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«Wir anerkennen nicht einmal, dass es ethnische Spannungen gibt»
Ein Gespräch mit Regisseur Deepak Rauniyar über seinen Film «Pooja, Sir».
Was war die Inspiration für den Film?
2004 arbeitete ich als Regieassistent für den Filmemacher Tsering Rhitar Sherpa an seinem zweiten Spielfilm Karma. Bei dieser Produktion lernte ich Asha kennen, die später meine Frau und Filmpartnerin werden sollte. Sie hatte eine kurze Rolle in einer einzigen Szene. Unter normalen Umständen wäre es für uns undenkbar gewesen, zusammenzukommen oder zu heiraten. Asha gehört der hellhäutigen Volksgruppe der Pahari an, ich der dunkelhäutigen Volksgruppe der Madhesi. Die gemeinsame Liebe zum Kino hat uns zusammengebracht.

Als wir anfingen, uns zu treffen, war Asha schockiert über die tägliche Diskriminierung, der ich ausgesetzt war. Mindestens einmal am Tag beschuldigte mich jemand, ich würde mich aus Indien nach Nepal einschleichen und den «echten» Nepalis ihre Chancen wegnehmen. Bei Vorstellungsgesprächen mit potenziellen Crew-Mitgliedern für die Produktion wollten sie als Erstes wissen, ob ich Inder sei oder seit wann «Leute wie wir» in Nepal lebten. In Restaurants wurde mir die Bedienung verweigert, die Polizei hielt mich an, weil ich einen Laptop bei mir trug, und die Beschaffung einfacher Ausweisdokumente war ein Albtraum. Während diese Erfahrungen für mich Routine waren, stellten sie für Asha eine schmerzhafte Offenbarung dar. Sie regte sich auf und stritt mit den Leuten, sogar bei Filmaufnahmen, bei denen ich Regie führte, oder bei Familientreffen in ihrer Heimatstadt.

Nepal ist eine patriarchale Gesellschaft, und auch Asha stammt aus einer sogenannt «unteren Kaste». Obwohl sie in der Theaterwelt bekannt ist und Hauptrollen in grossen Stücken spielte, bekam sie beim Film nie eine echte Chance. Ihre Gesichtszüge entsprachen nicht dem nepalesischen Schönheitsideal, was ihren Kampf noch schwieriger machte. Sie war auf ihrem eigenen beruflichen Werdegang mit vielen Herausforderungen konfrontiert, aber zu sehen, wie ein geliebter Mensch beleidigt und diskriminiert wird, kann noch schmerzhafter sein. Die Hautfarbe ist sichtbarer als der Nachname und der krasse Rassismus machte Asha zu schaffen.
Wie viele Gesellschaften hat auch Nepal eine komplexe Demografie mit verschiedenen Sprachen, Ethnien, Kasten und Religionen. Als nach einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg der Friedensprozess begann, kam es 2007 im südlichen Tiefland zu massiven Protesten der dunkelhäutigen Madhesi. Tausende protestierten gegen die neue Verfassung und sahen sich der Polizeigewalt ausgesetzt, die mehrere Todesopfer forderte, darunter auch Kinder. Die Proteste wurden 2008 und 2015 fortgesetzt, wobei die Terai-Ebene für mehr als sechs Monate blockiert war. Hunderttausende gingen auf die Strasse, die Gewaltspirale drehte sich weiter.
Während durch die Proteste einige Erfolge erzielt werden konnten, berichteten die nationalen Medien oft einseitig darüber, und Madhesi wie ich sahen sich in anderen Teilen des Landes, auch in der Hauptstadt, zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt. Damals beschlossen Asha und ich, dass wir etwas unternehmen mussten. Es gab keine anderen Madhesi-Regisseure in der Branche, die diese Themen aufgreifen konnten. Im Spielfilm White Sun berichteten wir in eingestreuten Nachrichten über die Proteste und Morde, aber es war an der Zeit, sich direkt auf das Tiefland zu konzentrieren und die Geschichte aus dieser Perspektive zu erzählen.

Warum wählten Sie die Perspektive einer queeren Frau, um die Geschichte zu erzählen?
Unser Schreibprozess ist tief verwurzelt in Recherchen, Interviews und Erfahrungen aus erster Hand. Da die Geschichte aus Ashas Sicht erzählt wird, war es nur natürlich, dass die Hauptfigur weiblich sein würde. Als wir Polizeibeamte der gleichen Altersgruppe befragten, stellten wir fest, dass viele von ihnen queer waren. Das fanden wir interessant und beeindruckend. Eine Polizistin wurde schliesslich zu einer zentralen Figur während unserer Vorbereitungen.

Als ich etwa 13 Jahre alt war, nahm ich an der Hochzeit eines Cousins teil. Wir holten zuerst die Braut ab. In der Tradition der Madhesi zahlt die Familie der Braut eine Mitgift an die Familie des Bräutigams. Mein Cousin erhielt eine beträchtliche Summe, aber selbst so begann er während des Abendessens um mehr zu feilschen. Das wurde für mich unerträglich, also ging ich. An diesem Abend lief ich mehrere Kilometer allein nach Hause. Ich weiss noch genau, wie wütend mein Vater auf mich war. Später habe ich mich mit meiner Schwägerin angefreundet, und wir tauschten Briefe aus. Sie war gezwungen worden, vor ihrem Schulabschluss zu heiraten. In unserer Gemeinschaft ist es Tradition, dass Frauen nach der Heirat Namen und Identität verlieren; sie werden mit dem Namen des Ortes angesprochen, aus dem sie stammen.

2008 schrieb ich mit Asha einen ersten Kurzfilm mit dem Titel Threshold, den wir am selben Ort wie Pooja, Sir drehten. Es war unsere erste Zusammenarbeit. Eine Figur nannten wir «Pooja» und seither gibt es in jedem Film eine Figur mit diesem Namen. Als Hindus glauben wir, dass wir unsere Töchter respektieren und verehren (pooja). Es stimmt zwar, dass wir weibliche Gottheiten verehren, aber unser Respekt für Mädchen und Frauen beschränkt sich oft nur darauf, dass sie stumm und gefügig bleiben wie Göttinnen an einer Wand. Ich benutze den Namen Pooja, um an diesen Widerspruch zu erinnern. Nepal ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen eine Mutter die Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben kann; ein Mann muss sie beglaubigen.

Was waren die Einflüsse für den starken visuellen Look? Wie haben Sie mit Ihrem DoP, Sheldon Chau, zusammengearbeitet?
Ein Freund hat mich im November 2021 mit Sheldon bekannt gemacht. Wir haben uns über Zoom kennengelernt und schnell gemerkt, dass wir einen ähnlichen Filmgeschmack haben und gemeinsame Freunde, mit denen wir schon einmal zusammengearbeitet hatten. Thematisch waren wir auf der gleichen Linie. Sheldon hatte vor kurzem den Film eines Freundes im Senegal gedreht (Nafi’s Father), und ich war auf der Suche nach einem DoP, der mich ergänzen konnte. Sheldon fühlte sich als die richtige Wahl an. Er besuchte mich in North Carolina, wo ich an der UNC Wilmington lehrte. Zusammen mit meinen Student:innen drehten wir zwei Szenen aus dem Drehbuch, die uns als Diskussionsgrundlage dienten, dabei kamen verschiedene Filme zur Sprache: Bei Son of Saul (László Nemes) interessierte uns der objektive Blickwinkel, der die Welt grösser erscheinen liess, bei Cold War (Pawel Pawlikowski) die unkonventionelle Erzählung und bei Zodiac (David Fincher) die Lichtführung.

Die meisten Diskussionen drehten sich jedoch um die Charaktere, die Drehorte und das Wetter im Film. In Nepal kommt es häufig zu stundenlangen Stromausfällen, so dass wir überlegten, wie viel Dunkelheit wir in Kauf nehmen könnten. Dies beeinflusste unsere Entscheidung, mit der Sony FX6 und der FX3 zu drehen, die sich bei schwachem Licht besonders gut eignen. Wir spielten mit Schatten, beleuchteten gewisse Figuren mit bestimmten Farben und liessen andere im Dunkeln, um auf subtile Weise Macht und Rassendynamik darzustellen. Jede Filmfigur versucht im Grunde, jemand anderes zu sein: Pooja möchte in die Welt der Männer passen, Mamata eine hellhäutige Person werden und der Polizeichef, der einer indigenen ethnischen Gruppe angehört, ein Brahmane der herrschenden Klasse sein.

Wir wollten die Lebendigkeit der Madhesi und ihrer Kleidung aufgreifen und die Wärme der Strassenlaternen nutzen, um sowohl die Hitze des Sommers als auch die Ungewissheit der Ermittlungen wiederzugeben. Unser Ziel war es, kein überstilisiertes Bild zu zeigen, sondern eines, das dem Ort und der Situation gerecht wird. Die meisten Madhesi-Haushalte verwenden eine einzige nackte Glühbirne, um ihre Räume zu beleuchten. Ich drehe oft ganze Szenen in einer einzigen langen Einstellung, was Beleuchtung und Produktionsdesign ebenfalls beeinflusst hat. Auch wenn wir uns bewusst oder unbewusst von anderen Filmen inspirieren lassen, sind unsere Form und unser Stil in erster Linie dadurch entstanden, dass wir uns der Wahrheit gestellt und auf unsere Bedürfnisse reagiert haben.

Wie fühlt es sich an, nach Ihrem gefeierten Film White Sun erneut auf dem Lido in Venedig zu sein?
Die Realisierung von Pooja, Sir war eine Achterbahnfahrt. Zweimal wurden die Dreharbeiten abgesagt – zuerst wegen der Pandemie im Jahr 2020, und dann erreichte uns die niederschmetternde Nachricht von Ashas Krebserkrankung. Als wir schliesslich nach Nepal zurückkehren konnten, um den Film zu realisieren, waren die Investoren verschwunden und Zuschüsse gestrichen worden.

Vieles hätte schiefgehen können. Wir drehten im extrem heissen Sommer während der Hauptmonsunzeit in einer überschwemmungsgefährdeten Stadt. Aber es regnete nur, wenn wir es brauchten. Die Einheimischen hätten verärgert sein können, als wir traumatische Szenen nachstellten, aber während der Protestszenen verteilten sie Wasser an unsere Crew und dankten uns, dass wir den Film machten. Da wurde mir klar, dass wir etwas Besonderes geschaffen hatten, nicht nur für Asha und mich, sondern für Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen. Es ist wirklich ein Produkt der Liebe und des Mitgefühls.
In Anbetracht all dieser Umstände ist unser Aufenthalt hier am Lido etwas ganz Besonderes und sehr bewegend. Die Bekanntgabe unserer Auswahl hat Hunderten von Menschen Freude bereitet.

Deepak Rauniyar:
Deepak Rauniyar, 1978 im nepalesischen Saptari geboren, fiel erstmals mit seinem mit einem Mikrobudget gedrehten Spielfilmdebüt Highway auf, das an der Berlinale 2012 in der Sektion Panorama seine Premiere feierte. Es war der erste Film aus Nepal, der überhaupt je an einem der wichtigsten internati…

Pooja, Sir
Artikel veröffentlicht: 30. Juni 2025
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