Shaji N. Karun

Shaji Neelakantan Karun, am Neujahrstag 1950 in Kerala, Indien, geboren, zeichnete bei den meisten Filmen des legendären Regisseurs Govindan Aravindan für die Kamera verantwortlich und damit auch für Innovationen in der Bildgestaltung des indischen Films. Für seine Verdienste wurde er 1990 unter anderem mit dem Eastman Kodak Award for Excellence ausgezeichnet. Nach zahlreichen Kurzfilmen (darunter Wild Life of Kerala, 1979, und Kannikal, 1986) entstand Piravi, der weltweit bei der Kritik ein grosses Echo hervorrief. Sein zweiter Spielfilm, Swaham (1994), der in Cannes im Wettbewerb lief, erzählte wieder vom Thema Trauer und bestätigte sein Talent als Regisseur. Es folgten "The Last Dance" (1999) sowie "Nishad" (2002). Shaji N. Karun realisierte ausserdem mehrere Dokumentarfilme und wirkte als Kameramann an mehr als 25 Produktionen mit.
DER ERSTE SCHNEE - Eine Begegnung
Es regnet in Strömen, als ich Karun Shaji an einem Novembermorgen in seinem Hotel abhole. Zürcher Monsunstimmung, sozusagen. Er hält einen grossen gelben Schirm in seiner Hand und trägt einen leichten Veston. Ob er nichts Wärmeres anzuziehen hätte, frage ich ihn, und füge bei: Wir fahren in den Schnee. Er strahlt überrascht: „In den Schnee?“ Zwanzig Grad ist die tiefste Temperatur, die der kleine Mann aus Trivandrum im indischen Staat Kerala gewohnt ist. Zweimal jährlich streicht der Monsunregen übers Land. Wir fahren nach Luzern und unterhalten uns übers Kino und über seinen preisgekrönten Spielfilmerstling Piravi (Geburt), der von einem abwesenden Sohn handelt und von der Suche nach ihm. „Kino ist eine Dunkelkammer“, sagt Karun, „das ist vergleichbar damit, dass du dich in einem dunklen Raum befindest und dich orientieren möchtetest. Du musst deine Sinne ganz schön schärfen, die Ohren, die Augen, um etwas wahrzunehmen, den Raum zu empfinden. Diese Ausgangslage macht für mich das Filmemachen so interessant.“
Das Grelle an vielen Filmen liegt ihm nicht; er zieht die weicheren Farben, die Schattierungen und auch dunklere Töne vor, arbeitet beim Dreh im wesentlichen mit Stimmungen und dem Licht der Natur. „Man braucht nicht immer alles auszuleuchten, es genügt im Prinzip zu wissen, dass jemand da ist, man spürt es und empfindet stärker.“ Das Schiff nach Vitznau ist praktisch leer, und wir fragen uns, warum eigentlich ein regnerischer Tag in seiner Schönheit so wenig gewürdigt wird. Für Shaji ist das Wasser ein zentrales Lebenselement; dem Inder bedeutet es Geburt und Leben. Schliesslich keimt keine Saat auf trockenem Boden. Er meint, man brauche sich in einem stillen Raum nur vor eine mit Wasser gefüllte Schüssel zu setzen und zu schauen, um zu erfahren, was in dem Element drinsteckt.
In Vitznau beginnt unsere Bergfahrt, vom Regen in den Schnee. Wir sind praktisch allein in der Rigibahn, und ich merke, wie ich etwas Alltägliches plötzlich wieder neu wahrnehme: Karun blickt gebannt aus dem Fenster, als der Regen allmählich in Schneefall übergeht und die Landschaft im Nebel immer weisser wird. Er könne sich jedes Bild sehr gut schwarzweiss vorstellen, meint er, und hier erscheine ihm die Natur plötzlich schwarzweiss, die Konturen der verschneiten Tannen, die bedeckten Häuser, die spärlicher werdenden unverschneiten Flecken. Unvermittelt meint Shaji: „Was mir aufgefallen ist: Die Schweizer setzen aufs Kleine, sie bauen kleine Häuser aber grosse Kathedralen. Warum sind die Kirchen hier eigentlich so schmal und hoch? Bei uns in Indien sind die Tempel niedrig und: auf der Seite offen.“
Oben auf der Rigi: Ein gewohnter Schritt im Schnee für mich, ein Ereignis für ihn. Er stapft mit seinen Halbschuhen unbekümmert durchs ihm unbekannte Weiss, ist überrascht, wie leicht die Handvoll Neuschnee ist und: Dass man Schnee essen kann. Ein sinnliches Naturerleben, eine Sinnlichkeit, die auch seinen leisen Film prägt und so stark macht. Nicht umsonst schreibt er seine Bücher auf drei parallel geführten Seiten: Eine für die Töne, eine fürs Bild und eine für Handlung/Dialog. Die Vater-Sohn-Beziehung in „Piravi“ ist ihm, dem Vater zweier Buben, ganz wichtig, auch wenn er eingestehen muss, dass er seine Söhne „vor allem horizontal wachsen sieht“ - das heisst: Schlafend im Bett. Als Filmemacher ist er oft unterwegs. Er hat es sich im grössten Filmland der Welt praktisch eingerichtet, indem er für das Filmstudio Keralas arbeitet und dort die Infrastruktur für kommerzielle Produktionen betreut, gleichzeitig aber Zeit und Möglichkeiten hat, seine eigenen Filme zu drehen.
Wir fahren über Goldau wieder zurück aus der verschneiten Höhe ins verregnete Unterland. Shaji erzählt mir von einem Inder, der beschlossen hatte, Selbstmord zu begehen und seinen Film angeschaut habe. Der Film hätte ihn vom Suizid abgebracht, habe ihm der Mann später geschrieben, weil er ihn auf zentrale Momente im Leben geführt hätte. Dann resümiert er unsere Reise: „Drei Szenen würde ich von dem, was ich an diesem Tag erlebt habe, in einen Film aufnehmen: Als erstes, wie ich im Schnee gegangen bin, als zweites der Schwarzweiss-Effekt, den der Schnee in der Natur hinterlässt, als drittes, wie die Bahn auf dem Berg still über die verschneiten Schienen wieder verschwunden ist. - Weisst Du, Du hast mir zu einem der eindrücklichsten Erlebnisse meines Lebens verholfen.“
© Walter Ruggle
Filmographie
1974 Lady of the Landing (Kurzfilm)
1986 Kannikal (Kurzfilm)
1988 Piravi
1994 Swaham
1996 Sham’s Vision (Kurzfilm)
1998 Bhavam (Kurzfilm)
1999 Shams Vision (Kurzfilm)
1999 Vanaprastham
2000 G. Aravindan (Kurzfilm)
2002 Nishãd
2002 Cheria lokavum valya manushyanum
2009 Kutty Srank: The Sailor of Hearts
2014 Swapaanam
2018 Olu
Swaham (1994)
Im Gegensatz zu den immer zahlreicher werdenden Formalisten im Kino zeichnen sich asiatische Autoren noch durch einen klaren Realitätsbezug aus, freilich auch noch durch den Glauben daran, dass "ein Künstler nicht stumm bleiben darf gegenüber jenen, die vergessen wurden in einem unfreundlichen System", wie der Inder Shaji Karun das formuliert. Der hochbegabte Kameramann aus dem Südstaat Kerala hatte 1988 mit seinem Erstling "Piravi" weltweit grosses Aufsehen erregt und unter anderm am Festival von Locarno einen der Hauptpreise gewonnen. Weiter
Piravi (1988)
Der indische Spielfilm "Piravi" erzählt von einem Vater, der mit Frau und Tochter auf die Rückkehr seines Sohnes wartet. Ein Film, der in sich ruht, der uns wundersam den Fluss der Zeit vor Augen führt. "Du bist ungeduldig, Vater", meint die Schwester von Raghu, der seine Heimkehr angekündigt hatte und auf sich warten lässt. Und sie fährt lakonisch fort: "Ein Tag früher oder später". Weiter