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Filmbesprechung

Filmische Verbeugung

Lee Sang-ils tief in der Tradition japanischer Bühnenkünste verwurzelter Film ist in Japan der Überraschungshit der Saison und löst derzeit sogar einen veritablen Kabuki-Hype aus. Ein Japanologe und Filmwissenschaftler ordnet den Film für uns ein und gibt Hintergründe zur Theaterform des Kabuki.

Die wirklich wilden Zeiten des Kabuki sind bereits vorbei, wenn der Film einsetzt. Die Ursprünge der Kunstform reichen zurück ins frühe 17. Jahrhundert; als Gründerin gilt die Tempeldame Izumo no Okuni, die mit einer zunächst komplett weiblichen Truppe kurze Tanz- und Pantomime-Nummern aufführte. Von älteren japanischen Bühnenkünsten wie insbesondere dem Nō-Theater unterschied sich Kabuki von Anfang an deutlich. Zum einen in künstlerischer Hinsicht: Wo Nō eine starre, hochgradig konventionalisierte Formsprache kultivierte, setzte das Kabuki auf komische und auch erotische Schauwerte sowie auf exaltierte Kostümierung. Zum anderen hatte Kabuki eine komplett andere Zielgruppe im Blick: Während Nō stets eine Kunst der Aristokratie blieb, adressierte die jüngere Kunstform ein weitaus diverseres Publikum – tatsächlich waren viele frühe Kabuki-Theater in Rotlichtvierteln angesiedelt, die Welt des Schauspiels und die der Sexarbeit waren keineswegs strikt getrennt. Auch die berüchtigten Gangsterclans der Yakuza blühten im Umfeld der Kabuki-Spielstätten auf.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Frauen werden von der Bühne verbannt

Das änderte sich zunächst auch nicht, als das Shogunat 1629 Frauen per Dekret von allen Kabuki-Bühnen verbannte. In der Folge wurden die weiblichen Rollen von Männern übernommen – und die sogenannten onnagata, Männer, die auf Frauenrollen spezialisiert waren, wurden zu den grössten Stars des Kabuki. Wie überhaupt alle Versuche der Obrigkeit, das moralisch fragwürdige und einer Vermischung unterschiedlicher Gesellschaftsschichten Vorschub leistende Kabuki zu schwächen, der zunehmenden Popularität der Kunstform nichts anhaben konnten. Bis zum Ende des Edo-Shogunats im Jahr 1868 hatte sich eine in ihren Grundzügen bis heute gültige Formsprache etabliert. Auch die populärsten Kabuki-Stücke entstammen fast ausnahmslos der Edo-Zeit, wie unter anderem Liebestod in Sonezaki, ein Liebesdrama, das im Film Kokuho - The Master of Kabuki eine ausserordentlich wichtige Rolle spielt.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Weg von der Anrüchigkeit

Beginnend mit der Öffnung Japans zum Westen während der Meiji-Restauration im späten 19. Jahrhundert und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg, kappte das Kabuki die Verbindungen zu den Sphären der Sexarbeit und des organisierten Verbrechens. Heute zählt Kabuki zum respektablen kulturellen Erbe Japans und wird vor allem für seine überbordend fantasievollen Kostümierungen und den lebhaften, melodramatischen Schauspielstil gefeiert. Dennoch ragt die anrüchige Vergangenheit des Kabuki auch in Kokuho - The Master of Kabuki hinein, einen Film, dessen Handlung im Jahr 1964 einsetzt: Kikuo Tachibana, ein theaterbegeisterter Rumtreiber, trägt auf seinem Rücken eine ausladende Tätowierung – damals ein unmissverständliches Zeichen für die Zugehörigkeit zu einem Yakuza-Clan. Tatsächlich ist Kikuos Vater ein Gangsterboss, der in einer Szene früh im Film im Zuge eines Bandenkriegs stirbt – erst im Anschluss erhält sein Sohn Zugang zur Welt des populären Theaters: der berühmte Kabuki-Schauspieler Hanai Hanshiro II (gespielt vom legendären Ken Watanabe) nimmt ihn als seinen Schüler auf.

Für mich ist das Interessante an Kabuki die Geschichte der Schauspieler, die es auf die Bühne geschafft haben. Diese Geschichten handeln von familiären Bindungen und Abstammung, von der Weitergabe des Erbes vom Vater an den Sohn. Es ist ein reichhaltiges Thema, und es gab keinen Kabuki-Film, der sich darauf konzentrierte. Ich wollte mich daran versuchen.

Lee Sang-il, Regisseur

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Kein Business für Quereinsteiger

Schnell wird freilich klar, dass sich die Kabuki-Welt noch längst nicht ganz von ihren vormodernen Wurzeln gelöst hat. Kabuki ist auch im Japan der Nachkriegszeit noch vor allem ein Familiengeschäft, Kabuki-Hauptrollen und auch die zugehörigen teuren Kostüme werden im Allgemeinen vom Vater an den Sohn vererbt. Für einen «Quereinsteiger» wie Kikuo heisst das in der Theorie: Ganz nach oben wird er es nicht schaffen. Doch schon das Glänzen in seinen Augen bei den ersten Blicken auf die Kabuki-Bühne deutet an, dass diesmal alles anders sein wird. Das Problem allerdings: Hanai Hanshiro hat auch einen leiblichen Sohn, nämlich Shunsuke Ōgaki. Dass Kikuo und Shunsuke in ihrer Jugend unzertrennlich sind und sich auf der Bühne gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln, macht die Sache nicht einfacher. Im Gegenteil.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Liebestod in Sonezaki

Im Weiteren rückt immer mehr ein einzelnes Kabuki-Werk ins Zentrum der Handlung: Das von Chikamatsu Monzaemon verfasste japanische Bühnenstück «Liebestod in Sonezaki» aus dem frühen 18. Jahrhundert handelt von einer Liebe, die in dieser Welt keine Erfüllung finden kann. Tokubei liebt Ohatsu und Ohatsu liebt Tokubei, der jedoch auf Betreiben seines Onkels einer anderen versprochen wird. Der Verrat eines Freundes führt schliesslich dazu, dass den beiden Hauptfiguren kein anderer Ausweg als der gemeinsame Selbstmord bleibt.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

In einer Schlüsselszene kauert Tokubei unter einer Bank vor Ohatsu, die ihrerseits mit dem Verräter spricht. Da Tokubei seine Anwesenheit nicht verraten darf, kommunizieren die beiden Liebenden nur über Hand- und Fussbewegungen. Nachdem Ohatsu fragend ihren nackten Fuss in Richtung Tokubei ausstreckt, zieht Tokubei sich Ohatsus Fessel sanft über die eigene Kehle. Damit, erkennt sie sofort, ist das Schicksal der beiden besiegelt. Er hat in ihren Todeswunsch eingewilligt. Ein denkwürdiger Moment ist das, weil in Tokubeis Geste Begehren und Tod unmittelbar ineinander übergehen. Ausgerechnet der Entschluss zum gemeinsamen Selbstmord ermöglicht den beiden eine Ahnung jener körperlichen Intimität, die ihnen im Leben auf immer verwehrt bleiben wird.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

«Liebestod in Sonezaki», zunächst als Musiktheaterstück (japanisch «Jōruri») konzipiert, bald aber auch für die Kabuki-Bühne adaptiert, war von Anfang an ein Riesenerfolg. Wobei die Begeisterung des Publikums gelegentlich ungesunde Blüten trieb: Gleich im ersten Jahr nach der Erstaufführung wählten sich, heisst es, siebzehn Paare Tokubei und Ohatsu zum Vorbild und gingen gemeinsam in den Freitod.

Alle Versuche der Obrigkeit, das moralisch fragwürdige und einer Vermischung unterschiedlicher Gesellschaften Vorschub leistende Kabuki zu schwächen, konnten der zunehmenden Popularität der Kunstform nichts anhaben.

Lukas Förster, Japanologe

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Mega-Erfolg an den heimischen Kinokassen

Gar so gründlich, steht zumindest zu hoffen, werden sich die Fans des Films Kokuho - The Master of Kabuki nicht mit den beiden unglücklichen Liebenden identifizieren. Zu einem kulturellen Phänomen ist die neue Regiearbeit Lee Sang-ils, die auf den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen von Cannes in der Sektion Quinzaine des cinéastes Premiere feierte, freilich gleichfalls geworden. Der Film über die ineinander verflochtenen Karrieren zweier Kabuki-Schauspieler avancierte am japanischen Box Office zum Dauerbrenner und ist inzwischen der erfolgreichste einheimische Realfilm aller Zeiten. Mehr noch: Erste Daten legen nahe, dass der Film auch eine veritable Kabuki-Renaissance auslösen könnte.

Umso erstaunlicher ist das, als Kokuho - The Master of Kabuki kein bisschen den Versuch unternimmt, die mehrere Jahrhunderte alte Kunst mit modernen Sehgewohnheiten zu vermitteln. Lee Sang-il hat gerade keine hippe neue Sonezaki-Adaption, zum Beispiel in Manga-Optik, gedreht, sondern ein elegantes, episches Charakterdrama, in dem sich die Geschichte von Tokubei und Ohatsu auf komplexe Weise in den Lebensläufen zweier Schauspieler bricht: Über mehrere Jahrzehnte hinweg stehen Kikuo und Shunsuke gemeinsam auf der Bühne, mal spielt Kikuo Tokubei und Shunsuke Ohatsu und mal andersrum. Der gemeinsame Liebestod ist für die beiden keine Option, und doch geraten sie immer mehr in den Bann der berühmten Rollen, die sie verkörpern.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»

Die Begegung zweier Künste

Gleichzeitig ist der Film, der auf einem Roman Shuichi Yoshidas basiert, eine filmische Verbeugung vor der Kunst des Kabuki selbst. Geduldig und mit viel Liebe für szenische und gestische Details, aber auch mit einem Auge für die Sorgfalt, die in das exaltierte Kabuki-Makeup einfliesst, stellt Lee Sang-il eine ganze Reihe von Kabuki-Performances und auch – teils knochenharte – Proben nach. Zum Selbstzweck verkommen solche Passagen freilich nie, vielmehr gelingt es dem Regisseur immer wieder, durch geschickte Parallelmontagen das Bühnengeschehen mit der Erzählgegenwart um Kikuo und Shunsuke zu verknüpfen. Insofern ist Kokuho - The Master of Kabuki der Idealfall einer Begegnung zweier Künste, die sich nicht gegenseitig erdrücken, sondern einander in respektvoller Manier zur Geltung bringen. Kino und Kabuki verbinden sich in Lee Sang-ils Film zu etwas Eigenem, Drittem. Dass das Ergebnis auch noch ein grosses Publikum begeistert, ist ein kleines Wunder.

Filmstill «Kokuho - The Master of Kabuki»
portrait Lee Sang-il

Lee Sang-il:

Lee Sang-il, geboren 1974, ist ein japanischer Regisseur und Drehbuchautor koreanischer Abstammung. Er studierte am Japan Institute of the Moving Image, einer von Shōhei Imamura (Narayama Bushiko – Imamura) gegründeten Filmschule. Im Jahr 2000 fand sein Abschlussfilm Chong breite Beachtung. Seitdem…

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