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«Dieser Film ist die Begegnung zwischen zwei Welten»
Ein Gespräch mit der tunesischen Filmemacherin Kaouther Ben Hania zu ihrem Film «The Man Who Sold His Skin».
Was war der Ursprung von The Man Who Sold His Skin?
Die Idee für den Film keimte bereits 2012 in meinem Kopf auf. Ich war im Louvre in Paris, der zu dieser Zeit dem belgischen Künstler Wim Delvoye eine Retrospektive widmete. Dort sah ich in den Appartements Napoleon III Delvoyes «Tim», in dem der Künstler den Rücken von Tim Steiner tätowiert hatte, der mit ausgezogenem Hemd auf einem Sessel sass und Delvoyes Entwurf zeigte. Von diesem Moment an hat mich dieses singuläre und übergriffige Bild nicht mehr losgelassen. Nach und nach hatten sich andere Elemente meiner Erfahrung, die brennende Aktualität und unvorhergesehene Begegnungen zu diesem Bild gesellt und es bereichert. Als all diese Elemente zusammenkamen, fühlte sich die Geschichte fertig an und zwang mich, sie aufzuschreiben. Eines Tages im Jahr 2014, als ich gerade dabei war, die x-te Version des Drehbuchs für meinen vorherigen Film La belle et la meute zu überarbeiten, ertappte ich mich dabei, dass ich fünf Tage lang nonstop an der Geschichte von The Man Who Sold His Skin geschrieben hatte. Nach der Lancierung von La belle et la meute im Jahr 2017 sah ich mir diesen ersten Entwurf an und begann, ihn zu überarbeiten, ihn zu ziselieren, bis ich eine solide Version hatte. Das Drehbuch zu The Man Who Sold His Skin war also ein langer Prozess, der mit einem Bild begann und zu einer reichhaltigen Geschichte führte.
Können Sie erklären, wie Sie dazu gekommen sind, Flüchtlinge in die Kunstwelt zu bringen?
Dieser Film ist die Begegnung zwischen zwei Welten, die mich beschäftigen: die Welt der zeitgenössischen Kunst und die Welt der Flüchtlinge. Es sind zwei abgeschottete Welten, die von völlig unterschiedlichen Codes bestimmt werden. Auf der einen Seite haben wir eine etablierte, elitäre Welt, in der Freiheit das Schlüsselwort ist, und auf der anderen Seite haben wir eine Welt des Überlebens, die von den aktuellen Ereignissen beeinflusst wird und in der die Abwesenheit von Wahlmöglichkeiten die tägliche Sorge der Flüchtlinge ist. Der Kontrast zwischen diesen beiden Welten provoziert eine Reflexion zur Freiheit. Als der Flüchtling Sam den Künstler Jeffrey trifft, sagt dieser zu ihm: «Du bist auf der richtigen Seite der Welt geboren.» Das Problem ist, dass wir in einer Welt leben, in der die Menschen nicht gleich sind. Trotz all des Geredes über Gleichheit und Menschenrechte sorgen die immer komplexeren historischen und geopolitischen Zusammenhänge dafür, dass es zwangsläufig zwei Arten von Menschen gibt: die Privilegierten und die Verdammten.
Der Film ist ein faustischer Pakt zwischen den Privilegierten und den Verdammten. Sam Ali erklärt sich bereit, dem Teufel den Rücken zu geben, weil er keine andere Wahl hat, und so betritt er die elitäre und hyperkodierte Sphäre der zeitgenössischen Kunst durch eine unwahrscheinliche Tür. Sein scheinbar naiver und ungebildeter Blick präsentiert uns diese Welt aus einer anderen Perspektive als derjenigen, die das kulturelle Establishment üblicherweise zeigt. Für jemanden, der so stolz und aufrecht ist wie Sam, kann es einen in den Wahnsinn treiben, ein Objekt zu werden. Er wird blossgestellt, verkauft, von einer Seite auf die andere geschoben. Konfrontiert mit einem aussergewöhnlichen Schicksal, im Griff eines herzzerreissenden inneren Konflikts, wird Sam Ali versuchen, seine Würde und seine Freiheit wiederzuerlangen.
Wie haben Sie Ihre Schauspieler ausgewählt?
Sam Ali ist ein sensibler, impulsiver, echter und ganzer Charakter, «rough on the edges» könnten wir sagen. Er ist ein lebendiger, geschundener Mann, der sich mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie und schwarzen Humor verteidigt. Um Sam zu spielen, brauchte ich einen soliden Schauspieler, der die Kunst beherrscht, sich mit Leichtigkeit von einem Register zum anderen zu bewegen. Das Casting hat lange gedauert, aber als Yahya Mahayni auftauchte, erkannte ich ihn sofort als Rohdiamanten. Ein Schauspieler, der in der Lage ist, den Film auf seinem Rücken zu tragen. Die Schauspielerin Dea Liane hat schon auf zahlreichen Bühnen gespielt. Sie hat diese Strenge und diese Arbeitsfähigkeit, die für Schauspielerinnen auf hohem Niveau typisch ist. Sie stach aus der Masse heraus. Die Rolle der Abeer war Deas erste Filmrolle, und es war ein echtes Vergnügen, bei ihr Regie zu führen, sie zu filmen. Ich persönlich verehre Monica Bellucci und wollte mit ihr arbeiten. Ich schickte ihr das Drehbuch, und sie liebte die Rolle. Soraya ist eine Frau, die diese hochmütige und versnobte Seite zum Ausdruck bringt, die man manchmal bei Menschen sieht, die in ihrem Job etabliert und selbstbewusst sind, Menschen, die die Codes beherrschen. Monica ist im Leben ganz und gar nicht wie Soraya. Sie ist ein bescheidener und sensibler Mensch, aber sie kennt die Kunstwelt gut und verstand die Figur Soraya auf Anhieb. Ich weiss noch, dass sie mich während der Vorbereitung anrief, um mir zu sagen: «Wir müssen uns treffen, ich habe eine klare Vorstellung davon, wie Soraya aussieht.» Ich ging mit Angst zu dem Treffen, weil ich immer Angst vor Darstellenden habe, die entscheiden, wie ihre Figuren aussehen sollen. Ich hatte meine eigene klare Vorstellung davon, nahm einige Frisuren- und Kostümfotos mit, die ich mir für die Figur vorgestellt hatte. Monica legte ihre Vision dar, und sie stimmte genau mit den Bildern überein, die ich hatte. Wir waren von Anfang an auf der gleichen Seite.
Mit der Figur des Jeffrey Godefroy wollte ich diese romantische und überholte Vorstellung vom Künstler als einem gequälten, randständigen Wesen, das unter seinen Dämonen leidet, erschüttern. Er ist eine charismatische, selbstbewusste Figur, die das Innenleben des Kunstmarktes kennt und so weit geht, mit einem provokanten Werk einen Stein in den Teich zu werfen. Er ist die Figur des kreativen Unternehmers. Unser belgischer Co-Produzent hat mir ein Demo von Koen de Bouw geschickt, und es war einfach Jeffrey. Er ist ein formidabler Schauspieler mit einem unvergleichlichen Charisma. Wenn er seine Zeilen deklamiert, mit dem Tonfall seiner Stimme und dem Charisma, das er zum Ausdruck bringt, hat er jeden im Griff. Er hat diese betörende Ausstrahlung, die kluge und mächtige Männer haben.
Der Film bringt viele verschiedene Genres zusammen: Drama, Tragödie, Satire, Romantik, schwarzen Humor. Wie haben Sie es geschafft, diese verschiedenen Elemente zu vereinen?
Einen Film zu machen, ist für mich wie ein Musikstück zu schreiben. Wenn man eine Partitur schreibt, kann man nicht das ganze Stück über die gleiche Tonart oder den gleichen Tonfall haben, sonst ist Langeweile garantiert. Im Film fächern wir eine Reihe emotionaler Variationen auf, die wir mit dem Publikum teilen. Die Variation des Themas kommt hauptsächlich von der emotionalen Reise der Hauptfigur. Der psychologische Zustand des Protagonisten diktiert jede Szene. Sam Ali ist verliebt, daher die Romanze, er durchlebt ein Drama (das, ein Flüchtling zu werden) und findet sich in einer paradoxen Welt wieder, die eine Satire ist, er antwortet und verteidigt sich mit einem Sinn für Ironie, woraus sich schwarzer Humor ableitet. Um jede Szene zu kreieren, stelle ich mir diese Frage: Was fühlt die Figur an diesem Punkt in ihrem Leben? Dann baue ich die Szene – ihr Licht, ihr Dekor, ihre Kostüme, ihre Handlungen und Dialoge, ihre Musik – so auf, dass dieses Gefühl durchscheint. Ausserdem spiegelt die Arbeit, die ich mit meinem Komponisten schon vor den Dreharbeiten gemacht habe, diese Dynamik wider, begleitet und unterstützt sie.
Der Film bringt viele verschiedene Genres zusammen: Drama, Tragödie, Satire, Romantik, schwarzen Humor. Wie haben Sie es geschafft, diese verschiedenen Elemente zu vereinen?
Einen Film zu machen, ist für mich wie ein Musikstück zu schreiben. Wenn man eine Partitur schreibt, kann man nicht das ganze Stück über die gleiche Tonart oder den gleichen Tonfall haben, sonst ist Langeweile garantiert. Im Film fächern wir eine Reihe emotionaler Variationen auf, die wir mit dem Publikum teilen. Die Variation des Themas kommt hauptsächlich von der emotionalen Reise der Hauptfigur. Der psychologische Zustand des Protagonisten diktiert jede Szene. Sam Ali ist verliebt, daher die Romanze, er durchlebt ein Drama (das, ein Flüchtling zu werden) und findet sich in einer paradoxen Welt wieder, die eine Satire ist, er antwortet und verteidigt sich mit einem Sinn für Ironie, woraus sich schwarzer Humor ableitet. Um jede Szene zu kreieren, stelle ich mir diese Frage: Was fühlt die Figur an diesem Punkt in ihrem Leben? Dann baue ich die Szene – ihr Licht, ihr Dekor, ihre Kostüme, ihre Handlungen und Dialoge, ihre Musik – so auf, dass dieses Gefühl durchscheint. Ausserdem spiegelt die Arbeit, die ich mit meinem Komponisten schon vor den Dreharbeiten gemacht habe, diese Dynamik wider, begleitet und unterstützt sie.
Kaouther Ben Hania:
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania wurde 1977 in Sidi Bouzid in Zentraltunesien geboren. Sie absolvierte ein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Tunesien und anschliessend in Filmdramaturgie an der Fémis und der Sorbonne in Paris. Ihre Forschungsarbeit befasste sich mit eine…
The Man Who Sold His Skin
Artikel veröffentlicht: 18. September 2023
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