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«Hinter jedem Foto steckt so viel Aufwand»
Ein Gespräch mit Raoul Peck über seinen Dokumentarfilm «Ernest Cole: Lost and Found».
Ernest Cole ist eine wichtige, und doch teilweise vergessene Figur der Geschichte Südafrikas. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film über ihn zu drehen?
Die Nachkommen von Ernest Cole, in erster Linie sein Neffe Leslie Matlaisane – haben mich vor fünf Jahren kontaktiert, etwa zu der Zeit, als I Am Not Your Negro herauskam. Ich hatte den Namen Ernest Cole nicht im Kopf, aber ich erinnerte mich sehr gut an seinen Fotoband «House of Bondage» (Haus der Knechtschaft, 1967) über das Apartheid-System in Südafrika. Einige dieser Fotos sind Ikonen, und alle, die sich mit Südafrika beschäftigt oder am Anti-Apartheid-Kampf teilgenommen haben, kennen sie. In einem ersten Schritt wollte ich der Familie dabei helfen, das Archiv zu erhalten, das digitalisiert werden sollte. Ungefähr zwei Jahre später kam ich zum Schluss, dass man darüber einen Film machen sollte. Umso mehr, als im Jahr 2017 in drei grossen Metallkisten in einem schwedischen Banksafe fast 60’000 Negative und Fotos gefunden worden waren. Mit der Entdeckung dieses Schatzes, von dem niemand etwas gewusst hatte, nicht einmal seine Familie, entwickelte sich die Geschichte zu einem regelrechten Thriller.

Sie haben sich dafür entschieden, Ernest Cole als Voiceover aus der Ich-Perspektive erzählen zu lassen. Wie kam es zu dieser Wahl?
Wenn die Geschichte von schwarzen Künstler:innen aufgegriffen wird, die zu Lebzeiten wenig sichtbar waren, passiert dies mehrheitlich aus der Sicht westlicher Chronisten. In der Regel sind sie wohlwollend, aber mit dem Hauch eines Paternalismus behaftet, der ihrer eurozentrischen Sichtweise auf die Figur, das Land und die Weltlage entspringt. Damit hatte ich schon immer ein Problem, seit meinem ersten Dokumentarfilm Lumumba: Tod des Propheten (1990). Ich mache Filme, um eine Erinnerung zu schaffen und eine Erzählung zu entwickeln, die möglicherweise von der offiziellen und akademischen abweichen. Ich versuche, diesen «Blick von aussen» zu dekonstruieren. Mein Ansatz dabei ist, die Quellen zu variieren, mich mit Familien und nahestehenden Freund:innen zu treffen, kurz, mich auf mündliche Erzählungen zu stützen, wenn sie sich auf «Tatsachen» berufen, und nicht Anekdoten. Da ich effektiv beschlossen hatte, dass Ernest seine eigene Geschichte erzählen würde, brauchte ich zuverlässige, ungefilterte Fakten und Ereignisse, um den wahren Ernest Cole zu finden und es ihm zu ermöglichen, sich seiner Erzählung direkt, souverän und unbestritten, zu bemächtigen. Ich habe alles durchforstet, was er selbst geschrieben hat, seine Notizen als Fotograf, seine Eindrücke als Künstler. Es gibt kein Tagebuch im eigentlichen Sinne, sondern nur Briefe und Unterhaltungen über «House of Bondage».

Man spürt darin eine Kraft, eine politische Vision, die frappierend ist für einen jungen Mann von 26 oder 27 Jahren. Welche Zeitzeugen haben Sie getroffen?
Mit meinem Team suchten wir alle Menschen auf, die ihm in Südafrika, Schweden, England und in den USA begegnet sind. Wir interviewten sie gründlich, um ihr Empfinden, ihre Erinnerung, ihr Bild von ihm herauszufiltern. Es kamen viele Schlüsselmomente zusammen, Reflexionen, Stimmungen. Zum Beispiel, wenn die Stimme aus dem Off sagt: «Ich habe mehrmals an Selbstmord gedacht.» Das kam von einer langjährigen amerikanischen Freundin, die er als junger Mann bei Magnum kennengelernt hatte. Er nahm später wieder Kontakt mit ihr auf und sie standen sich die letzten sechs Monate seines Lebens wieder sehr nahe. Sie lebte an der Westküste, er in New York. Das führte zu langen Telefongesprächen, in denen er ihr erzählte, dass er oft über den Tod nachdachte. Ernest war wütend, er hatte das Gefühl, dass er seine künstlerische Vision nicht verwirklichen konnte. Es war erschütternd, all das zu hören. Ich konnte auch die beiden schwedischen Schwestern ausfindig machen, mit denen er in Stockholm Zeit verbrachte. Sie fotografierten sich gegenseitig und es entstanden bewegende Bilder, die ein wenig die Nostalgie der Bohème versprühen – den Charme jener Nachmittage, an denen man nicht weiss, was man tun soll. Es dauerte lange, dieses junge Mädchen zu finden. Inzwischen war sie 85 Jahre alt! Sie sagte oft «dass sie sich nicht mehr so gut erinnern könne». Das habe ich in den Film eingebaut. Es ist Zeit vergangen, Ernest wäre heute so alt wie sie, wenn er überlebt hätte.
In der französischen Version des Films sprechen Sie selbst das Voiceover. Fühlen Sie sich mit Ernest Cole auf besondere Weise verbunden, identifizieren Sie sich mit ihm?
Wir teilen sicherlich einige Dinge. Es erschien mir ganz natürlich, den Text selbst zu sprechen und ihn mit der Musik der grossen südafrikanischen Künstler von damals symphonisch in einer Montage verschmelzen zu lassen. Ich kannte jene Zeit, jene Ereignisse, und war seit 1974 politisch engagiert. In Berlin, wo ich damals lebte und studierte, verkehrte ich in mehreren politischen Gruppen und auch mit Mitgliedern des ANC. Als der Anti-Apartheid-Aktivist Steve Biko 1977 ermordet wurde, gingen wir auf die Strasse. Ich verstehe Ernest Cole auch als Künstler. Mein Vater fotografierte viel und ich habe in meiner gesamten Filmografie intensiv mit Fotos gearbeitet. Zu einer Zeit, wo man noch Zugang zu Fotos, Kontaktbögen und Filmen hatte, die in Kellern und Lagerräumen verstaubten, habe ich die Archive vieler Länder erforscht. Ich konnte das seit Lumumba, Tod des Propheten im Jahr 1990 noch miterleben – vor der Digitalisierung und der Privatisierung der Archive, die heute in den Händen weniger grosser Häuser sind.

Jene, die über das Leben von Ernest Cole und seinen langsamen «Untergang» berichteten, sprachen oft von Depressionen, Paranoia, Drogen und Wahnsinn. Als hätte seine Geschichte nur eine pathologische Erklärung verdient. Ich brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass sein Problem das Exil war. Das alles habe ich selbst durchgemacht, meine ganze Jugend habe ich ausserhalb von Haiti verbracht. Man vergisst, dass die Heimat im Kopf stets präsent ist. Man wird ständig auf das Drama zurückgeworfen, das sich zu Hause abspielt, kann aber nicht dorthin zurückkehren. Für ihn, der dazu verdammt war, im Ausland zu leben, war die Apartheid allgegenwärtig. Das zermürbte ihn.

Im Film analysieren Sie einige Fotos, eines nennen Sie in Anspielung auf den Film von Akira Kurosawa «Rashomon».
Ja, weil dieser Film mehrere Sichtweisen auf ein und dasselbe Ereignis abbildet. Das Foto, das Sie ansprechen und das in Südafrika aufgenommen wurde, gibt ebenfalls mehrere Sichtweisen wieder. Ein Polizist, ein junger schwarzer Mann, ein Passant, mehrere Frauen... Jeder ihrer Blicke sagt etwas anderes aus oder sogar das Gegenteil. Fotograf zu sein bedeutet, mit wenigen Elementen eine ganze Geschichte zu erzählen. Wenn der Blick in die Linse erfolgt, erhascht sie ein Stück Menschlichkeit. Das beschäftigte Ernest Cole, ich kann das aus seinen Bildern und Kontaktbögen lesen. Er veränderte jeweils seine Position, um diesen Blick in die Kamera einzufangen. In all seinen Bildern gibt es eine Person, die uns beobachtet, die ihn anschaut und oft im Zentrum steht. Ich liebe es, die den Fotos innewohnende Geschichte aufzuspüren. Wer ist der Beobachter? Wer der Akteur? Wer das Opfer? Meine fiktionale Vergangenheit hilft mir dabei, mich in die Figuren hineinzuversetzen.

In den Bildern, die Ernest Cole in den USA machte, haben Sie die Paare besonders hervorgehoben.
Ich habe zunächst damit begonnen, die Fotos in Gruppen zu ordnen, um die Schwerpunkte der Erzählung zu definieren. Eine der Konstanten waren Paare, vor allem gemischte Paare. Ich sagte mir: «Wir sollten eine Sequenz daraus machen. Das verstärkt auch die Idee eines einsamen Mannes in New York.» Niemand weiss, wie sein Gefühlsleben war. Er war sehr diskret. Man spürt einen Mangel an Liebe, an menschlicher Wärme. Hinter jedem Foto steckt so viel Aufwand. Stunden des Wartens und des Ausschauhaltens! Man spürt, wie er wieder und wieder durch gewisse Stadtviertel streifte in der grossen Stadt der Freiheit.

Ein Satz im Voiceover hebt sich besonders ab: «Wie kann man angesichts all dessen seine Menschlichkeit bewahren? Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.» Sie übernehmen ihn so?
Ja, natürlich. Ernest kommt aus der Apartheid, einem echten Gefängnis unter freiem Himmel, das drastisch reguliert wurde vom Staat. Es ist eine Erfahrung, die einem die Menschlichkeit abspricht. Dann kommt er in New York an mit der Idee, dort als Künstler durchzustarten. Doch man verlangt von ihm vor allem, dass er Schwarze fotografiert, die im Elend leben. Er träumt davon, Cartier-Bresson zu sein. Ein Fotograf ist ein Fotograf, und nicht ein «schwarzer Fotograf». Im Nachlass von Cole fand man viele Modezeitschriften und Werbeanzeigen. Das interessierte ihn. Aber man wollte, dass er Schwarze fotografierte, und schickte ihn in den Süden der USA, wo du wegen einer falschen Geste, eines falschen Blicks gelyncht werden konntest. Schrecklich. Er war dort doppelt fremd, und schwarz! James Baldwin hatte das auch erlebt, als er als Reporter in den Südstaaten unterwegs war.

Der Film erzählt auch vom Mysterium der Negative, die Ernest Cole in Schweden hinterlassen hat. Eine schwedische Bank übergibt diesen Schatz an die Familie, ohne zu erklären, wer das Depot fast 40 Jahre lang finanziert hat. Was ist Ihre Meinung zu dieser Situation?
Meine Hoffnung ist, dass Journalist:innen das aufnehmen werden und ihre eigenen Recherchen betreiben! Ernest Cole muss die Negative während einer Reise nach Schweden einer Vertrauensperson übergeben haben. Vielleicht gab er sie «Tio Foto», einer Gruppe von zehn schwedischen Fotografen, die ihm bei seiner ersten Ausstellung in Schweden geholfen hatten. Einen Teil seiner Arbeiten und über 500 Originale hatte er ihnen jedenfalls zur Aufbewahrung anvertraut. Im Vergleich zur damaligen erlebten Härte in den Staaten fühlte sich Ernest in Schweden wohl. Irgendwann liess er das wertvolle Material zurück, vielleicht in der Annahme, dass er zurückkehren und dort leben würde. Nach einer Weile hatte das Kollektiv «Tio Foto» möglicherweise nicht mehr die Mittel, weiter zu existieren, und gab das Material als Pfand an die Hasselblad Foundation. Wir haben zu unserer Überraschung erfahren, dass die Stiftung die Vintage-Drucke am 7. Mai 2024 schliesslich der Familie übergeben hat. Aber das Geheimnis der drei Metallkisten, die im Tresor der Bank gefunden wurden, bleibt ungelöst. Auch wenn wir unseren Verdacht haben.
«Aperture» hat in den USA ein Buch herausgebracht mit einer Auswahl von Fotos, die noch nie zuvor gesehen wurden. «Denoël» bereitet in Frankreich das Buch zum Film vor. Wir stehen erst am Anfang der Wiederentdeckung dieses grossartigen Künstlers.

Raoul Peck:
Raoul Peck wurde 1953 in Port-au-Prince auf Haiti geboren. Da sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annahm, lebte die Familie einige Jahre in Kinshasa. Nach langen Aufenthalten in Zaire, Frankreich, USA und Deutschland beendete Peck sein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademi…

Ernest Cole: Lost and Found
Artikel veröffentlicht: 5. Mai 2025
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