors, die dafür sorgen, dass es nicht zu anstrengend wird. Vor allem aber ist es eine Gelegenheit, Veränderungen anzustossen, indem es ein Gespräch über die Notwendigkeit der Anerkennung unseres Leidens in Gang setzt, denn dort beginnt die Heilung. Es mag wie ein hochgestecktes Ziel erscheinen, aber ich glaube wirklich an die Kraft des Kinos, die Dinge neu zu betrachten, Menschen zu inspirieren und zu heilen.»

Cherien Dabis:
Cherien Dabis (*1976 in Nebraska) ist eine palästinensisch-amerikanische Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Schauspielerin. Sie wuchs im ländlichen Ohio auf und verbrachte die Sommer oft in Jordanien, der Heimat ihrer Mutter. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Rassismus während des Golfkr…

All That's Left of You
Artikel veröffentlicht: 16. Oktober 2025
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