Magazin
Die Welt der guten Menschen in schlechten Zeiten
Kleber Mendonça Filho präsentiert uns mit «The Secret Agent» einen fesselnden Politthriller in ästhetischer Brillanz, der in den späten Siebzigern während der letzten Jahre des brasilianischen Militärregimes spielt, mit einem umwerfenden Wagner Moura in der Hauptrolle.
In einem gelben VW-Käfer sitzt ein Mann in den Vierzigern. Als ihm das Benzin ausgeht, hält er an einer Tankstelle und bemerkt eine Leiche, die da in der Sonne brütet, wo sie offenbar schon einige Tage ausharrt. Niemand scheint sich gross um sie zu kümmern – ein Dieb, der kurzerhand niedergestreckt wurde, inmitten der Karnevalfestlichkeiten und -verrücktheiten, die das Land in Bann halten. Kurz darauf kreuzt auch die Polizei am Ort des Verbrechens auf. Doch statt sich der offensichtlichen Gewalttat zu widmen, nehmen sie den Feuerlöscher des Käfers eingehend unter die Lupe. Und schon wissen wir, dass wir uns hier nicht in einem Rechtsstaat befinden. Der tote Mann interessiert sie nicht – eine kleine Spende wäre ihnen lieber. Mit den Zigaretten des Fahrers Marcelo geben sie sich auch zufrieden, es ist das Einzige, was er zu bieten hat.
Und immer wieder: Recife
Marcelo ist auf dem Weg nach Recife, dem Geburtsort von Regisseur Kleber Mendonça Filho, dem er schon mehrere filmische Oden gewidmet hat: Mit Aquarius (2016) etwa, als die alternde Clara um ihre Wohnung kämpft, die eine Immobilienfirma ihr wegnehmen möchte, oder in Retratos Fantasmas (Pictures of Ghosts, 2023), einer Kartografie eben jener Stadt und einer nostalgischen Hommage an die Kinosäle, die im 20. Jahrhundert als Ort der Geselligkeit, Hoffnungen und Emotionen fungierten.
Dieses Mal ist es der kleine Sohn von Marcelo, der das Geschehen an die Atlantikküste im Nordosten Brasiliens verlegt. Der wohnt hier bei seinen Grosseltern, nachdem seine Mutter unter mysteriösen Umständen verstorben und sein Vater untergetaucht ist. Die Rückkehr des Schwiegersohns nimmt der Oma «das letzte Stück Frieden», und spätestens damit löst Kleber die Frage danach auf, was es mit dem plötzlichen Auftauchen Marcelos auf sich hat: Er ist nicht hier, um zu bleiben; gemeinsam mit seinem kleinen Sohn Fernando möchte er das Land verlassen. Einfacher gesagt, als getan, denn ihn verfolgen von einem korrupten Beamten angeheuerte Auftragskiller, die wir in flagranti bei ihrem vorherigen Auftrag kennenlernen. Da entsorgen sie eine Dame im Meer, wo es bekannterweise auch den einen oder anderen Hai gibt.
Stammgast in Cannes
Es ist bereits das dritte Mal, dass Kleber mit einem Film am Festival von Cannes, in diesem beliebtesten aller Wettbewerbe, vertreten ist. Dort ist es Usus, dass an der Preisverleihung möglichst viele Filme zum Zug kommen; somit wird selten ein Film mit zwei Preisen bedacht. Anders dieses Jahr, wo sich die Jury offensichtlich schwer tat, zwischen It Was Just an Accident (Jafar Panahi) und The Secret Agent zu entscheiden. Das Rennen um die Goldene Palme machte der Iraner, Kleber gewann dafür hochverdient neben dem Preis für die Beste Regie auch denjenigen für den Besten Darsteller – Wagner Moura –, für den er die Rolle des Marcelo eigens geschrieben hat und der hier nach mehreren Jahren in US-amerikanischen Produktionen seine Rückkehr nach Brasilien feiert. Eine bessere Performance als Moura (bekannt aus der Serie Narcos, in der er den «König des Kokains» Pablo Escobar verkörpert) lieferte dieses Jahr in Cannes vielleicht nur Tânia Maria ab, welche hier in einer Nebenrolle die umwerfende Dona Sebastiana verkörpert, eine Frau, die ihresgleichen im Kino sucht, und nicht nur dort: Wenn es mehr Menschen wie Dona Sebastiana gäbe, wäre die Welt ein besserer Ort. Bei ihr findet Marcelo Unterschlupf, in einem Safe House, in dem Marcelo in guter Gemeinschaft ist: Alle finden hier Zuflucht, die in der Gesellschaft oder der Diktatur keinen Platz haben, sei dies ein für damalige Zeiten zu weiblich gelesener Jugendlicher, ein regimekritisches Paar aus Angola bis hin zu einer siamesischen Katze. Letztere bildet nur eines von vielen Elementen, die Kleber geschickt in den Film einwebt und ihm damit eine erste Note des Fantastischen verleiht. Weitere werden folgen. Mit viel Geduld und Sorgfalt entspinnt Kleber Mendonça Filho ein Geflecht aus Charakteren, die vordergründig ihren alltäglichen Tätigkeiten nachgehen, währenddem sie in Wirklichkeit um ihr Leben fürchten.
Korrupter geht's nicht
Marcelo seinerseits lebt zwar das Leben eines Geheimagenten, doch ein solcher ist er eigentlich gar nicht: Er ist nicht ausgesprochen politisch und somit kein Dissident, doch wegen seiner ehemals leitenden Stelle in einer Universitätsabteilung, die aus Gründen der Korruption aufgelöst wurde, sieht er sich nun gezwungen, mit seinem Sohn aus Brasilien zu verschwinden, wenn ihm sein Leben lieb und teuer ist. Kaum eine Szene in diesem Film ist nicht von Korruption durchtränkt, das Geld wechselt schneller die Hände, als wir zusehen können. Den titelgebenden Geheimagenten könnten gleich mehrere Protagonist:innen geben, und: Marcelos Schwiegervater betreibt ein Kino, in dem unter anderem Jean-Paul Belmondo in Le Magnifique aufläuft, der im Trailer als «The Secret Agent» bezeichnet wird – hiermit wären wir beim Titel. Neben berühmten Horrorfilmen jener Periode wie The Omen, die der Schwiegervater projiziert und die der Karnevalstimmung noch einen draufgeben, geniesst Der weisse Hai gerade einen Rerun, ein Film, den Marcelos minderjähriger Sohn unbedingt sehen möchte und der ihm gleichzeitig zahlreiche Albträume beschert.
Das Erbe der Vergangenheit
Die Militärdiktatur in Brasilien (1964–1985) ist seit jeher öfters Thema des brasilianischen Filmschaffens (ähnlich wie in Argentinien), jüngstes Beispiel ist der oscargekrönte I’m Still Here des legendären Regisseurs Walter Salles (Central Station), der eine Familie porträtiert, deren Mutter ihr Leben lang gegen das Vergessen des verschwundenen Vaters kämpft. Wegen eines Amnestiegesetzes können die Verbrechen der brasilianischen Militärdiktatur bis heute nicht juristisch verfolgt werden. Daran knüpft The Secret Agent an, wenn er den Bogen zum Heute spannt, in dem eine Gruppe von Student:innen alte Tapes abhört und versucht, dem damaligen Geschehen auf den Grund zu gehen. Gemein ist den beiden Filmen das Klima der Angst und Repression, der Ungewissheit, wenn neue Figuren eingeführt werden: Wer ist hier Freund, und wer Feind? Damit halten sie stets eine grosse Spannung aufrecht. Im Gegensatz zu I’m Still Here geht es Kleber Mendonça Filho aber gar nicht so sehr um Wahrheitsfindung. Vielmehr entwirft er ein Netz der Solidarität, das sowohl dem Film als auch den Menschen die Hoffnung schenkt, dass es einen Ausweg gibt. Die zentrale Figur dieses Netzwerks ist Elza, die wir in einer Schlüsselszene in perfekter Inszenierung relativ spät im Film kennenlernen werden. Sie könnte Marcelo, der in Wirklichkeit Armando heisst, die benötigten gefälschten Pässe zur Ausreise verschaffen. Doch je länger der Film, desto enger zieht sich das Seil um Armandos Hals: Seine Bekannten verschaffen ihm einen Job, ironischerweise an der Stelle, wo IDs ausgestellt werden. Kurz darauf kommt es zum Showdown.
ZurĂĽck in die 70er
Kleber zog beim Schreiben seiner Figuren alle Register und entwarf höchst pointierte, mit viel Witz und Biss versehene Protagonist:innen, die diesen hochstilisierten Thriller perfekt zu beleben wissen, inklusive eines genussvollen Gastauftritts von Udo Kier, dem Kleber bereits in Bacurau eine Rolle widmete. Das schillernde Drama des brasilianischen Regisseurs enthüllt ein überraschendes Unterstützungsnetzwerk im Untergrund, das während der Diktatur des Landes funktionierte, als Menschenleben als entbehrlich galten.
Mit jedem weiteren Film vertieft Kleber Mendonça Filho seine kritische Analyse der Machtdynamik und der sozialen Ungleichheiten, die sein Land spalteten und es weiterhin tun. Kleber arbeitet gerne mit filmischen Codes. Ob sozialer Realismus (Aquarius), Genrekino (Bacurau) oder Dokumentarfilm (Retratos Fantasmas), sein Werk verschreibt sich klar einer visuell-ästhetischen Linie, der er auch in seinem neusten Film treu bleibt: Hier handelt es sich um einen Epochenfilm, angesiedelt im Jahr 1977, und nicht nur Dekor (Telefonzellen im Vintage-Stil) und Kostüme (Shorts und Schlaghosen) werfen uns zurück in jene Periode: Auch die Kameraführung und Schnitttechniken verschreiben sich ganz dieser Zeit, wie etwa die Verwendung des Split Screens oder der Wischblende beim Übergang von einer Szene in die nächste. Kommt dazu, dass das Ganze während der Karnevalszeit angesiedelt ist und die Menschen da in Brasilien seit jeher «verrückt» spielen. Die farbenfrohe, lebendige Kulisse, deren Musik und Tanz The Secret Agent viel Dynamik verleiht, kontrastiert zum Ernst der Handlung, was die tragische Wirkung verstärkt.
Die Logik einer jeden Gesellschaft ist für mich ein faszinierendes Thema. Wir halten diese Logik für selbstverständlich, aber jedes Mal, wenn wir reisen, müssen wir uns damit auseinandersetzen.
Kleber Mendonça Filho
Das haarige Bein schlägt zu
«91 Tote zu Karneval», titeln die Zeitungen – und das ist erst der Anfang. Denn als bei der Obduktion eines gestrandeten Hais ein menschliches Bein aus dessen Magen gezogen wird (Pech für die Auftragskiller und den korrupten Lokalcop), wird es langsam unheimlich: Währenddem der Cop versucht, die Überreste der Dame ein zweites Mal zu entsorgen, spielt die Lokalpresse verrückt. Diese brillante Vermischung einer echten urbanen Legende, eines Korruptions-Fiaskos und eines Stücks Filmgeschichte sorgt für den komischen Unterton, der sich durch den Film zieht. Ursprünglich als Scherzgeschichte erfunden, wurde das «Perna cabeluda» (haariges Bein) in den 70ern in Recife rasch aufgegriffen und durch Radio und Zeitungen verbreitet, weil die Zensur der Militärdiktatur solche «harmlosen Horrorgeschichten» zuliess, während politische Themen blockiert wurden. Das Bein steht stellvertretend für die «Langhaarigen», mit welchen Kommunist:innen, Hippies und die queere Community gemeint waren, die dem Regime ein Dorn im Auge waren. Und wie in der urbanen Legende nimmt es auch bei Mendonça ein Eigenleben an und treibt es dabei ziemlich bunt. Das alles mag nun nach ganz schön viel klingen, doch Mendonça schafft es, diese fantastischen Elemente ungemein natürlich in seine Erzählung einzuweben und sie zur Kulisse zu machen, vor der sich das eigentliche Geschehen abspielt, wobei er sich viel Zeit für die Entwicklung der Dramaturgie lässt. Die internationale Filmkritik verlieh ihm einen Preis in Cannes mit der Begründung: «Wir haben uns für einen Film entschieden, der eine epische Grosszügigkeit besitzt; einen Film, der Abschweifungen, Ablenkungen, Humor und Charaktere zulässt, um eine Zeit und einen Ort sowie eine reiche, seltsame und zutiefst beunruhigende Geschichte von Korruption und Unterdrückung zu evozieren. Ein Film, der seine eigenen Regeln aufstellt, der persönlich, und doch universell ist, der sich Zeit nimmt und das Publikum in eine Welt eintauchen lässt – die Welt des vom Militär regierten Brasiliens im Jahr 1977 und die Welt der guten Menschen in schlechten Zeiten.»
Ja, wir sind hier weit weg vom schnell getakteten, Gänsehaut erregenden Thriller, aber die Spannung wird konstant aufrechterhalten und am Ende kommt die Wendung so überraschend, dass wir zweimal blinzeln müssen. Wer schliesslich in den Fangzähnen der Haie landet, das sei hier nicht vorweggenommen. Nur so viel:
Am Schluss gibt es ein – überraschendes – Wiedersehen mit Wagner Moura, an dem Ort, an dem der junge Fernando endlich Der weisse Hai sehen durfte und sich damit auch seiner Albträume entledigte.
Kleber Mendonça Filho:
Kleber Mendonça Filho, 1968 in Recife (Brasilien) geboren, studierte Journalismus, war viele Jahre als Filmkritiker tätig und ist heute künstlerischer Leiter des Janela Internacional de Cinema do Recife und leitender Kurator für Film am Instituto Moreira Salles. Als Regisseur machte erst sich erstm…
The Secret Agent
Artikel veröffentlicht: 10. November 2025
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