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Filmbesprechung

Die Heimat des Herzens

Die Familiengeschichte, die Cherien Dabis in ihrem zutiefst bewegenden Spielfilm «All That's Left of You» erzählt, hat nichts mit den jüngsten Gräueln im Nahen Osten zu tun, aber sie führt uns vor Augen, wie Schlagzeilen von heute tiefe Wurzeln haben und Lösungen guten Willen bedingen.

Egal, wie alt wir sein mögen: Erschreckende Nachrichten aus dem Nahen Osten begleiten unseren Lebensweg. Derzeit tun sie es wieder in neuer Intensität. Da kommt ein Film wie gerufen, der lange vor den aktuellen News geschrieben und entwickelt wurde und der es auf verblüffend entrückte Weise schafft, über den Zeiten zu stehen und über dem Geschehen, das ohnehin zu schnell der Vergessenheit anheimfällt. Im Kern, scheint uns die in der nordamerikanischen Diaspora geborene Palästinenserin Cherien Dabis (Amreeka) zu sagen, würde es um ganz einfache Dinge gehen, wären da nicht Politiker, denen Machterhalt wichtiger ist als friedliches Zusammenleben. Die kleine Geschichte, die uns die Filmemacherin erzählt, geht ans Herz der grossen Geschichte, und, als wollte sie unterstreichen, wie wichtig es ihr ist: Um in die kleine Geschichte hineinzublicken, führte Cherien Dabis nicht nur Regie, sie verkörpert auch die weibliche Hauptrolle.

Ich bin das Meer. In meinen Tiefen schlummern alle Schätze. Wurden die Taucher nach meinen Perlen gefragt?

Gedicht aus dem Film

Filmstill «All That's Left of You»

Blick in die Kamera

Als ältere Frau mit ergrautem Haar blickt sie nach der temporeich inszenierten und mit einem Schuss endenden Titelsequenz in Grossaufnahme direkt in die Kamera und schaut damit uns an. Später werden wir den Kontext ihrer direkten Anrede genauer zuordnen können, aber schon hier fesselt ihr Augenpaar, nimmt uns der Vertrauen suchende Blick ein, der noch unterstrichen wird durch nachdenkliche Pausen, die sie zwischen den wenigen Sätzen setzt. Die Frau, die uns da anschaut, sagt uns, die wir uns entschlossen haben, einen Film aus Palästina anzuschauen: «Ich weiss, Sie wundern sich, warum wir hier sind. Sie wissen nicht viel über uns. Das macht nichts, ich bin nicht hier, um Ihnen einen Vorwurf zu machen. Ich bin hier, um Ihnen zu erzählen, wer mein Sohn ist.» Damit wir das Ganze verstehen würden, müsse sie zunächst erzählen, was seinem Grossvater passiert sei.

Filmstill «All That's Left of You»

Nun gleitet die Kamera über die Meeresoberfläche, schwenkt hoch und ins Bild kommt die pittoreske Szenerie einer alten Stadt am Meer im Jahr 1948: Jaffa, Palästina. Die Familiengeschichte, deren Erzählung hier ihren Anfang nimmt und die sich über rund 75 Jahre erstreckt, dreht sich um Sharif Hammad, der in Jaffa die Orangenplantage seines Vaters weiter pflegt und stolz ist darauf, dass die Früchte in aller Welt so begehrt sind. Sogar die britische Königin, wird er dem Enkel Jahre später erzählen, hätte seine Orangen geliebt.

Filmstill «All That's Left of You»

Grossbritannien war bis 1947 präsent in der Region, denn 1922, nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, war das vom Völkerbund geschaffene Mandatsgebiet Palästina entstanden und den Briten zugeordnet worden. Im Hinblick auf deren Rückzug begann das, was als Nakba (Katastrophe) in die Geschichte eingehen sollte: Die Vertreibung und Flucht der arabischen Bevölkerung. Sharif wird verhaftet, das Haus der Familie enteignet. Sein Sohn Salim wächst mit den Geschwistern und den Eltern zusammen im Flüchtlingslager auf und arbeitet Jahre später als Lehrer in der von Israel besetzten Westbank.

Filmstill «All That's Left of You»

Epische Familiengeschichte

Keine Sorge: Cherien Dabis’ Film blickt zwar in die vergangenen 75 Jahre, aber er sucht nicht die historische Erzählung, er folgt der menschlichen. Die Kernhandlung, die in der Zeit sowohl zurückschaut, als auch nach vorne sich entwickelt, dreht sich um Salim, Hanan und deren Kinder, von denen das älteste, Noor, bald den Gang des Geschehens bestimmt. Es gibt in diesem Film mehrere ungemein intensiv gestaltete Momente, die man so schnell nicht vergessen wird. Ein erster ist die erwähnte direkte Anrede der weiblichen Hauptfigur, die mich als Betrachter einbezieht in die Handlung. Ein zweiter spielt sich 1978 ab. Salim muss aufgrund einer Ausgangssperre mit seinem Sohn von der Apotheke nach Hause eilen und wird kurz vor dem Ziel von einer Militärstreife angehalten und vor den Augen des Buben gedemütigt. Zehn Jahre später ein dritter: Noor wird an einer Manifestation von einer Kugel getroffen und so schwer verletzt, dass er zur weiteren Untersuchung nach Haifa transportiert werden müsste, also aus der Westbank nach Israel. Die Hürden dahin sind hoch für einen Palästinenser, selbst im Koma; bis der Krankentransport geschehen kann, vergehen Tage, und für Noor schwindet die Möglichkeit lebensrettender Massnahmen.

Filmstill «All That's Left of You»

Cherien Dabis erzählt alles über die Jahre hinweg in einer wohltuend entrückt wirkenden Zurückhaltung, die den Film selbst in dramatischen Momenten ruhen lässt und die Erfahrung des inneren Moments in den Vordergrund rückt. Sie schafft das durch präzis ausgewählte Blickwinkel und Tempi, die Fähigkeit zum Innehalten und eine Art Beruhigung mit der zurückhaltend eingesetzten Musik von Amine Bouhafa – vorwiegend die Streichinstrumente Violine, Viola, Cello und Kontrabass –, die den Bildern Tiefe gibt. Sie schafft es mit Pausen, die sie stehen lässt. Das hebt die Handlung über das Geschehen im Einzelnen hinaus in eine zeitlose Dimension, was unter anderem mit einer Erfahrung zusammenhängen mag, die die Regisseurin als 8-Jährige machen musste, als sie Palästina mit ihrer Familie zum ersten Mal besucht hatte und sie 12 Stunden an der Grenze aufgehalten wurden. Das Erlebnis habe sie begreifen lassen, «was es heisst, Palästinenserin zu sein.» Ohne Geduld kein Leben.

Filmstill «All That's Left of You»

Schauspielfamilie Bakri

Faszinierend wirkt nicht zuletzt die Besetzung von zwei männlichen Figuren mit drei Generationen der real existierenden Filmfamilie Bakri. Sohn Saleh, der hier den Salim spielt, und Vater Mohammad, der als Grossvater den sich zurückziehenden Alten verkörpert, haben bereits in Annemarie Jacirs Spielfilm Wajib Vater und Sohn gespielt. Sie kurven dort durchs vorweihnächtliche Nazareth, um Hochzeitseinladungen unter die Leute zu bringen und ihre unterschiedlichen Positionen zum Leben auszuspielen. Ihnen gesellt sich nun Salehs Bruder Adam Bakri bei, der den jungen Sharif gibt.

Filmstill «All That's Left of You»

Die Besetzung von fiktivem Vater und Sohn mit einem realen Vater und Sohn verleiht dem Film eine zusätzliche Ebene und eine ungekünstelte Lockerheit. Gedreht wurde der Film angesichts der aktuellen Umstände in Jordanien und im griechischen Teil von Zypern. Die Regisseurin Cherien Dabis prägt als weibliche Hauptfigur auch vor der Kamera den Film entscheidend mit. Sie schafft als Schauspielerin wie als Regisseurin eine stille Direktheit, die einen in Bann zieht und All That’s Left of You zu einem unvergesslichen Filmerlebnis macht, das unter die Haut geht. Diese Ruhe mitten im Sturm.

Filmstill «All That's Left of You»

Am Ende spielt auch das Meer seine wichtige Rolle. Ist es zunächst für die palästinensische Bevölkerung nur noch als Hintergrundbild im Dekor des Fotografen da, weil die Westbank von ihm abgeschnitten ist, so findet es sich in Versen wie dem eingangs zitierten, den die Väter ihren Kindern weitergeben. Und als Traum, in dem diese Geschichte mit Salim und Hanan in liebevoller Umarmung am Ufer endet. «Hast du die Antworten bekommen, nach denen du gesucht hast?», fragt er sie. Ob er denn etwas wissen wolle, fragt sie zurück. Er will: «Haben wir einen Fehler gemacht?» Sie schüttelt verneinend den Kopf. Wir wissen in diesem Moment mehr als er und mehr, als ich hier verraten möchte, denn auf die Suche hatte sich Hanan allein begeben müssen – Salim fehlte die Kraft. Im Café einer Buchhandlung von heute haben wir mit ihr zusammen den intensivsten Moment dieses Films erlebt, als es ums Herz ihres Sohnes geht und um die Frage, ob unser Herz eine Nationalität habe. Die alte Frau vom Anfang des Films ist Hanan, sie sitzt da einem Israeli mittleren Alters gegenüber und sagt: «Mein Sohn hat ein gutes Herz, vergessen Sie das nicht.»

Filmstill «All That's Left of You»
Filmstill «All That's Left of You»
portrait Cherien Dabis

Cherien Dabis:

Cherien Dabis (*1976 in Nebraska) ist eine palästinensisch-amerikanische Regisseurin, Drehbuchautorin, Produzentin und Schauspielerin. Sie wuchs im ländlichen Ohio auf und verbrachte die Sommer oft in Jordanien, der Heimat ihrer Mutter. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Rassismus während des Golfkr…

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