Magazin
Camille, die Mutige
Sie ging dorthin, wo andere sich niemals hingewagt hätten. Ihr Ziel: Das Leben von Menschen in weitgehend ausser Acht gelassenen Konfliktgebieten sichtbar machen. Geschehe, was wolle. Camille Lepage, die französische Fotojournalistin, stand am Anfang ihrer Karriere, als sie mit 26 Jahren in der Zentralafrikanischen Republik ermordet wurde. Mit ihrer Rolle als Vermittlerin haderte sie immer wieder und wollte doch in keiner anderen sein. Jetzt beschreibt ein packender Spielfilm ihr Engagement.
Bewaffnete Männer stehen im Dunst auf einer roten Lehmstrasse. Zum Foto schreibt Camille Lepage: «Reise mit den Anti Balaka nach Amada Gaza, etwa 120 km von Berberati entfernt. Wir brachen um 3.30 Uhr morgens auf, um die Misca-Checkpoints zu umgehen, und mit dem Motorrad dauerte es acht Stunden, das Dorf zu erreichen, da es keine richtigen Strassen gibt. In der Region Amada Gaza wurden zwischen März und heute 150 Menschen von den Seleka getötet. Ein weiterer Angriff fand am Sonntag statt, wobei sechs Menschen getötet wurden. Der Anti-Balaka-Oberst Rock beschliesst, seine Einheiten dorthin zu schicken, um zu patrouillieren und Menschen, die in den Busch geflohen sind, sicher zu ihren Häusern zurückzubringen.» Es ist ihr letzter Post. Sechs Tage später, am 12. Mai 2014, ist die junge Fotojournalistin tot. Ihre Geschichte beginnt 26 Jahre zuvor. Camille Lepage kommt am 28. Januar 1988 in Angers im Westen Frankreichs zu Welt. Die Eltern, sie Personalleiterin, er Gartengestalter, bieten Camille und ihrem Bruder ein wohlbehütetes Zuhause, die Familienbande sind stark. Camille sei «im Schatten des Schlosses von Angers, im Schutz der wärmenden Stadtmauern herangewachsen», so heisst es auf der Website des in ihrem Namen gegründeten Vereins «Camille Lepage – on est ensemble».
Fotografie – eine universelle Sprache
Um zu studieren verlässt die junge Frau den Familienkokon gen Norden, schreibt sich an der Universität in Southampton in England für Journalismus ein. Es folgen Erasmus-Aufenthalte in den Niederlanden und in Dänemark und Praktika in Frankreich und Ägypten. Obwohl sie schon immer gerne fotografierte, weiss Camille nicht sofort, dass das Bild einst zu ihrer Sprache würde, «bis 2011, als ich für meinen Journalismus-Abschluss durch verschiedene Länder reiste. Ich hatte meine Kamera dabei und kümmerte mich eher darum, gut komponierte Bilder zu den Geschichten zu machen, als um das eigentliche Schreiben», sagte sie in einem Interview im Oktober 2013. «Was mich an der Fotografie fasziniert, ist ihre universelle Sprache. Jeder kann ein Foto verstehen, es fühlen, es spricht zu den Betrachtern.» Sie gibt sich fünf Jahre, um herauszufinden, ob sie davon leben kann.
Den Abschluss kaum in der Tasche, packt Camille im Juli 2012 ihren Rucksack. «Schon seit ich sehr klein war, wollte ich immer an einen Ort gehen und dort leben, wo niemand sonst hingehen möchte und ausführlich über Konflikte berichten.» Entsprechend wählt sie ihr neues Ziel: den Südsudan. Sie hatte den Unabhängigkeitsprozess des neu gegründeten Staates sorgfältig verfolgt und war schockiert über die geringe Berichterstattung der dortigen Gewalt. «Ich kann nicht akzeptieren, dass die Tragödien der Menschen stillgeschwiegen werden, nur weil niemand damit Geld verdienen kann.» Ihre Eltern respektieren Camilles Entscheidung, lassen sie ziehen. Sie lässt sich in der Hauptstadt Juba nieder und heuert bei der grössten unabhängigen Zeitung Südsudans an.
In T-Shirt und Turnschuhen
«Camille arbeitete wirklich hart», schreibt die rumänische Fotografin Andreea Campeanu in einer Ehrung über ihre Kollegin. «Wenn ich aufstand, war sie schon angezogen und bereit zu gehen.» Immer in T-Shirt und Turnschuhen, das Haar zusammengebunden und ungeschminkt. Die beiden jungen Frauen teilen sich ein Haus ausserhalb Jubas, führen ein Leben unter einfachsten Bedingungen. «Wir waren die einzigen Nichtafrikaner, die dort lebten. Wir hatten weder Strom noch Internetzugang und nur einen funktionierenden Wasserhahn im Haus.» Camille kauft sich ein altes Motorrad. «Wohl die einzige Frau, die ich zu dieser Zeit in Juba Motorrad fahren sah», schreibt Campeanu, oft Camilles Sozius. Die beiden unterstützen sich gegenseitig bei der Arbeit, gehen aber auch gemeinsam auf Partys. Camille ist sehr ambitioniert, widmet sich fast ausschliesslich ihrer Arbeit. Sie liebt Gesellschaft, beschreibt sich selbst aber als durchaus «nerdy». Wenn sie nicht an Berichten und Bildmaterial feilt, pflegt sie ihre Kontakte in der Stadt. Mehrmals reist sie auch in die Nuba-Berge. Die Region ist offiziell Teil des Sudan, grenzt an den Südsudan und ist seit dessen Unabhängigkeit erneut von schweren Konflikten und Bombardements seitens Khartum gebeutelt. Die junge Journalistin ist getrieben von dem dringenden Bedürfnis, aktuelle Bilder aus einem «ignorierten, gar in Vergessenheit geratenen» Winkel der Welt der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die grossen internationalen Zeitungen sollen ihre Fotos abdrucken, die Welt soll hinschauen. Camille zieht für eine Weile in den Süden Kurdufans – ungeachtet dessen, dass die sudanesische Regierung die Region für Medien und NGOs inzwischen gesperrt hat. Mutig? Naiv?
Mut, nicht Leichtsinn
«Mut, nicht Leichtsinn war ihr Begleiter bei der Arbeit», schreibt der deutsche Journalist Christian Putsch über seine Kollegin. «Camille war kein Adrenalin-Junkie, sondern versuchte die Risikofaktoren immer einzuschätzen. Aber im Zweifelsfall ist sie losgegangen.» Ihre US-amerikanische Kollegin Christena Dowsett findet ähnliche Worte. Dass einige Camille als eine Art tickende Zeitbombe und als unberechenbar abtäten, lässt sie nicht gelten. Aber auch furchtlos treffe nicht ganz auf Camille zu. «Sie hatte durchaus Angst. Zuweilen war ihr bang. Aber sie liess nie zu, dass die Angst sie vom Drang des Erzählens von Geschichten, die niemand hören wollte, abhielt. Vielleicht war das der Unterschied zwischen ihr und so vielen von uns. Sie fürchtete sich nicht vor ihrer Angst. Und sie wusste, dass ihr Leben nicht mehr wert war als das jener, die um sie herum starben.»
Camille ist überzeugt davon, das Richtige zu tun. Wie sie ihre Aufgabe versteht, zeigt sich auch im Austausch mit der nordamerikanischen Freundin. Im Dezember 12 schreibt sie Dowsett via Facebook: «Du, als Fotojournalistin, bist die Botschafterin, du bist nicht diejenige, die neue Gesetze für Menschenrechte (. . .) umsetzt, (. . .) aber du bist die Eine, und das ist wesentlich, die all diese Dinge anprangern wird. Deine Aufgabe, oder so sehe ich zumindest meine Rolle, ist es, es (die Berichte) so ansprechend wie möglich zu gestalten, damit die Leute es nachvollziehen können und im Idealfall Druck auf die Verantwortlichen und jene ausüben, deren Aufgabe es ist, die Dinge zu ändern!» Geduld, Hartnäckigkeit und Talent zahlen sich aus. Camille wird Freelance Fotoreporterin und Korrespondentin für die Agenturen Hans Lucas Studios und AFP. In ihrem Portfolio finden sich Bilder von Soldaten und Zivilisten gleichermassen. Und neben Szenen von Krieg und Elend zeigt Camille auch Buntes, etwa eine vergnügte Serie über die Fashion Week in Juba. Ihr werden «ein starkes, intuitives Auge und Entschlossenheit» attestiert und Kollegen sind beeindruckt von der leidenschaftlichen Anfängerin, deren Bilder stark komponiert und gleichzeitig so intim sind. Kurz führt ihr Weg zurück ins Nest, heim nach Frankreich, wo sie im September 2013 ihre erste Ausstellung hat. Ein persönlicher Erfolg, doch Camille ist auch frustriert. Sie hat insgeheim gehofft, schneller ernsthaftes Interesse der Medien an dem ihr mittlerweile so am Herzen liegenden Fleck Erde zu wecken. Glücklich machen sie die durch die Ausstellung ermöglichten persönlichen Begegnungen. Etwa wenn ihr ein zu Tränen bewegter Sudanese zur Authentizität ihres Schaffens gratuliert. Und: Camille ist jetzt Patentante. Ihre Freude an der kleinen Jojo teilt sie voller Stolz auf Instagram.
Warum wissen wir nichts?
Schon bald zieht es sie wieder weg. Anfang Oktober kommt sie in der Zentralafrikanischen Republik (CAF) an, wo von der Welt weitgehend unbemerkt ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist. «Da die Welt weggeschaut hat, habe ich beschlossen, (...) hinzugehen», schreibt sie später einem Kollegen aus Bangui. Ihr Ziel ist erneut: die Lebensbedingungen einer Bevölkerung in einem Konfliktgebiet, über das kaum berichtet wird, ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Wer ihre Bilder anschaut, soll sich in ihre Protagonisten «als Menschen einfühlen, anstatt sie als eine weitere Gruppe von Afrikanern zu sehen, die irgendwo auf diesem dunklen Kontinent unter Krieg leiden. Ich wünschte, sie denken ’Warum um alles in der Welt leben diese Leute in der Hölle, warum wissen wir nichts darüber und warum tut niemand etwas?’» Sie beschreibt, wie die CAF «jeden Tag tiefer in einem Strudel versinkt, dessen Gewalt endlos scheint.» Und doch lebt sie sich schnell ein, liebt dieses Land und seine Menschen bald.
Camille ist die Geschichte einer idealistischen jungen Frau, die davon träumt, Fotojournalistin zu werden, um vergessenen Bevölkerungsgruppen zu helfen. Wie kann man den Wahnsinn des Krieges fotografieren, wenn man Menschen liebt? Camille taucht ins Zentrum der zentralafrikanischen Krise ein und versucht, ihre Arbeit fortzusetzen, ohne dem Zynismus nachzugeben.
Boris Lojkine
Camilles vertieftes Wissen über den Konflikt und die Hintergründe und Ursachen der verheerenden Szenen, denen sie begegnete, sei erstaunlich gewesen, sagen Weggefährten. Weil sie jederzeit bereit ist, überall hinzugehen, lernt sie das Land aus vielen Perspektiven kennen. Camille hat Freund:innen und beste Kontakte in sämtlichen Kreise und teilt sie – wie kaum jemand anders – grosszügig mit ihren Kolleg:innen. In Bangui kennen sie alle. Kaum einer, der nicht das breite, strahlende Lachen Camilles erwähnt, ihren ansteckenden Optimismus. Passend dazu die Anekdote einer schwedischen Kollegin, Camille habe als Klingelton Pharrell Williams’ Song «Happy» gewählt.
Nie die Gewalt im Fokus
In Bangui häufen sich Plünderungen und Morde, während auf dem Land die Dörfer brennen. Im Dezember eskaliert die Gewalt, als die aus Dörfern zusammengeschlossene Selbstverteidigungsmiliz Anti-Balaka die Hauptstadt angreift, die zuvor von der Seleka, einer Koalition aus mehrheitlich muslimischen Rebellengruppen, eingenommen wurde. Camille hält all das fest. Sie wird Zeugin von Mord und Totschlag, von Lynchjustiz und Schändung, von entsetzlichem Leid. Im Gegensatz zu anderen Fotografen habe bei ihr aber nie die Gewalt im Fokus gestanden, sagen Kollegen. Wieder sucht sie in all dem Chaos die Menschlichkeit, das ansonsten unsichtbare Leben von Kämpfern und Zivilisten, die Konsequenzen für die Bevölkerung.
Weihnachten 2013 zuhause bei der Familie, im Schutz der warmen Mauern. Sie ist erschöpft. Dieses Mal scheint es schwieriger, auch in diesem Leben Tritt zu fassen. Trotz des Familienverbundes und der Freunde, der Sicherheit und Wärme, die sie hier erfährt, wiegt das Erlebte schwer. Es mit Unbeteiligten zu teilen ist nur bedingt möglich. Was soll sie auf Fragen wie «Wie ist es dort so?» antworten. Eine Antwort, die sich nicht in wenigen Sätzen, die sich vielleicht gar nicht beschreiben lässt. Und die für die Fragenden in ihrer Intensität vielleicht unerwartet verstörend wäre. Die es nicht nachvollziehen können, wenn sie sagt, es sei «beschissen, da drüben weiss zu sein». Aufgeben kann oder will sie nicht.
Im Januar 2014 kehrt sie zurück nach Bangui. Mittlerweile kann sie ihre Bilder bei BBC, The Guardian, Le Monde, der New York Times und weiteren renommierten Medien publizieren. Aus einer anderen Region zu berichten kommt für Camille nicht mehr in Frage. Trotzdem hadert sie immer wieder. «Manchmal wache ich auf und frage mich, was ich hier mache. Ganz alleine in diesem Krieg, der nicht der meine ist», wird sie im Film zitiert. Während die meisten Journalisten das Land verlassen, gelingt es Camille Verbindungen zur Anti-Balaka herzustellen. Sie will über deren Inneres und über die Arbeitsbedingungen in Diamantenminen, die unter ihrer Herrschaft stehen, berichten. Mit einem Freund, der für eine NGO in den Westen des Landes muss, reist sie mit. In der Bouar-Region lernt sie über ihre Kontakte einige Anti-Balaka-Kämpfer kennen. Sie beschliesst, diese ein paar Tage zu begleiten. Die Mission läuft anfänglich gut, bis die Gruppe am 12. Mai in einen Hinterhalt gerät. Camille stirbt sechsundzwanzigjährig.
«Sie sagte mir, mehr als einmal, sie wisse, dass sie jung sterben werde und es ist offensichtlich, dass sie ihr Leben von diesem Gedanken begleitet lebte», schreibt Christena Dowsett. Für Camille selbst scheint ihr Antrieb in ihrer bescheidenen Art selbstverständlich – und kann ihn zuweilen doch nicht ganz glauben. «Warum fühle ich mich so gut hier? Für sie (die Einheimischen) werde ich immer die Ausländerin bleiben. Eine Weisse.» – «Und doch fühle ich mich hier an meinem Platz und mehr zuhause als irgendwo anders. Ich wollte immer hier sein. Lebendig wie ich es nie zuvor war.»
2014 hat die Familie Lepage in Angers den Verein «Camille Lepage – We are together» gegründet, um Camilles Erinnerung, Engagement und Arbeit zu fördern, aber auch, um zum Schutz von Fotojournalisten in Konfliktgebieten beizutragen. Jedes Jahr vergibt der Verein beim Festival «Visa pour l’image» in Perpignan einen Preis an einen Fotojournalisten oder eine Fotojournalistin, deren Arbeit ein starkes persönliches Engagement für ein Land, eine Bevölkerung oder eine Sache zeigt.
Boris Lojkine:
1969 geboren, lehrte Boris Lojkine Philosophie an der Aix-Marseille Université, bevor er zum Film kam. Nach dem Abschied vom Universitätsleben ging er nach Vietnam, wo er zuvor schon einmal gelebt und dessen Sprache er gelernt hatte. Davon inspiriert, realisierte er zunächst zwei Dokumentarfilme Ce…
Camille
Artikel veröffentlicht: 15. September 2023
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