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Ein Thriller von unheimlicher Dichte
Auf der Suche nach seiner verschwundenen Mutter findet sich der junge Emiliano bei den Aldamas wieder, einer Familie von Stars und Künstlern. Amat Escalantes jüngster Spielfilm feierte in Cannes Premiere und besticht durch thematische Vielfalt wie durch formale Fülle: «Perdidos en la noche» befasst sich mit der weit verbreiteten Korruption, den Entgleisungen von Sekten, der Kunstwelt und sozialer Netzwerke – und bildet damit eine breite Palette der lateinamerikanischen Filmproduktion ab.
Die breite Öffentlichkeit bringt das mexikanische Kino mit den sentimentalen Melodramen der Telenovelas oder sogar den komödiantischen «Rancheras» in Verbindung, die das Landleben besingen. Am Rande dieser gigantischen und populären Fernsehproduktion zeichnen sich zwei Wellen unabhängigen Kinos ab. Die erste ging aus den Filmclubs der 1960er bis 1980er Jahre hervor. Die zweite, zeitgenössische Bewegung umfasst einerseits Filmemacher wie Alfonso Cuarón und Alejandro González Iñárritu, die nach Hollywood übersiedelten, anderseits Autorenfilmer wie Amat Escalante oder Carlos Reygadas, die ihre Projekte mit wenig Geld vor Ort realisieren. Zu Letzteren sind auch Fernanda Valadez (Sin señas particulares), Lila Avilés (Tótem) und die aus Nicaragua eingewanderte Laura Baumeister (La hija de todas las rabias) zu zählen, deren Filme von trigon-film verliehen werden.
Der Autodidakt Amat Escalante stammt aus der früheren Minenstadt Guanajuato, die für ihre Mumienfunde bekannt ist. Er begann schon mit 15 Jahren im Filmgeschäft zu arbeiten, zuerst als Assistent bei Carlos Reygadas, dem Autor des verrückten Post Tenebras Lux, der ihn dabei unterstützte, seinen ersten und sogleich am Filmfestival Cannes gezeigten Spielfilm Sangre zu produzieren. Die schwarze, intime, absurde und minimalistische Komödie beschreibt den Alltag eines Beamten und seiner Frau, die für eine Fastfood-Kette tätig ist. Drei Jahre später legte Escalante Los Bastardos vor, der in Los Angeles spielt und ebenso problemlos den Weg an die Côte d’Azur fand. Ein blutiger Film über illegale mexikanische Arbeiter, die dazu übergehen, ihre Werkzeuge gegen abgesägte Gewehre einzutauschen. 2013 folgte der erschütternde und diesmal in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnete Heli, ein düsteres Werk, das in der Drogenhölle angesiedelt ist und den Zerfall des mexikanischen Staates zeigt.
Angestachelt von den Ungerechtigkeiten dieser Welt, zeugen Escalantes durchwegs mit Laien gedrehte Spielfilme vom Bewusstsein eines anspruchsvollen Filmemachers, der gesellschaftliche Risse und entwürdigende politische Zustände frontal aufzeigt und zuweilen gewaltvoll inszeniert. Nach dem grossartigen Familiendrama La región salvaje stellt er sein Engagement mit Perdidos en la noche erneut unter Beweis. Einerseits fächert er die Herausforderungen auf, mit denen die mexikanische Gesellschaft konfrontiert ist: Kartelle, Korruption, Klassenunterschiede, Sekten und Entführungen, anderseits fängt er die verschiedenen Strömungen der aktuellen mexikanischen Filmproduktion ein, die sich zwischen Telenovela, Starsystem, Reality Show und sozialen Medien bewegt. Angesichts dieser herausfordernden Umstände wirft er auch die Frage nach der Position der Kunstschaffenden auf.
Auf der Suche nach Vergeltung
Seinen fünften Spielfilm hat der passionierte Amat Escalante einmal mehr in seiner Heimatstadt Guanajuato im Nordwesten von Mexiko gedreht. Fast all seine Filme sind dort angesiedelt, und es macht hier doppelt Sinn, weil Escalante auf die Verwerfungen der Bergbauindustrie eingeht und zudem mit einem klugen Winkelzug, der hier nicht verraten sein soll, auch an die einschneidende Tragödie der 43 verschleppten Studenten im Jahr 2014 erinnert, die noch immer Gegenstand von Untersuchungen ist.
Escalante führt uns gleich zu Beginn mit leisem Sarkasmus zum Haus der Familie Aldama, einem modernen architektonischen Wurf, der abgeschirmt vom umgebenden Elend idyllisch am Ufer eines grossen Sees liegt. Bewohnt wird es von Carmen, einem egozentrischen Telenovela-Star der absteigenden Sorte, ihrer Tochter und ambivalenten Instagrammerin Mónica sowie ihrem Partner Rigoberto, seines Zeichens spanischer Bildhauer und ausgewachsener Zyniker mit ebensolchem Ruf.
Nicht weit entfernt davon macht dem jungen Emiliano das Verschwinden seiner Mutter zu schaffen. Die Umweltaktivistin hatte sich mit einem der lokalen Bergbauunternehmen angelegt und wird seit Tagen vermisst. Von der Polizei und der Justiz im Stich gelassen, begibt sich der Jugendliche zusammen mit seiner Freundin Jazmin selbst auf Spurensuche und das Drama, das auch in einen Rachefeldzug münden könnte, nimmt bei den Aldamas seinen Lauf.
Von Klassen und Kunst
Vor dem Hintergrund dieser Handlung beschreibt Amat Escalante zunächst Polizeigewalt und mafiöse Strukturen in einer Sequenz, die an die Handlung von Heli anknüpft, der den Drogenhandel und die Kollusion zwischen der Polizei und den Privilegierten ins Zentrum stellt. Der Filmemacher geht aber einen Schritt weiter, indem er hier soziale Schichten zusammenbringt, die normalerweise nicht miteinander in Berührung kommen: Emiliano und Jazmin sind einfache Jugendliche aus dem Dorf, während die Aldamas zu einer privilegierten und realitätsfernen Elite gehören.
Er spricht damit Gefälle und Diskriminierung an, die auf den Kolonialismus zurückgehen und deren Wurzeln tief im Land verankert sind. Damit wirft er gleichzeitig die Frage auf, welchen Platz und Gesichtspunkt der Künstler oder die Künstlerin in der Gesellschaft einnehmen, und veranschaulicht dies mit einem originellen Einfall: Der Bildhauer versucht, seine Schuld und die Verbrechen, die er vor seinen Augen geschehen lässt, in der Kunst zu sublimieren, indem er nicht davor zurückschreckt, die Leichen der Opfer in seine Plastiken einzubeziehen.
Heimtückische Entfremdung
Nach und nach entfaltet der Film seine thematische Dichte: Die Bedeutungsebenen überlagern sich und die Erzählung schreitet mit den Entdeckungen des jungen Emiliano voran. Seine Suche nach Vergeltung dockt an das Genre des mexikanischen Kriminalfilms an, das seinerseits inspiriert ist vom Nachbarn im Norden. Über die charmante Instagrammerin führt der Filmemacher den Einfluss und die schleichende Entfremdung durch die sozialen Netzwerke vor Augen. Ihre Mutter deckt als Star einer Telenovela zudem eine ganze Industrie ab, die die Menschen zum Träumen bringen soll, während der Besuch bei einer evangelischen Sekte ein höchst akutes Problem aufgreift. In Mexiko wie anderswo in Amerika scheint ihr ungebremster Aufstieg an einem Punkt angelangt zu sein, an dem es kein Zurück mehr gibt.
Ob der Straflosigkeit und Heuchelei des korrupten und chauvinistischen Bürgertums an den Hebeln der Macht macht sich zunehmend ein ungutes Gefühl breit. Dessen von lähmender Überheblichkeit geprägte Launen liefern immer wieder Stoff für Thriller. Dass der Film trotz allem nicht pessimistisch wirkt, liegt daran, dass die Auflösung des Verbrechens von einer Jugend vorangetrieben wird, die mit ihrem Durchhaltevermögen und Scharfsinn eine Quelle der Hoffnung darstellt.
Formale Meisterschaft
Die Überlagerung der Themenvielfalt greift wunderbar ineinander, weil es dem Filmemacher gelingt, jedes Motiv über eine kluge Inszenierung einzuführen, die er formal perfekt umsetzt. Dies zeigt sich vor allem in der Gegenüberstellung von Räumen, die er in Cinemascope filmt: von der Seelandschaft über die Baracken von Jazmin oder Emiliano bis hin zu den Innenräumen der modernen Villa, bei Tag oder bei Nacht und manchmal auf Strassen, die sich durch eine trostlos und endlos wirkende Gegend ziehen. So kann Escalante Kontraste spiegeln und ohne Worte elegante Übergänge schaffen.
Wir sehen, wie sich arme, bis an die Zähne bewaffnete Jungs in eine staubige Umgebung auf eine Strafexpedition begeben, während die reiche Carmen und ihre Tochter Mónica auf einem Vergnügungsschiff bei strahlendem Sonnenschein einen Cocktail schlürfen. Über diese Bilder behält das Filmerlebnis, das sowohl sinnlich als auch authentisch ist, die Oberhand über die Erzählung, was sich als eigentliches Markenzeichen des zutiefst ethischen Regisseurs herauskristallisiert hat. Er verfolgt stets einen naturalistischen und gleichzeitig manieristischen Ansatz – was man generell als ein Merkmal des lateinamerikanischen Kinos sehen kann –, indem er beispielsweise mit Laien arbeitet, die aus den Milieus stammen, in denen seine Filme spielen.
Hoffnung und Gerechtigkeit
Im Fall von Perdidos en la noche meistert Amat Escalante diese ethische Hürde auf andere Weise. Er zählt diesmal auf professionelle Schauspieler:innen, die jedoch aus Kreisen stammen, die ihren Figuren nahestehen. Als Emiliano trägt Juan Daniel García Treviño, dessen Vater Drogenhändler war, seinen Durst nach Gerechtigkeit mit Würde in sich. Die Figur des verblassenden Fernsehstars Carmen verkörpert Bárbara Mori, die 1998 «Die Telenovela-Entdeckung des Jahres» war. In der Rolle ihrer Tochter Mónica ist Ester Expósito zu sehen, eine spanische Schauspielerin und ein Model, deren Instagram-Account im «echten» Leben 26 Millionen Followers hat.
Diese geschickte Wahl und die unfehlbaren Zutaten gerinnen zu einem ergreifenden Film, der weit über eine Kriminalgeschichte und Sozialkritik hinausgeht. Perdidos en la noche ist eine komplexe und nuancierte Darstellung der zahlreichen Reibungsflächen, die für Mexiko und seine Filmwelt symptomatisch sind. Gleichzeitig stösst Escalante eine Türe auf, durch die Hoffnung schimmert: der kranken, bigotten, gewalttätigen Welt der Erwachsenen stellt er eine Jugend mit Sinn für Gerechtigkeit entgegen.
Amat Escalante:
Amat Escalante, geboren 1979, ist in Guanajuato aufgewachsen, einer alten mexikanischen Bergbaustadt, die für ihren aussergewöhnlichen Mumienfund bekannt ist. Schon mit 15 Jahren begann der Autodidakt im Filmgeschäft zu arbeiten. Zunächst war er Assistent von Carlos Reygadas, dem Autor von Post Ten…
Perdidos en la noche
Artikel veröffentlicht: 26. Februar 2024