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Der Schrei des Perlhuhns
Spätabends auf dem Heimweg von einer Verkleidungsparty fährt Shula eine verlassene Strasse entlang, als sie plötzlich ihren Onkel tot am Boden vorfindet. Während der Vorbereitungen für die Beerdigungszeremonie bringen Shula und ihre Cousinen nach und nach die verborgenen Geheimnisse der Familie ans Licht; ihre Tanten hingegen hätten diese lieber gleich mit Onkel Fred begraben. Mit ihrem in Cannes prämierten Zweitlingsfilm, oszillierend zwischen Komödie und Sozialdrama, liefert Rungano Nyoni eine bitterböse Abrechnung mit den Lügen, die wir uns selbst erzählen. Und einen Aufschrei gegen das Schweigen.
Eine junge Frau fährt nachts in einem Auto eine verlassene Strasse entlang und hört Afro-Pop. Sie trägt eine schräge Verkleidung, einen aufgeplusterten schwarzen Bodysuit, kombiniert mit einer schrillen Kopfbedeckung, die irgendwo an ein Diadem erinnert. Plötzlich verlangsamt sie: Mitten auf der Strasse liegt ein toter Mann. Mit stoischer Gelassenheit, beinahe gelangweilt, zückt Shula ihr Telefon und ruft ihren Vater an. Die Leiche ist scheinbar ihr Onkel. Als kurz darauf ihre betrunkene Cousine aus heiterem Himmel dazustösst, verdreht sie genervt die Augen – auch das noch. Dass hier trotz aller bizarren Komik keine heitere Familiengeschichte folgt, macht Rungano Nyoni gleich in den ersten Minuten klar. Unklar bleibt vorerst, wie sie ihren Filmstoff verarbeitet: Folgt hier Sci-Fi, Krimi oder gar Thriller? Alles ist möglich mit dieser Ausgangslage, vor allem aber zeigt Nyoni gleich in der ersten Szene, was sie als Filmemacherin drauf hat.
Sambischer Familienschlauch
So viel sei vorweggenommen: Besonders heiter wird es nicht, eine Familiengeschichte aber doch: Was auf diesen Anfang, gespickt mit komischen Elementen, folgt, ist ein sorgfältig entwickeltes Sozialdrama, in dem die Regisseurin die dunklen Geheimnisse von Shulas Familie enthüllt. Am nächsten Morgen trifft die Polizei ein, es wird festgestellt, dass das nächstgelegene Haus ein Bordell ist. Cousine Nsansa findet das zum Kreischen: «The big man has died a happy man – der grosse Mann ist als glücklicher Mann gestorben», doch dieses Detail soll lieber rasch unter den Tisch gewischt werden. Als Shula am Morgen nach der nächtlichen Entdeckung nach Hause kehrt, geht der Familienschlauch erst richtig los. Unzählige Menschen, allen voran diverse Tanten, treffen ein. Shula, die gerade aus dem Ausland zurückgekehrt ist, stehen die Frauen skeptisch gegenüber: «Sie sieht nicht aus wie eine, die eine Leiche gesehen hat. Ihre Augen sind so trocken.» Als Shula und Nsansa sich mit der dritten Cousine Buba auf ein Bier verziehen, kratzen sie erst mal an der Oberfläche, bevor wir dann im Sturzflug auf die Gewissheit zusegeln: Der Tote war wohl längst nicht die Vorbildfigur, als die er von seinen Geschwistern und Verwandten nun verabschiedet wird.
Bravouröse Geschichtenerzählerin
Die sambisch-britische Filmemacherin Rungano Nyoni knĂĽpft mit ihrem zweiten Spielfilm an ihr vielversprechendes DebĂĽt I Am Not a Witch aus dem Jahr 2017 an, mit welchem sie unter anderem die begehrte Auszeichnung an den englischen BAFTA Film Awards gewonnen hat (British Academy Film Awards, Kategorie Herausragendes DebĂĽt). Nyoni ist in Sambia geboren und emigrierte als Kind mit ihren Eltern nach Wales.
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Bereits im Debüt bewies Rungano ein herausragendes Talent für originelles und provokatives Geschichtenerzählen. Mit On Becoming a Guinea Fowl, der in Cannes Weltpremiere feierte, liefert sie ein innovatives Erzählstück und beweist einmal mehr, welch kreative Sprengkraft aus dem viel zu wenig beachteten sub-saharischen Afrika hervorkommt. Für ihre frische Erzählweise wurde sie in Cannes mit dem Preis für die beste Regie in der Sektion «Un Certain Regard» ausgezeichnet. Schauspielerin Susan Chardy verkörpert hervorragend die zunächst anteillose, später immer wütender agierende Protagonistin, Kameramann David Gallego (El abrazo de la serpiente, Birds of Passage) fängt die vielen Abend- und Nachtszenen ungemein packend ein, vermischt mit poetischen Elementen, die mit einem starken Sounddesign untermalt sind. In surrealen Sequenzen tritt immer wieder ein junger Lockenkopf ins Bild, die junge Shula, die ihr älteres Ich, schweigend, aber deutlich, wieder und wieder mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert.
Sambia ist eine kollektive Gesellschaft, in der es nicht um dich alleine geht, sondern um die Gemeinschaft, was manchmal schön ist, manchmal aber auch deine eigenen Bedürfnisse untergräbt.
Rungano Nyoni
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Bittere Erkenntnis
Die Handlung siedelt Nyoni grösstenteils während der Vorbereitungen des Bestattungsrituals an. Weil so viele Menschen in Sambia in der Stadt leben und von weit her anreisen, dauert es immer ein paar Tage, bis das eigentliche Begräbnis stattfindet, wie die Regisseurin in einem Interview erklärt. In den Tagen davor übernachten die Besucher:innen dann im Haus der Trauerfamilie. Diese Konstellation nutzt Nyoni, um einen Fächer an Beobachtungen aufzuspannen. Ein soziales Regelwerk legt fest, wer für wen kocht, und wem zuerst welches Essen serviert wird. Männer finden sich keine in der Küche, dafür schlafen nur die Frauen im Haus, in einem einzigen Raum, die Männer verbringen die Nacht draussen. Einzig die Witwe, nun offensichtlich nicht mehr so eng mit der Familie verbunden, muss die Nacht ebenfalls draussen verbringen und zudem Rechenschaft ablegen: Weshalb musste ihr Mann sterben, hat sie sich auch gut genug um ihn gekümmert? In das sorgsam ausgelegte Bestattungsritual webt Nyoni die schmerzvollen Geschichten der drei Cousinen ein und liefert die bittere Erkenntnis: Jede von ihnen ist als Kind von Onkel Fred missbraucht worden, keine von ihnen hat der anderen bisher was davon erzählt. In diesem Setting ist das besonders brisant, denn bekanntlich soll man über die Toten nicht schlecht reden, schon gar nicht in der Kultur der Bemba, die den Ahnen grosse Bedeutung beimisst. Doch wenn nicht jetzt, wann sonst soll sich frau zu Wort melden? Zu Freds Lebzeiten wurde das Thema offensichtlich nie auf den Tisch gebracht, obwohl im Kreis der Familie alle bestens informiert sind. In einer Schlüsselszene öffnen sich die Mütter ihren Töchtern gegenüber, indem sie gemeinsam wehklagen und weinen. Es ist unwahrscheinlich, dass der Missbrauch innerhalb der Familie bei den Cousinen anfing oder mit ihnen aufhören wird.
«Die Scham muss die Seite wechseln»
«Wir sind es leid, unsere Schwestern aufgrund von geschlechtsspezifischer Gewalt zu begraben», verkündete kürzlich die kenianische Läuferin Viola Cheptoo bei der Beerdigung von Rebecca Cheptegei, die in Kenia wohnhafte Marathonläuferin aus Uganda, die nach ihrer Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris 2024 von ihrem Ex-Partner auf brutale Weise ermordet wurde. In letzter Zeit haben mehrere schwere Gewaltakte gegen Frauen Ostafrikas Sportwelt erschüttert. Die kollektiven Schreie gegen Feminizide und geschlechtsspezifische Gewaltakte werden weltweit immer lauter. Da Filmschaffende gerne soziale Aktualitäten aufgreifen, sind sie nicht mehr selten, die Filme, in denen sexualisierte Gewalt eine Hauptrolle einnimmt. Doch sie sind leider bitterer nötig denn je, in Zeiten, da wir aus dem trumpistischen Amerika vermehrt wieder den grässlichsten aller Slogans «Your Body My Choice» zu hören bekommen.
Wir glauben sehr stark an Geister und Vorfahren, und niemand möchte vom Geist einer Person heimgesucht werden, über die man bei ihrer Beerdigung unfreundliche Dinge gesagt hat.
Rungano Nyoni
Zuversichtlicher stimmt da, dass die Filme heute zirkulieren und scheinbar zumindest in einigen Kreisen mit offenen Armen empfangen werden: Unlängst vergaben am Zurich Film Festival sowohl die beiden Hauptjurys wie auch das Publikum ihre Preise an entsprechende Filme. Neben On Becoming a Guinea Fowl (Goldenes Auge für den Besten Spielfilm) erhielt Black Box Diaries von Shiori Ito den Publikumspreis und das Goldene Auge für den Besten Dokumentarfilm. In dem höchst persönlichen Film dokumentiert die Japanerin die Aufklärung ihres erlebten sexuellen Übergriffs und ihren mutigen Kampf, damit an die Öffentlichkeit zu gehen und den Täter (einen Medienchef und Befreundeten des damaligen Ministerpräsidenten) vor Gericht zu bringen. Die Geschichte der japanischen #MeToo-Ikone bewegt derzeit weltweit die Gemüter, genauso wie diejenige aus dem französischen Avignon, wo Gisèle Pélicot nach zehn Jahren durchlebten Missbrauchs nun Vergewaltigungsopfern ein Gesicht gibt. Shiori, Gisèle und Shula: ihnen allen ist gemein, dass sie das Schweigen brechen. Wie die Französin es so zutreffend formulierte: «Die Scham muss die Seite wechseln.»
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Wie ist es möglich, dass 2024 immer noch Männer mehrheitsfähig sind, die sich offen misogyn äussern und gerade damit eine immense Anhängerschaft finden? Und was können wir unternehmen, um unsere Töchter zu schützen? In der Tierwelt hat die Evolution dafür gesorgt, dass Tierarten durch Anpassung an ihre Umgebung soziale Verhaltensweisen als Schutzmechanismen entwickelten. So auch das Guinea Fowl, zu Deutsch Perlhuhn.
Das Komische an der sambischen Kultur ist, dass wir ein Matriarchat haben, aber es gibt so viele WidersprĂĽche. Warum haben wir in diesem Umfeld die gleichen Probleme mit Frauenfeindlichkeit wie im Patriarchat?
Rungano Nyoni
Perlhühner sind Hühnervögel, die vor allem in Afrika heimisch sind – und die die anderen Perlhühner mit einem lauten Schrei warnen, wenn Gefahr lauert. Das lernen wir zusammen mit der jungen Shula, die sich eine TV-Sendung anschaut. Doch liegt die Gefahr in der Vergangenheit und wird mit den Toten begraben? Oder bleibt sie bestehen, wenn die Geheimnisse der Toten weiterhin gehütet werden? Nyoni setzt einen fulminanten Schlusspunkt auf dieses Stück feministische Anklageschrift und ein Plädoyer gegen das Schweigen. Wenn im Vordergrund die versammelte Familie streitet, bleibt Shula nur noch eins, um sich – endlich – Gehör zu verschaffen: Der Schrei des Perlhuhn.
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Rungano Nyoni:
Rungano Nyoni (*1982) wurde in Lusaka, Sambia, geboren und emigrierte als Kind mit ihren Eltern nach Wales. Sie studierte an der University of the Arts in London und lebt heute in Lissabon. Bereits mit ihren Kurzfilmen The List und Mwansa the Great feierte sie beachtliche Erfolge an internationalen…
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On Becoming a Guinea Fowl
Artikel veröffentlicht: 5. Februar 2025
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