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«Ich wollte über all die Frauen reden, deren Stimmen nicht gehört werden.»
Die Filmemacherin Kaouther Ben Hania spricht über ihren Spielfilm «La Belle et la Meute».
Ob Dokumentation oder Fiktion, Ihre Filme haben immer einen engen Bezug zur sozialen Realität.
Ich habe mit Dokumentarfilmen begonnen, weil die Fiktion für mich etwas sehr Schwieriges war. Fiktion wird aus unterschiedlichen erfundenen Elementen erzeugt, und gerade aus der Erfindung, quasi aus einer Lüge heraus, soll eine gewisse Authentizität entstehen. Die Realität via Dokumentarfilm darzustellen, erlaubte es mir, diese Idee zu überdenken und Fertigkeiten zu entwickeln, die man für die Fiktion braucht. In dieser Hinsicht war Le Challat de Tunis ein Übergangswerk, weil ich mich der Fiktion mit den Mitteln und im Stil eines Dokumentar- films annäherte.
Als ich für Imams go to School und auch für meine darauffolgenden Filme zum ersten Mal realitätsnah arbeitete, lernte ich, Szenen wie in der Fiktion zu strukturieren, sie aber mit Fragmenten der Realität zu bestücken. Beim Filmen dachte ich bereits an die Montage-Möglichkeiten, und dies entspricht natürlich nicht der Realität, weil es eine Umstrukturierung der Realität ist mit Hilfe filmischer Methoden, die für die Fiktion verwendet werden. Meine Dokumentarfilme waren für mich ein echter Lernprozess, insbesondere für die Arbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Bei Le Challat de Tunis hatte ich es mit Laien zu tun, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich einen Schauspieler so führen könnte, dass ich bei einem Spielfilm ein genauso authentisches Resutat erzielen würde. Der Dokumentarfilm lehrte mich nicht nur das Führen der Schauspieler, sondern auch die Konstruktion von komplexen Charakteren, abseits aller Klischees.
Wie arbeitet man denn mit Schauspieler:innen bei so langen Einstellungen wie in La belle et la meute, die ja Elemente dieser «Fragmente der Realität» sind?
Das ist eine formale Beschränkung im Schnitt. Aber dieser Film braucht das, denn die Plansequenz enthält diese Kraft, uns in die echte Zeit eintauchen zu lassen. Unser Leben ist eine einzige Plansequenz von der Geburt bis zum Tod. So etwas wie Montage kann man nur auf Erinnerungen oder Planung anwenden. Das Leben verläuft linear und in einer fortlaufenden Sequenz, man kann dem nicht entkommen. Ich möchte die Zuschauenden in dieselbe geistige Verfassung versetzen; die Qual, die Mariam durchlebt, wird in Plansequenzen gezeigt, und sie muss sich auf sich selbst verlassen. Für die Regie wie auch für die Schauspielenden sind Plansequenzen eine grosse Herausforderung. Das habe ich schon beim Dreh von Le Challat de Tunis begriffen: was die Schauspieler normalerweise rettet, ist die Montage. Sie erzeugt einen Rhythmus und erlaubt es, im Nachhinein die beste Aufnahme auszuwählen. Die Plansequenz hingegen enthüllt die Arbeit des Schauspielers: Er oder sie muss die Montage mit dem Körper erzeugen.
In Plansequenzen zu arbeiten, erlaubte es uns, ein Spannungselement zu schaffen und dem Publikum das Gefühl zu geben, das Geschehen in Echtzeit zu erleben, obwohl der Film aus neun Fragmenten besteht. Die Herausforderung war es, eine Konsistenz zwischen dem Spiel und diesem Konzept von Fragmenten der Realität aufzubauen. Wir haben alles im Vorhinein vorbereitet, das war ein wenig so wie im Theater. Es waren zahlreiche Proben notwendig, um das Spiel der Darstellenden mit den Bewegungen der Kamera zu koordinieren. Ich stellte mir während des Drehs lange Zeit die beängstigende Frage: würden die Proben die Schauspieler:innen auslaugen und ihre Darbietungen automatischer und weniger emotional wirken lassen?
Dadurch hätte der Film viel an Spontanität verloren. Doch die zahlreichen Proben haben sie keineswegs ausgelaugt – im Gegenteil: sie gaben ihnen mehr, womit sie arbeiten konnten. Mir erlaubte es, die verschiedenen Facetten der Charaktere zu erkunden, und die Schauspieler:innen waren im Moment des effektiven Drehs besser gerüstet. Die Plansequenz stellte also schon eine Herausforderung für mich dar, aber ich erkunde gerne neue Gefilde, da ich dabei immer Neues lernen kann.
In Plansequenzen zu arbeiten, erlaubte es uns, ein Spannungselement zu schaffen und dem Publikum das Gefühl zu geben, das Geschehen in Echtzeit zu erleben, obwohl der Film aus neun Fragmenten besteht.
Ausgehend von einem Ereignis aus dem echten Leben erkundet der Film die Gesetze des Genrekinos, vor allem des Thrillers und des Horrorfilms, durch den Albtraum, den die Protagonistin innerhalb einer einzigen Nacht erlebt.
Ich mag das Genrekino und vor allem den Horrorfilm, den ich sehr spannend finde. La belle et la meute ist aber kein Horrorfilm, vielmehr erinnert er an einen Albtraum. Das hielt mich nicht davon ab, mehrere Anspielungen auf das Filmschaffen zu machen, das mich begeistert. Bei meiner Arbeit mit den Schauspieler:innen und beim Schreiben des Drehbuchs hatte ich diese Referenzen bereits im Kopf. Ich mag spannungsgeladene Filme und wollte eine Spannung erzeugen, die gleichzeitig realistisch ist (jede Administration kann zu genau dieser Art von kafkaeskem Albtraum führen) und einen Bezug zum Genre erschliesst. Für mich sind Horrorfilme extrem realistisch. Youssefs Charakter vergleicht sein Leben mit einem Zombiefilm – diese Filme können tatsächlich von sehr realen Gefühlen aus dem alltäglichen Leben erzählen.
Der Bezug zum Horrorfilm in La belle et la meute unterstreicht die Frage nach der Menschlichkeit der Charaktere in einer Gesellschaftsordnung, in der die Würde nicht mehr respektiert wird.
Aus Mariams Perspektive ist die Geschichte brutal, aber sie ist paradoxerweise gleichzeitig unbedeutend vom Standpunkt der Polizei und der Spitalmitarbeiter:innen aus. Für diese ist es nur ein weiterer Arbeitstag. Sie begegnen täglich Opfern wie Mariam. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ansichten, derjenigen der persönlichen Tragödie und der Gefühllosigkeit der Institutionen, definiert den Ton des Films. Die vielen Nebenfiguren im Film rechtfertigen ihr schreckliches Verhalten mit zahlreichen Restriktionen, die ihnen ihre beruflichen Positionen auferlegen – sei es, weil die Administration nun mal so funktioniere, wegen der Solidarität mit dem Polizeiapparat oder der Unterbesetzung des Spitals. In dieser Logik könnte sich jede und jeder wiederfinden, mit kleineren feigen Handlungen bis hin zu wirklich verwerflichen Aktionen. Du kannst schnell und unbewusst deine Menschlichkeit verlieren, je mehr Kompromisse du eingehst.
Die Spannung im Film basiert auf einer Art umgekehrtem Countdown, der weniger darin mündet, dass die Hauptfigur explodiert, als vielmehr an ihrer Erschaffung arbeitet. Dass Mariam den Halt nicht verliert, liegt daran, dass die viel stärkeren Figuren rund um sie herum ihre Reaktion nicht erwarten. Von Anfang an strebte ich bei Mariam die Persönlichkeit einer völlig normalen jungen Frau an, mit normalen Ängsten, die kleine Lügen erzählt und auch eine durchaus naive Seite hat. Sie entdeckt sich selbst, weil sie mit ausserordentlichen Situationen konfrontiert wird. Da zeigt sie plötzlich einen Überlebensinstinkt, von dem sie vorher gar nichts gewusst hatte. Am Anfang wirkt sie noch verloren, und ich brauchte Youssefs Charakter, um sie zu unterstützen, auch wenn man sie dazu zwingen will, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Wir erfahren nie, ob er sich wirklich für sie interessiert, oder ob sein Verhalten bloss ein Ausdruck des Kämpfers ist, den er verkörpert und als der er von anderen wahrgenommen wird. Als sich Youssef nicht mehr an ihrer Seite befindet, steht Mariam der «Meute» alleine gegenüber, sie muss sich alleine zu helfen wissen. Von dem Moment an bringt sie ein System ins Wanken, das jeder kennt und akzeptiert.
Repräsentiert Mariam die Jugend, welche hartnäckig an den Rechtsstaat glaubt, der aus der Verfassung nach dem Ende von Tunesiens Regime unter Ben Ali hervorgegangen ist?
Ich wollte ihr eigentlich keine kämpferische Vergangenheit aufbürden. Deshalb präsentierte ich sie als naiven Charakter, wenn sie zum Beispiel den Polizisten eine Lüge auftischt. Youssef ist viel stärker politisiert, er ist es, der die Revolution erwähnt. Wenn du mit Ungerechtigkeiten konfrontiert wirst, wirst du automatisch militant, es ist ein Mittel zum Überleben. Mariam will die Kerle, die sie vergewaltigt haben, im Gefängnis sehen. Wir reden hier von einem Racheprozess unter dem Deckmantel der Wahrnehmung des Zivilrechts, und keineswegs von Militanz. Diese tritt jedoch an die Oberfläche bei der Konfrontation mit einem Gesellschaftssystem, welches den Respekt jeglicher Bürgerrechte komplett verweigert.
Mariam verfolgt einen Weg, der ihr Gerechtigkeit und Entschädigung einbringen soll für das, was ihr geschehen ist, indem sie um eine Anhörung bittet. Sie wird erst militant, als sie merkt, dass dies nicht möglich ist. Ihr gegenüber steht die «Meute», sie wird aggressiv, aber nicht wegen dem, was Mariam repräsentiert, sondern weil sie es wagt, eine Klage einzureichen. Die Polizei würde alles in ihrer Macht stehende tun, um sie zu erniedrigen.
Mariam kämpft auch gegen die Banalisierung des Bösen, als die Leute, die sie in jener Nacht antrifft, ihre Vergewaltigung mit Verachtung und Desinteresse behandeln.
In dieser Hinsicht soll der Film eine Bestätigung der Banalisierung des Bösen sein – das gilt nicht nur für Tunesien, sondern überall auf der Welt. Ich beziehe mich hier auf den Dokumentarfilm The Hunting Ground (Kirby Dick, 2015), welcher sich mit Vergewaltigungsfällen an renommierten US-amerikanischen Universitäten (Columbia, Harvard etc.) auseinandersetzt, wo weiblichen Opfern keine Gerechtigkeit gewährt wird durch die Campus-Direktion. Diese Universitäten befinden sich in einem System des Hyperwettbewerbs und wollen eine Rufschädigung um jeden Preis vermeiden.
Die Sekretariate drängen Vergewaltigungsopfer dazu, zu schweigen – umso mehr, wenn die Angeklagten beliebte Footballhelden sind, ein einträgliches Geschäft. La belle et la meute ist eher ein Film über institutionelle Zwänge als über Vergewaltigung. Deshalb wird die Vergewaltigung durch Polizisten begangen – mit anderen Worten durch diejenigen, die die Monopolstellung symbolischer Gewalt in der Gesellschaft innehaben. Moderne Gesellschaften sind auf dieser Idee aufgebaut, dass Individuen durch öffentliche Bedienstete und deren Institutionen beschützt werden.
Ein Argument des Polizisten, der versucht, Mariam zum Schweigen zu bringen, besteht darin, ihr den Gedanken einer sich in Konstruktion befindlichen Gesellschaft schmackhaft zu machen, in welcher man auf die Polizei angewiesen ist und sie deshalb nicht anfechten kann.
Diese Art von Erpressung kennen wir alle, wenn jemand Sicherheit gegen Freiheit ausspielt, als wäre es unmöglich, beides gleichzeitig zu haben. Um über einen starken Polizeiapparat zu verfügen, muss man ihm die absolute Macht übergeben und wegschauen, wenn er Verbrechen begeht, so die Devise. Das begann in den USA nach dem 11. September und findet sich heute auch in Frankreich und anderswo in der Form von so genannten Notgesetzen. Mit dieser Erpressung ist es besser, bei Missbräuchen durch die Polizei den Mund zu halten, wenn man einen Bürgerkrieg und terroristische Bedrohungen vermeiden möchte.
Wenn der Kontext des Films auch lokal ist und ein Tunesien nach 2011 porträtiert, wirkt er doch grenzenlos. Wie schafft man den Dialog zwischen Lokalem und Globalem beim Entwickeln eines Films?
Ein Film braucht immer einen Kontext. Ich kenne den tunesischen Kontext gut und finde ihn faszinierend, weil er üppig ist; er stellt alles in Frage. Alle meine Filme gehen von der Idee aus, in einen Dialog mit dem Publikum zu treten, egal in welchem Land. Ich weiss auch, dass man im Ausland nur wenige Bilder aus Tunesien kennt, von daher klammert man sich auch an jedes neue Bild. Einer Regisseurin aus einem Land mit grösserer Filmproduktion würde man nicht dieselben Fragen über Vorurteile ihrem Land gegenüber stellen.
Der Film basiert auf einem Fait divers: Welche Freiheiten haben Sie sich in Bezug auf die Fakten genommen?
Ich habe mir viele Freiheiten genommen. Diese Geschichte hatte damals grosse Auswirkungen auf mich und zog allgemein viel Aufmerksamkeit auf sich. Es gab sogar Demonstrationen zur Unterstützung des Opfers. Ich verwendete das Ereignis, welches alles entfacht hat, nämlich die Vergewaltigung, doch die Figuren im Film haben keine Ähnlichkeit mit den wirklichen Menschen von damals. Keines der Ereignisse, die im Drehbuch vorkommen, habe ich so festgehalten wie in der Realität: So läuft das Vergewaltigungsopfer etwa in derselben Nacht in die Arme ihrer Peiniger, aber nicht aus denselben Gründen wie im Drehbuch.
Ich wollte weder das Opfer noch die Autorin des Buches treffen, von welchem mein Produktionsteam die Rechte gekauft hatte, damit ich meine eigene Interpretation realisieren konnte. Das Treffen fand trotzdem statt, und das Drehbuch sagte ihr nicht besonders zu, was ich gut nachvollziehen kann: wenn man eine traumatische Erfahrung macht, fühlt man sich natürlich betrogen, wenn die Wiedergabe dieser Erfahrung nicht ganz den Fakten entspricht. Und dennoch wollte ich nicht einfach eine Geschichte aus den News treu wiedergeben, sondern die Fiktion verwenden, um vom Mut zahlreicher Frauen zu erzählen, die dafür kämpfen, dass ihre Rechte respektiert werden. Ich wollte über all die Frauen reden, deren Stimmen nicht gehört werden.
Wäre es vor ein paar Jahren möglich gewesen, diesen Film zu machen?
Vor 2011 wäre das in Tunesien natürlich nicht möglich gewesen. Obschon der Film kein besonders schmeichelhaftes Bild von den Hütern von Recht und Ordnung in Tunesien zeichnet, wurde er vom Kulturministerium unterstützt. Das ist für mich ein starkes Symbol von Unterstützung in einer Zeit, in der genereller Pessimismus herrscht in Tunesien. Es ist ein Zeichen, dass sich die Dinge im Land verändern. Genau wie die Hauptfigur im Film, werden die Dinge nie mehr sein wie früher. Und das Wichtigste: Der Film weist all die Menschen, die noch immer gleich funktionieren wie unter dem Ben Ali Regime, darauf hin, dass die Gesellschaftsordnung nicht mehr gleich bleiben kann.
Kaouther Ben Hania:
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania wurde 1977 in Sidi Bouzid in Zentraltunesien geboren. Sie absolvierte ein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Tunesien und anschliessend in Filmdramaturgie an der Fémis und der Sorbonne in Paris. Ihre Forschungsarbeit befasste sich mit eine…
La Belle et la Meute
Artikel veröffentlicht: 17. September 2023
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