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Filmbesprechung

Den Hocker wegziehen?

Vier Variationen zur moralischen Kraft. Heschmat ist ein vorbildlicher Ehemann und Vater, der seinem Alltag nachgeht. Rekrut Pouya kann sich nicht vorstellen, einen Menschen zu töten. Javad ahnt nicht, dass sein Heiratsantrag nicht die einzige Überraschung für seine Geliebte am Geburtstag bleiben wird. Bahram ist Arzt, darf aber nicht praktizieren. Die vier Menschen kennen einander nicht, teilen aber ein gemeinsames Schicksal. Mohammad Rasoulof regt uns an, darüber nachzudenken, wie Männer und Frauen auch in schwierigen Situationen ihre Freiheit behaupten können. Ein meisterliches Plädoyer fürs Leben.

Es ist eine Bewegung ins Offene. Zu Beginn fährt ein Mann in einem Auto aus einer Tiefgarage heraus; scheinbar endlos schraubt sich der Wagen die Rampe hinauf, ist die Perspektive verengt und verkürzt, macht sich zunehmendes Unbehagen bemerkbar. Welcher Schrecken mag hinter der nächsten Biegung lauern? Immer nur und immer nur wieder im Kreis herum geht es in diesem betonierten Schacht, in dem das Licht dräuend flackert, der zur klaustrophobischen Drohung wird und immer drängender die Frage aufwirft: Wird es jemals wieder ans Tageslicht gehen? Wird man dann noch leben?

Und am Ende steht wieder ein Auto, es ist ein anderes, und es wurde inmitten einer kargen Landschaft angehalten, wie um innezuhalten fĂĽr eine Denkpause. Zu sehen ist es aus weiter Entfernung, in einer raumgreifenden Totale steht das Fahrzeug, still und klein, und es fragt sich, in welche Richtung die, die drin sitzen, es nun wohl lenken werden? Und man weiss, dass es nur eine Richtung gibt, die die richtige ist, und man hofft, dass die Menschen im Auto sie einschlagen werden.

Vier Erzählungen – ein Meisterwerk

Die Figuren in Mohammad Rasoulofs There Is No Evil (Sheytan vojud nadarad) sind unterwegs: Ein Familienvater fährt in einem Auto durch die Stadt, ein Soldat hastet durch die Gänge eines Gefängnisses, ein anderer Soldat spaziert mit seiner Braut durch den Wald, ein älterer Mann und eine junge Frau gehen auf die Jagd. Die einen drehen sich im Kreis, die anderen brechen auf.

Vier Episoden bilden diesen Film, vier eigenständige Erzählungen, die jedoch aufeinander aufbauen und ineinander verzahnt sind, so dass man die tiefere Bedeutung jeder einzelnen besser begreift, weil die vorangegangene Wissen hinzugefügt und einen etwas gelehrt hat. Motive werden wieder aufgegriffen, ein musikalisches Thema klingt neuerlich an, die Bewegung eines Körpers erinnert an eine andere zuvor, Räume erweitern sich, Begrenzungen fallen, Facetten werden hinzugefügt. Es lohnt, There Is No Evil mehrmals zu sehen, derart eng geflochten ist seine narrative Struktur und derart sorgsam konstruiert ist sein dramaturgischer Aufbau. Das gilt sowohl für die einzelnen Kapitel als auch für das Werk in seiner Gesamtheit. Ein Werk, das in Szene gesetzt ist mit dem sicheren Gespür des visuellen Künstlers für die Wirkung starker, klarer Bilder – die der starken, klaren, dabei doch komplexen Aussage des Films die luxuriöse Ebene ästhetischer Perfektion hinzufügen. Tatsächlich, ein Meisterwerk. Und umso erstaunlicher, bedenkt man Herkunft und Entstehung.

Natürlich habe ich Hoffnung. Die speist sich aus der Gewissheit, dass das Leben schön ist. Und solange ich bald wieder Filme machen kann, kann ich auch die Realität abbilden, die um mich herum ist. Das ist meine Aufgabe, und sie gibt mir Hoffnung.

Mohammad Rasoulof

Filmstill «There Is No Evil»

Zensur in globalen Zeiten

Drehbuchautor, Filmemacher und Produzent Mohammad Rasoulof wird 1972 in Schiras, Iran, geboren. Er studiert zunächst Soziologie, bevor er einen Workshop zu Filmschnitt am Sooreh Higher Education Institute in Teheran besucht und mit der filmemacherischen Arbeit beginnt. Zwischen 1991 und 1996 entstehen sechs Kurzfilme. Sein Langfilmdebüt Gagooman (The Twilight, 2002) wird beim Internationalen Fajr Film Festival in Teheran mit dem Preis für den Besten Erstling ausgezeichnet. Doch bereits mit seiner zweiten Arbeit Jazireh Ahani (Iron Island, 2005) – die von sunnitischen Iranern erzählt, die auf dem Wrack eines allmählich sinkenden Öltankers im Persischen Golf leben – erregt Rasoulof das Missfallen der Obrigkeit und bekommt Schwierigkeiten mit der Zensurbehörde.

2008 dreht er seinen bislang einzigen Dokumentarfilm; Baad e daboor (Head Wind) beschäftigt sich mit der widersprüchlichen medialen Situation im Iran: Einerseits herrscht dort strenge Zensur, andererseits sind via Satellit noch in den entlegensten Regionen Dutzende von Programmen zu empfangen. Im März 2010 wird Rasoulof zusammen mit Filmemacherkollege Jafar Panahi während der Dreharbeiten an einem gemeinsam verantworteten Projekt – in dem unter anderem die Präsidentschaftswahl und die anschliessende Revolte hatte Thema sein sollen – verhaftet; im Zuge dessen wird Rasoulof in deutschsprachigen Medien des öfteren fälschlicherweise als Assistent von Panahi bezeichnet.

Beiden Regisseuren wird «Propaganda gegen das System» vorgeworfen und sie werden vor Gericht gestellt. Panahi erhält eine sechsjährige Haftstrafe und zwanzig Jahre Berufsverbot; Rasoulof wird zu sechs Jahren Haft verurteilt, die später auf ein Jahr reduziert wird, er wird auf Kaution freigelassen. Zwar steht Rasoulof nicht, wie Kollege Panahi, unter Hausarrest, lebt aber unter dem Damoklesschwert der jederzeit möglichen Aufforderung zum Haftantritt.

Filmstill «There Is No Evil»

Goldener Bär

Ausser Gagooman ist keiner von Rasoulofs Filmen im Iran je regulär in einem Kino zu sehen – hingegen zirkulieren sie auf Raubkopien und sind via Satellit zu empfangen, auch auf den internationalen Filmfestivals und im Ausland reüssiert Rasoulofs Werk. In Cannes erhält Be omid e didar (Goodbye) 2011 den Regie-Preis der Sektion Un certain regard, Dastneveshtehaa nemisoosand (Manuscripts Don’t Burn) 2013 den Fipresci-Preis und Lerd (A Man of Integrity) 2017 den Hauptpreis der Sektion Un certain regard. Als der Filmemacher nach der Premiere des Letzteren in seine Heimat zurückkehrt, nimmt man ihm seinen Pass ab.

Für There Is No Evil wird Mohammad Rasoulof im Februar diesen Jahres bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet; persönlich in Empfang nehmen kann der Filmemacher den Preis jedoch nicht, da er keine Ausreiseerlaubnis erhält; vertreten wird er von seiner in Hamburg lebenden Tochter Baran, die auch als Schauspielerin im Film mitwirkt. Der Gewinn des Goldenen Bären bringt Rasoulof nur wenige Tage später eine neuerliche Verurteilung, eine weitere einjährige Haftstrafe sowie ein zweijähriges Berufsverbot ein, da er mit nunmehr drei Filmen «Propaganda gegen das System» betrieben habe.

Ein mutiger Mann

Doch die Repressionen, die Mohammad Rasoulof in seiner künstlerischen Arbeit zu gewärtigen hat, fechten ihn nicht an; in einem anlässlich der Premiere von There Is No Evil mit dem Berliner Tagesspiegel via Skype geführten Interview gibt er zu Protokoll: «Warum sollte ich weglaufen? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Wenn jemand das anders sieht und findet, ich müsste zur Strafe meiner Rechte beraubt werden, dann übernehme ich doch nicht in vorauseilendem Gehorsam dessen Arbeit.»

Es lässt sich denken, dass derart unverblümt artikuliertes Selbstbewusstsein eines politisch denkenden Bürgersubjekts den iranischen Machthabern ein Dorn im Auge ist. Da gibt einer nicht nur nicht klein bei, da nennt auch noch einer die Dinge beim Namen; und dringt dabei zu allem Überfluss zu jenen zentralen Punkten vor, an denen es richtig übel weh tut – und dann sticht er mit Schmackes hinein. Mohammad Rasoulof ist ein mutiger Mann.

Die Tränen der Menschen sammeln

Wie nicht wenige Künstler, die in einer Diktatur an ihrer Arbeit festhalten, bedient sich auch Rasoulof zu Beginn seiner Laufbahn einer eher allegorischen, metaphernreichen Erzählweise, um die gesellschaftlichen Gegebenheiten in seinem Heimatland kritisch zu hinterfragen. Als Beispiel sei der 2009 entstandene Keshtzarha ye sepid (The White Meadows) genannt, in dessen Mittelpunkt ein Mann steht, der mit einem Boot von Inselchen zu Inselchen schippert und dort mal als Bestatter, mal als Beichtvater, mal als Schamane, mal als Polizist agiert. Unterwegs sammelt er die Tränen der Menschen ein, die üppig fliessen; am Ende wird er mit diesen die Füsse des Herrschenden, eines hinfälligen Greises, waschen. Mit den reduzierten Schauplätzen, dem Verzicht auf raumzeitliche Festlegung und der episodischen Narration mit ihren symbolhaft verdichteten Handlungen – zu denen immer wieder auch ritualisierte Menschenopfer zählen – lässt sich Keshtzarha ye sepid unschwer als politische Allegorie lesen. Der Schmerz, der sich in ihr artikuliert, ist beträchtlich, die Anklage, die sie führt, wiegt schwer und die Kritik, die sie übt, ist scharf.

Die Schönheit

Doch entzieht sich die Allegorie eben gerne der Festnahme, die Eindeutigkeit ist ihre Feindin, mitunter auch stirbt sie in Schönheit. Schönheit ist hier das Stichwort. Denn was bleiben wird, als Rasoulof dazu übergeht, in seinen Werken seine Gegenwart direkter und unverblümt anzusprechen, ist die Schönheit. Ein wunderbarer Sinn für Proportionen, Farbharmonien und -kontraste, eine spürbare Liebe zur Landschaft und zur traditionellen Kultur des Iran zeichnen Rasoulofs Filme aus. Und ihr ästhetischer Entwurf macht diese Studien der Unterdrückung mitunter umso beklemmender zu sehen.

Zuletzt hat Rasoulof mit Lerd – A Man of Integrity einen Film über den geistig-moralischen Stillstand und über Mechanismen der Ausgrenzung in seinem Land gedreht. Ebenso gnadenlos wie vielschichtig ausgeführt am Beispiel des Fischzüchters Reza, der sich von den Opportunisten und Profiteuren, die den Ton angeben, nicht korrumpieren lassen will. Im Dschungel der Bürokratie allerdings erfährt er die eigene Ohnmacht alsbald als existenzbedrohend. A Man of Integrity ist ein atemberaubend präziser Film über die Wut und Empörung, die erwachsen, wenn die einzig mögliche Alternative letztlich die zwischen der Existenz als Unterdrückter und der als Unterdrücker ist.

Filmstill «There Is No Evil»

Die Eigenverantwortung

There Is No Evil geht noch einen Schritt weiter. Mohammad Rasoulofs aktueller Film kreist um die Frage nach der Eigenverantwortung von Menschen in einem despotischen Regime. Als Aufhänger wählt der Regisseur den zweijährigen verpflichtenden Militärdienst, eineZeit, so Rasoulof im oben erwähnten Interview, in der «der freie Wille und die moralische Identität zerstört» werden. Im Zuge dieses Dienstes nämlich können die jungen Soldaten auch zur «Urteilsvollstreckung» herangezogen werden; dann sind sie dazu verpflichtet, einem beispielsweise zum Tode durch den Strang Verurteilten den Hocker unter den Füssen wegzuziehen. Wer keinen Militärdienst leistet, riskiert mannigfache Benachteiligung, unter anderem bekommt man keinen Pass und darf keinen Führerschein machen.

So lautet das Gesetz. Aber was, wenn das Gesetz falsch ist? Und wer macht überhaupt das Gesetz? Diese aufrührerischen Fragen stellt Rasoulof im Lauf seiner (vier) Erzählung(en) ganz unverholen mit schmerzlicher Direktheit. Und noch einige mehr: Kann man ein geradezu vorbildlicher Nachbar, Ehemann, Vater, Sohn sein – und doch kein guter Mensch? Wiegt das Leben des unbekannten Verurteilten schwerer als das Glück der Tochter, die man noch gar nicht hat? Schützt die Fremdheit des Todeskandidaten davor, Schuld auf sich zu laden? Und welche Möglichkeiten bleiben einem überhaupt, entschliesst man sich zur Gegenwehr? Welchen Spielraum hat moralische Integrität in einer Diktatur?

Es sei ihm mit seinem Film, so Rasoulof, «weniger um die Todesstrafe als um Befehlsgehorsam» gegangen. Nicht das psychische Drama des verurteilten Delinquenten steht demnach im Mittelpunkt der Geschichten als vielmehr das moralische desjenigen, der das Urteil zu vollstrecken hat/hätte.

Filmstill «There Is No Evil»

Die Perspektive ändern

Tatsächlich lässt sich There Is No Evil – auch wenn er im Rahmen der Berlinale-Berichterstattung hartnäckig als «Film über die Todesstrafe» bezeichnet wurde – schwerlich einer Tradition von Dramen wie I Want to Live! (Robert Wise, 1958), Dead Man Walking (Tim Robbins, 1995), The Green Mile (Frank Darabont, 1999) oder Monster’s Ball (Marc Forster, 2001) zuordnen. Wohl dient Rasoulof die Hinrichtung als Handlung stiftendes Element, als Aktionsmotor, gar als dramaturgischer Kniff. Doch es versteht sich, dass der Filmemacher den überraschenden Schockmoment oder die unvorhergesehene Wendung nicht aus ausbeuterischen Motiven, also zu billiger Effekterzeugung einsetzt. Vielmehr ändert er vermittels dieser Aufrüttler schlagartig die Perspektive – und zwar nicht nur die des Publikums auf Geschichte und Figuren, sondern auch die der Figuren auf fest und sicher Geglaubtes wie beispielsweise einen gemeinsam geteilten Wertekanon oder die Art der familiären Beziehungen oder das Potenzial der Kraft, die in einem starken Willen steckt.

Weder schleicht Rasoulofs Film noch reden seine Figuren um den heissen Brei herum, die fundamentale Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der freien Entscheidung in einem autoritären Staat schwingt nicht nur beständig mit, sie wird auch beharrlich und in immer wieder neuen Anläufen konkret gestellt: In Form einer Auseinandersetzung von sechs Soldaten auf der Kammer, die sich zu einer philosophischen Debatte über Macht, Ohnmacht und Korrumpierbarkeit entwickelt; in Gestalt der tastenden Verständigung zweier Liebender über das, was in einer gemeinsamen Zukunft für gut und richtig zu befinden wäre; als bitter aufheulende Anklage einer um ihren Vater betrogenen Tochter. Letzteres eine auch autobiografisch zu lesende Episode, in der Rasoulof den Versuch einer Antwort auf die Fragen seiner eigenen, entfernt von ihm lebenden Tochter gestaltet hat.

Filmstill «There Is No Evil»

Widerstand als Pflicht

Wie entsteht ein solches Werk, dessen blosse Existenz der Beweis der Möglichkeit von Widerstand ist? Rasoulof: «Wir haben vier Produktionen von vier Filmemachern angemeldet, es sind zufällig meine Regieassistenten. Bei Kurzfilmen schaut das Zensursystem noch nicht so genau hin. Die Filme spielen an vier sehr unterschiedlichen Orten, sie wurden zu unterschiedlichen Zeiten realisiert. Es war knifflig: Während der eine Film geschnitten wurde, fing beim nächsten erst der Dreh an. Dank meiner Assistenten hat es aber gut funktioniert, vor allem bei der in Teheran gedrehten Episode, bei der ich selber nicht am Set auftauchen durfte.»

Schlau eingefädelt, in der Tat. Doch darf einen die klammheimliche Freude über die Überlistung des Systems der Mullahs nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Notwendigkeit der Überlistung gar nicht erst stellen sollte, weil die Einschränkung der künstlerischen Freiheit Unrecht ist. So steht am Ende neben der berechtigten Freude über ein hochkarätiges filmisches Kunstwerk auch die aufwühlende Erkenntnis, dass sich in dem hohen Preis, den Rasoulofs Figuren für ihre Integrität zu zahlen bereit sind, der Preis spiegelt, den ihr Schöpfer zahlt. Es liegt darin auch eine Handlungsaufforderung wider die Unterdrücker, die ihr Unwesen ja nicht nur im Iran treiben; es gilt sie zu bekämpfen, wo man sie trifft.

Filmstill «There Is No Evil»
portrait Mohammad Rasoulof

Mohammad Rasoulof:

Mohammad Rasoulof wurde 1972 in Shiraz geboren. Er begann seine künstlerische Aktivität im Alter von neun Jahren, als er im Theater von Shiraz auftrat und betätigte sich später als Regisseur sowie als Autor fürs Theater. Er studierte Sozialogie an der Shiraz University und Filmschnitt am Sooreh Hig…

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