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«Liebe ist in Indien extrem politisch»
Die indische Regisseurin Payal Kapadia spricht über ihren Spielfilm «All We Imagine as Light».
All We Imagine as Light taucht tief und wunderbar in das Leben von Mumbai ein: Wir sehen die Lichter der Stadt, Geschäfte, kleine Restaurants, Züge, Busse und U-Bahnen, sogar Kellergeschosse, aber auch den Regen, der ständig präsent zu sein scheint und viel zur allgemeinen Atmosphäre des Films beiträgt. Kommen Sie selbst aus der Stadt?
Ich stamme aus Mumbai. Zwar habe ich nicht immer hier gelebt, aber es ist die Stadt, mit der ich am meisten vertraut bin. Mumbai ist ziemlich kosmopolitisch. Menschen aus dem ganzen Land kommen hierher, um zu arbeiten. Das macht die Stadt multikulturell und vielfältig. Es ist auch ein Ort, an dem es für Frauen etwas einfacher ist, berufstätig zu sein, als an vielen anderen Orten im Lande. Ich wollte einen Film über Frauen machen, die ihr Zuhause verlassen, um woanders zu arbeiten. Mumbai war die richtige Kulisse dafür.
Was mich an der Stadt ausserdem interessiert, ist, dass sie sich in einem ständigen Wandel befindet. Teile von Mumbai verändern sich wegen des Immobilienbooms schnell und die Bauherren erobern immer wieder Gebiete, wo Menschen seit Jahren leben. Nicht jeder hat immer die richtigen Unterlagen parat, um zu beweisen, dass er dort gelebt hat. Das macht es denjenigen, die über die nötigen Mittel verfügen, leichter, Anspruch auf das Land zu erheben.
Ein Gebiet, das im Film gezeigt wird, erstreckt sich von Lower Parel bis Dadar. Dort gab es früher grosse Baumwollspinnereien, bis in den 1980er Jahren viele von ihnen stillgelegt wurden. Viele Menschen verloren damals ihre Arbeit. Ein grosser Teil des Landes war von der damaligen Regierung zu stark subventionierten Preisen an die Spinnereibesitzer vergeben worden. Als man die Spinnereien stilllegte, war es nur fair, dass das Land an die Familien der Arbeiter verteilt werden sollte. Aber sie wurden um dieses Geld betrogen, und das Gebiet wurde zu einem Platz für riesige Luxuskomplexe mit bewachten Eingängen und für teure Einkaufszentren. Die Spinnereibesitzer machten enorme Gewinne, während die Arbeiter leer ausgingen. Wenn man an dieser Strasse vorbeifährt, erkennt man allein an der Architektur die soziopolitische Geschichte.
Wenn die Kamera zu Beginn den Markt einfängt, hört man einen Mann sagen, dass er Mumbai auch nach vielen Jahren in der Stadt nicht als seine Heimat bezeichnen würde, weil er wisse, dass er sie wohl eines Tages verlassen wird...
Ein grosser Teil der Männer, die zum Arbeiten nach Mumbai kommen, bringen ihre Familien nicht mit und sehen ihre Frauen und Kinder nur einmal im Jahr. Da bleibt also immer dieses Gefühl der Ungewissheit und des Wandels. Mumbai ist wahrscheinlich die beste finanzielle Chance, die sich vielen Menschen bietet, aber das bedeutet nicht, dass es ein einfaches Leben ist.
Wie gelang es Ihnen, einen Film zu drehen, der ganz und gar zu dieser Stadt zu gehören scheint?
Es ist ziemlich teuer, in Mumbai zu drehen, weil die gesamte Hindi-Filmindustrie dort ansässig ist. Wir haben also mit zwei Kameras gedreht. Mit der Hauptkamera arbeiteten wir an den Orten, für die wir eine Drehgenehmigung hatten. Die zweite – eine kleine Cannon EOS C70, die sich dafür sehr gut eignete – nutzen wir überall dort, wo man uns keine Erlaubnis erteilt hatte. Wir haben dann so getan, als wären wir zum Scouten vor Ort. Die Schauspieler:innen waren dabei äusserst kooperativ, denn sie haben alle schon bei Indie-Filmen mitgewirkt. Das machte es zu einem richtig bereichernden Prozess.
Haben Sie in einem echten Krankenhaus gedreht?
Ich habe einen wunderbaren Location-Scout, Kishor Sawant, der dafür bekannt ist, in Mumbai tolle Drehorte zu finden. Er hat an mehreren wichtigen Arthouse-Filmen mitgearbeitet und findet immer Orte, die die Stadt wirklich repräsentieren, die man auf der Leinwand aber noch nicht so oft gesehen hat. Er fand dieses Krankenhaus, das in ein paar Monaten abgerissen werden sollte. Das gesamte medizinische Equipment war noch drin. Das funktionierte wunderbar. Ebenso verhielt es sich mit der Wohnung. Sie befand sich in einem Gebäude mit erschwinglichen Apartments, das ebenfalls abgerissen werden sollte. Wir richteten dort das Zuhause von Prabha und Anu ein.
Überraschenderweise spielt der zweite Teil vom Film ausserhalb von Mumbai, am Meer...
Dieser Teil spielt in einem Dorf im Küstendistrikt Ratnagiri. Lange Zeit kamen viele aus dieser Gegend nach Mumbai, um in den Baumwollspinnereien zu arbeiten, die die Viertel, in denen der erste Teil des Films spielt (Lower Parel und Dadar), stark geprägt haben. Als die Baumwollspinnereien schlossen, war es für die Menschen sehr schwer, wieder auf die Beine zu kommen. Damals begannen viele Frauen, deren Ehemänner ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten konnten, ihre Familie selbst zu finanzieren. Viele dieser Frauen stammen aus den Regionen Raigad und Ratnagiri.
Stammen die beiden Pflegefachfrauen Anu und Prabha ebenfalls aus der Region Ratnagiri?
Anu und Prabha kommen aus dem südlichen Bundesstaat Kerala, aus dem auch viele in Mumbai arbeitende Frauen stammen. In Kerala ist die Krankenpflege ein angesehener Beruf, und Frauen, die sich für diesen Beruf entscheiden, werden unterstützt. Viele, die der Arbeit wegen nach Mumbai kommen, sind jedoch nicht völlig unabhängig, auch wenn ihre Familie weit weg ist. Der Widerspruch, der sich daraus ergibt, gilt allerdings für fast alle Frauen in Indien. Trotz der möglichen finanziellen Autonomie gibt es immer noch eine starke Bindung an die Familie in der Heimat. Die Familien bestimmen nach wie vor soziale Regeln und persönliche Entscheidungen, etwa wen man heiraten oder lieben darf.
Prabhas Mann lebt in Deutschland und sie scheint nicht viel von ihm zu hören. Eine alltägliche Situation?
Viele Inder suchen nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland. In jedem Bundesstaat, vor allem in den Küstenstaaten, gibt es eine jahrhundertelange Geschichte von Arbeitsmigration. Dazu gehört auch Prabhas Ehemann. Es gibt sicherlich ein grosses Interesse daran, im Ausland zu arbeiten, wo die Bezahlung viel höher ist. Viele Menschen aus Kerala arbeiten etwa im Nahen Osten, aber nicht nur dort. Wie in Mumbai sind es auch hier oft die Männer, die ins Ausland gehen und ihre Familien zurücklassen.
Sollen wir glauben, dass Prabhas Mann irgendwann zu ihr zurückkehrt?
Wahrscheinlich gab es einmal ein Versprechen, dass er eines Tages zurückkommen oder versuchen würde, für sie Arbeit in Deutschland zu finden. Aber er scheint aus Prabhas Leben verschwunden zu sein und seine Absichten bleiben uns verborgen. Eigentlich will sie auch gar nichts von ihm hören. Als sie den Reiskocher bekommt, den man als Metapher für das Familienleben deuten kann, scheinen die Dinge für sie aus den Fugen zu geraten und sie stösst den Kocher weg. Prabha ist ein komplexer Mensch. Sie mag es offensichtlich, von anderen gebraucht zu werden: Sie versucht, Parvati zu helfen, ihre Wohnung zu behalten, im Spital ist sie besonders freundlich zu der älteren, halluzinierenden Frau, sie bezahlt Anus Anteil an der Miete... Prabha ist in ihrem Umfeld eine Art Engel, aber sie ist auch ein bisschen streng. Sie denkt nicht wirklich über ihre eigenen Bedürfnisse nach.
Kommt Anu auch aus Kerala?
Ja. Anu stammt aus einer konservativen Familie. Sie war schon immer eine ziemliche Rebellin. Sie lebt sich und ihre Sexualität viel mehr aus als Prabha und sogar mehr als ihr Freund.
Der Film dreht sich auch um die Freundschaft zwischen diesen Frauen.
Die Freundschaft zwischen den dreien ist sehr vielschichtig. Sie alle haben ihre Schwächen und sind nicht immer perfekt. Mich interessierte die Freundschaft grundsätzlich, eine Beziehung, die nicht genau definiert ist. Mit zunehmendem Alter werden uns unsere Freund:innen stärkerer Rückhalt, manchmal sogar mehr als unsere Familien. Das gilt vor allem dann, wenn man weg von zu Hause lebt. Diese Beziehung wollte ich unbedingt näher betrachten.
Alle drei Schauspielerinnen sind umwerfend, gleichermassen stark und sanft... Wie haben Sie sie gecastet?
Kani Kusruti, die Prabha spielt, war die Erste, die wir getroffen haben. Sie kommt vom Theater hat viel Erfahrung mit Arthouse-Kino und ist sehr vielseitig in ihren Darstellungen. Ich hatte sie schon im Kopf, als ich das Drehbuch schrieb. Vor dem Dreh haben wir gemeinsam an den Szenen gearbeitet, Lesungen mit den anderen Schauspieler:innen gemacht, neue Ideen entwickelt und sogar Text geändert... Ich spreche Hindi und Marathi, aber Mayalaman ist nicht meine Sprache. Es kann schwierig sein, in einer Sprache Regie zu führen, die man nicht fliessend beherrscht. Man muss eine Menge Gesten verinnerlichen. Die Arbeit mit Kani Kusruti hat viel zum Verständnis der Figur, des sozialen Milieus und der Sprache beigetragen.
Die Schauspielerin Divya Prabha, die Anu verkörpert, kommt ebenfalls aus Kerala, wo die unabhängige Filmindustrie jetzt richtig aufblüht. Sie war die Hauptdarstellerin in Ariyippu, der vor zwei Jahren in Locarno im internationalen Wettbewerb lief. Divya hat eine starke Präsenz und verschreibt sich wirklich ihrer Rolle. Sie ist extrem engagiert und sobald sie an ein Projekt glaubt, gibt sie alles.
Parvaty wird von Chhaya Kadam gespielt, einer sehr erfahrene Schauspielerin, die sowohl in unabhängigen als auch in grossen kommerziellen Filmen mitgewirkt hat. Sie ist oft in Rollen starker Frauen zu sehen. Chhaya stammt selbst aus Ratnagiri und ihr Dorf liegt nicht weit von unserem Drehort entfernt. Sie kannte das Milieu also gut und wusste genau, was es bedeutet, den Weg nach Mumbai zu wagen, dort zu leben versuchen und es nicht unbedingt zu schaffen. Eine ihr vertraute Geschichte.
Wann fand der Dreh statt?
Wir haben den Film in zwei Teilen gedreht. Den ersten, der in Mumbai spielt, realisierten wir im Juni und Juli 2023, während des starken Monsuns. Das Ganapati-Fest, das in der Mitte des Films stattfindet, ist der Auftakt für Teil zwei. Dann legten wir eine Pause ein. Im November machten wir weiter. Wir mussten auf den Wechsel der Jahreszeit warten, denn an Indiens Westküste gibt es nicht viele Jahreszeiten, nur Monsun und Nicht-Monsun. Ich wollte die beiden unterschiedlichen Stimmungen einfangen. Da der zweite Teil in Ratnagiri spielt, verändert sich die Landschaft nach dem Monsun völlig. Das üppige Grün verwandelt sich in trockenes Gras und die rote Erde wird sichtbar. Das Rot der Erde ist untrennbar mit der Identität Ratnagiris verbunden. Diese Veränderung wollte ich unbedingt im Film haben, um die Farben der beiden Orte in zwei Jahreszeiten spürbar zu machen.
Haben Sie während der Pause mit dem Schnitt begonnen?
Ja, wir haben einen einfachen Rohschnitt gemacht. Ich mag es, so vorzugehen, was mit meinem Hintergrund in Dokumentar- und non-fiktionalem Film zu tun. Macht man einen non-fiktionalen Film, kann man drehen, schneiden, sehen, was fehlt, und dann noch einmal drehen. Auch wenn das aus offensichtlichen Gründen nicht ganz möglich ist, gehe ich gerne auf diese Weise an Spielfilme heran. Die Schauspieler:innen bringen etwas Neues in die Figuren mit ein, die Drehorte sehen ein bisschen anders aus... Während des ersten Schnitts habe ich zum Beispiel gemerkt, dass die Beziehung zwischen den drei Frauen viel stärker ist, als ich dachte. Also wollte ich im zweiten Teil den Fokus darauf legen. Prabha, Anu und Parvaty sollten mehr Zeit miteinander verbringen. Es war echt toll, mit diesen Frauen zu arbeiten: Zusammen waren sie wie Feuer!
Obwohl All We Imagine as Light mein erster Spielfilm ist, ist es für mich immer noch sehr wichtig, dass Spiel- und Dokumentarfilm nebeneinander existieren können. Ich versuche, mich der Fiktion auf eine nicht-fiktionale Weise zu nähern. Ich finde die Gegenüberstellung der beiden Formen sehr interessant und glaube fest daran, dass dadurch die Nicht-Fiktion mehr Fiktion und die Fiktion mehr zur Nicht-Fiktion wird.
Ihr vorheriger Film, A Night of Knowing Nothing, der sowohl eine Liebesgeschichte als auch die Abbildung einer Studentenrevolte ist, war auf eine sehr direkte Weise politisch. Wie würden Sie Ihren aktuellen Film diesbezüglich beschreiben?
All We Imagine as Light ist sicherlich nicht auf dieselbe direkte Art und Weise politisch. Aber ich glaube, dass im Grunde alles politisch ist. In Indien ist etwa die Liebe extrem politisch. Ich würde also nicht sagen, dass dieser Film nicht politisch ist. Wen man heiraten kann, ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Da gibt es die Frage der Kaste, die der Religion... Sie alle diktieren eine Menge darüber, mit wem man sein Leben verbringen darf und welche Konsequenzen das haben kann. Unmögliche Liebe, eines der Hauptthemen hier, ist ein sehr politisches Thema.
Wie ist es, 2024 eine Regisseurin in Indien zu sein?
Ich weiss nicht, ob es wirklich das ist, was mich ausmacht... In Indien ist das Geschlecht nicht der einzige Mangel an Privilegien, den man haben kann. Es gibt noch andere Überschneidungen. Ich bin eine Frau, aber ich gehöre einer privilegierten Kaste und sozialen Schicht an. Es gibt also viele Dinge, die mir leichter fallen als einem Mann ohne die gleichen Voraussetzungen. Filmemachen ist für jeden schwer, besonders unabhängige Filme, die auf Festivals gezeigt werden sollen. Mit dieser Art von Filmen ist kein Geld zu verdienen. Umso dankbarer bin ich für die Systeme in Europa. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich sehe mich nicht wirklich als Regisseurin, die aufgrund ihres Geschlechts weniger Möglichkeiten hat. Aufgrund meiner anderen Privilegien wurden mir eine Menge Türen geöffnet.
Payal Kapadia:
Payal Kapadia wurde 1986 in Mumbai geboren. Als Tochter eines Künstlerpaars und filmbegeisterte Jugendliche engagierte sich Payal Kapadia schon im Internats-Filmclub, wo sie Ausstellungen zu Filmemachern wie Ritwik Ghatak oder Andrei Tarkowski organisierte. Ihren Traum, Filmemacherin zu werden, ver…
All We Imagine as Light
Artikel veröffentlicht: 9. Dezember 2024
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