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4 Fragen an Çağla Zencirci & Guillaume Giovanetti
Das französisch-türkische Duo Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti über seinen neuesten Film «Confidente».
Wie kamen Sie auf die Idee, einen Psychothriller als Kammerspiel zu gestalten?
Wir haben eine Vorliebe für Genre-Filme. Noor ist ein Roadmovie, Ningen tendiert zum Übernatürlichen und Sibel ist in gewisser Weise ein Western.2003 wurde der Südosten der Türkei von einem schrecklichen Erdbeben heimgesucht. Wir waren schockiert, als wir die gleiche Katastrophe wie 1999 in Istanbul erlebten. Als würde sich die Geschichte wiederholen, wurden die gleichen Fehler gemacht. Wir hatten das Bedürfnis, dieses Thema anzugehen, aber auch die Gangart zu ändern. Nach Sibel, einem kontemplativen, fast stummen Film in einer Pfeifsprache, hatten wir Lust auf einen engeren Rahmen, einen gesprächigeren Film und einen Dreh in Innenräumen. So landeten wir fast automatisch bei einem Psychothriller in Form eines Kammerstücks.

Das Drehbuch hält die Zuschauer:innen in Atem, kippt von einer Gefühlslage in die nächste und entwickelt sich zu einem filmischen Manifest. Wie sind Sie beim Schreiben vorgegangen?
Der Umgang mit einem Erdbeben ist eine heikle Angelegenheit, da es für viele Menschen auf der ganzen Welt eine traumatische Erfahrung ist. Aus ethischer Sicht, aus Respekt vor den Opfern und Überlebenden, erschien es uns unmöglich, Archivmaterial zu verwenden oder fiktive Bilder eines solchen Schreckens zu erschaffen. Wir mussten uns etwas einfallen lassen und haben uns für ein Off-Screen-Konzept entschieden. Das Format des Kammerspiels begrenzte die Bildauswahl und das Konzept der Telefonzentrale liess zu, dass Stimmen und Töne aus dem Off hineindringen.
Nachdem wir uns für dieses Setting entschieden hatten, wussten wir, dass wir mit Tempo und Spannung erzählen mussten. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden konnten wir durch wechselnde Emotionen gewinnen. Manche Anrufe bringen einen zum Lächeln, während andere bewegen oder erschrecken. Wir arbeiten in unseren Filmen immer mit der Sprache; der türkische Slang der 90er Jahre und die türkische Kultur mit ihrer Mischung aus Selbstironie und Ernsthaftigkeit halfen uns, spontan Stimmungen zu kreieren.

Über die Figur von Arzu gleitet der Diskurs von der Lüge zur Wahrheit, während sie selbst abwechselnd tröstlich, zerbrechlich und gebieterisch ist.
Wie alle Protagonistinnen unserer Filme ist sie eine Aussenseiterin. Durch ihre Beeinträchtigung, die sie von Kind an ans Zuhause gebunden und ihr das Studium erschwert hat, ist sie daran gewöhnt, Beziehungen über Distanz aufzubauen. Sie hat eine ausgeprägte Fähigkeit entwickelt, sich über das Telefon auszudrücken. In den 90ern boomten erotische Telefon-Hotlines in der Türkei. Wie viele andere Frauen hat Arzu einen Job in so einem Callcenter angenommen, und sie hat Erfolg, weil sie Sprache und Stimme ausgezeichnet beherrscht, was bei ihren Kolleginnen unweigerlich Neid hervorruft. Die Arbeit bei der Hotline ist für sie die einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen, um einen Anwalt zu bezahlen und das Sorgerecht für ihren Sohn zu erwirken. Den Job muss sie aber unbedingt geheim halten, denn das gesellschaftliche Urteil wiegt in der Türkei wie anderswo schwer.

«Arzu» bedeutet auf Türkisch Sehnsucht und «Sabiha» heisst glücklich. Confidente wirft die Frage nach dem Begehren in der türkischen Gesellschaft auf und – wie man sich selbst sein kann.
Die westliche Kultur und Gesellschaft verlangt von uns, dass wir mit uns selbst klarkommen, die östliche Kultur hingegen ermutigt uns, Teil der Gesellschaft zu sein. Die Wünsche des Einzelnen müssen mit den Normen übereinstimmen. Wir untersuchen, wie man trotz des äusseren Drucks sich selbst sein kann, ohne das Gleichgewicht der Gesellschaft zu stören. Starke Persönlichkeiten können Veränderungen bewirken. Auch wenn die Türkei in einigen Bereichen ein fortschrittliches Land ist – türkische Frauen erhielten 1934 das Wahlrecht und 1984 das Recht auf Abtreibung –, ist sie in anderen Aspekten konservativer. Darin offenbaren sich die grossen Widersprüche eines Landes, das seit jeher zwischen westlichen und östlichen Sitten gefangen ist. Ankara, die Verwaltungsstadt, in der Dekrete immer zuerst umgesetzt werden, bildet da keine Ausnahme: Die Stadt hat eine relativ homogene Bevölkerung, die Menschen passen sich schnell an politische und soziale Veränderungen an, aber ihre Wünsche halten sie oft unter Verschluss.

Als Sitz der Armee und der Regierung ist die Stadt auch für ihr legendäres Nachtleben bekannt, und der Name «Arzu» ist dort weit verbreitet, weil erotische Telefonlinien in den 90ern gang und gäbe waren. Damals liessen uns die moralische und wirtschaftliche Liberalisierung, die Industrialisierung und die allgemeine Modernität glauben, dass die Türkei bereit wäre, ihr europäisches Erbe anzutreten. Doch die Zeiten haben sich geändert und paradoxerweise ist das Internet heute kontrollierter als die erotischen Hotlines der 1990er.

Çağla Zencirci:
Das französisch-türkische Duo Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti realisiert gemeinsam Filme und ist auch im wirklichen Leben seit 2004 ein Paar. Nach mehreren Kurzfilmen (die an Festivals wie Berlin, Locarno oder Clermont-Ferrand präsentiert wurden) und zwei langen Filmen – Noor (2012), der im…

Guillaume Giovanetti:
Das französisch-türkische Duo Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti realisiert gemeinsam Filme und ist auch im wirklichen Leben seit 2004 ein Paar. Nach mehreren Kurzfilmen (die an Festivals wie Berlin, Locarno oder Clermont-Ferrand präsentiert wurden) und zwei langen Filmen – Noor (2012), der im…

Confidente
Artikel veröffentlicht: 6. August 2025
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