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Im Bann einer andern Welt
In Iyi verehren die Menschen die Gottheit Mami Wata und suchen Rat bei Mama Efe, ihrer Priesterin auf Erden. Als Zweifel an Mama Efes KrĂ€ften auftauchen, kĂ€mpfen ihre Töchter Prisca und Zinwe fĂŒr den Zusammenhalt im Dorf. Regisseur C.J. Obasi lĂ€sst sich von den Mythen des afrikanischen Kontinents inspirieren, um von den Herausforderungen im Heute zu erzĂ€hlen. Er verzaubert uns mit einem magischen Kinoerlebnis. In erhabenem Schwarzweiss gestaltet, sticht der Film aus den ohnehin schon erstaunlichen Produktionen Nigerias heraus.
Mit Mami Wata legt C.J. Obasi einen Film vor, der traditionelle Glaubensvorstellungen aufleben lĂ€sst und die Herausforderungen beschreibt, mit denen weitgehend der ganze afrikanische Kontinent konfrontiert ist. Der nigerianische Regisseur ist auch unter dem Namen «Fiery» oder «The Fiery One» (der Feurige) bekannt und drehte in seinen AnfĂ€ngen Genrefilme von bescheidenem Budget. In Ojuju, seinem ersten Spielfilm aus dem Jahr 2014, thematisierte er das Drama um den Zugang zu sauberem Trinkwasser und verwandelte die Bevölkerung eines Slums in Lagos, die aus einem infizierten Fluss trinkt, in Zombies. Den zweiten Film O-Town (2015) gestaltete er in Anlehnung an verschiedene Verbrechen, die er in seinen Jugendjahren in der Kleinstadt Owerri im SĂŒdosten miterlebt hatte, als Krimi. Mit diesen Arbeiten schrieb sich der Filmemacher in die aussergewöhnliche Geschichte des nigerianischen Kinos ein.
Video in Nollywood
In Nigeria sorgte in den 1980er Jahren in erster Linie der Erfolg des Fernsehens fĂŒr frischen Wind in der Filmproduktion und schaffte den NĂ€hrboden fĂŒr die aufkeimende Kultur des Amateurvideos. Paradoxerweise beschleunigten Wirtschaftskrise und Spar- massnahmen das Wachstum: Die Unterhaltungsindustrie brach ein, die wenigen verbleibenden Spielorte wurden geschlossen und noch mehr Filme zuhause angeschaut. Mit der sich parallel entwickelnden Technologie nahm das PhĂ€nomen in den 1990er Jahren Fahrt auf, als eine wachsende Zahl von Filmen ĂŒber VHS vertrieben wurde. Das Land, dessen Kinoindustrie am Boden lag, produzierte Hunderte von Low-Budget-Filmen pro Jahr. Der Begriff «Nollywood», eine Verschmelzung aus Nigeria und Hollywood, tauchte auf und ging um die Welt.
SĂŒss duftendes Rosenwasser
Mit dem Aufkommen der Digitaltechnik gelangt der junge Wirtschaftszweig zu voller BlĂŒte. Es entstehen neue ArbeitsplĂ€tze und erkleckliche ErtrĂ€ge, so dass 2008 Hunderte von Filmen realisiert werden â pro Monat wohlverstanden! Die afrikanische Bevölkerung kann in den Filmen eine kulturelle Verbindung zu sich selber erkennen, was ihnen auslĂ€ndische Produktionen nicht bieten. Da die Filme unter prekĂ€ren Bedingungen gedreht und hauptsĂ€chlich durch den lokal ausgerichteten Vertrieb abseits internationaler KanĂ€le finanziert werden, handelt es sich zu einem grossen Teil um populĂ€re Unterhaltungsfilme, die sich am kommerziellen Kino orientieren: nach Rosenwasser duftende indische Melodramen, brasilianische Telenovelas oder brutale Actionfilme in Hongkong- Manier. Kulturelle EinflĂŒsse wie Hip-Hop, an dem sich die nigerianische Jugend labt, sind wichtig und regen die Wiederaneignung an. Trotz der vielversprechenden Entwicklung haben Filmschaffende im Arthouse-Bereich MĂŒhe, ihre Produktionen zu finanzieren. Joseph Ugochukwu stellte sich dieser Herausforderung 2010 mit Lilies of the Ghetto, der nicht zuletzt dank trigon-fillm eine grössere Verbreitung fand. Der in Nigeria produzierte und gedrehte Film beschreibt die Gewalt, welche die sich selbst ĂŒberlassene Jugend unterminiert.
Feuriger Filmemacher
Durch den Erfolg seiner ersten beiden Spielfilme und zahlreicher vor Ort finanzierter Kurzfilme erhielt der «feurige» Obasi Zugang zu Koproduktionen und Crowdfunding, um Mami Wata zu reali- sieren. Der Film ist ein SingulĂ€r in der nigerianischen Kinolandschaft, und der Regisseur schliesst damit auf seine Weise zu den Pionieren der nigerianischen Filmkunst auf. Sie mussten damals noch mehr Geduld beweisen und viele Entbehrungen in Kauf nehmen. Die erste öffentliche FilmvorfĂŒhrung fand 1903 in der britischen Kolonie statt. Die Bevölkerung wurde in der Folge mit angelsĂ€chsischen Filmen, insbesondere nordamerikanischen Western, versorgt, und es dauerte, bis sich ein echtes nationales Kino entwickelte. Erst nach dem blutigen BĂŒrgerkrieg, der auf die UnabhĂ€ngigkeitserklĂ€rung am 1. Oktober 1960 folgte, entstanden die ersten wirklich nigerianischen Filme. Sie waren insbesondere das Werk von Pionier Ola Balogun, ein grosser Dokumentarfilmer und Regisseur, der Gottheiten und MedizinmĂ€nner ins Zentrum stellte und auch bissige politische Satiren drehte.
Echo der Pioniere
Inspiriert von Hubert Ogunde, der in Nigeria als Vater des modernen Theaters gilt, war Balogun ein Vorreiter, indem er Filme in Landessprachen drehte und den kulturellen Schatz des Landes aushob, angefangen bei der yorubischen Theatertradition, die ihre Magie und ihren Mystizismus, ihre TĂ€nze und GesĂ€nge in Form von Maskenritualen aus den tiefsten Wurzeln des alten Afrikas zieht. Andere sind seinem Beispiel gefolgt, haben StĂŒcke adaptiert oder direkt mit der Bevölkerung gearbeitet. Auch aktuellere Themen wurden aufgegriffen, etwa von Eddie Ugbomah, dessen The Rise and Fall of Dr. Oyenusi auf der wahren Geschichte des AnfĂŒhrers einer Diebesbande basiert, die in den 1970er Jahren in Lagos ihr Unwesen trieb. C.J. Obasi knĂŒpft heute an diese Filmschaffenden an, wenn er die gleichnamige Gottheit als Ausgangspunkt nimmt und mit Mami Wata eine Parabel fĂŒr Nigeria und im weiteren Sinn fĂŒr ganz Afrika schafft.
Ăbergrosse Meerjungfrau
In der afrikanischen und karibischen Tradition ist Mami Wata eine Wassergöttin des Voodoo-Kults, die je nach Ethnie und Glau- ben unterschiedlich reprĂ€sentiert wird. Ihr Name verliert sich im Dunkel der Geschichte. Er könnte eine Pidgin-Abwandlung vom englischen «mommy water» sein, doch vermutet man seinen Ursprung auch in verschiedenen Dialekt-Bezeichnungen. Sie ist aussergewöhnlich, mĂ€chtig, herrisch, gefĂ€hrlich und von schillernder Schönheit. Die Gottheit mit den grossen, stechenden Augen kĂ€mmt ihr langes Haar mit einem goldenen Kamm und ziert sich mit funkelndem Schmuck. Als Wassergeist wird sie als Meerjungfrau beschrieben oder als Frau, die halb Fisch und halb Mensch ist. HĂ€ufig in Begleitung einer Schlange, die sich als Zeichen ihrer Göttlichkeit um ihren Körper windet, lĂ€sst sie Lebewesen verschwinden. Eine Menschenfresserin, die als WiedergĂ€ngerin oder Prostituierte durch die Nacht irrt und von vielen Fischern gefĂŒrchtet wird. Mami Wata kann aber auch Reichtum und GlĂŒck bescheren. Ihre AnhĂ€ngerinnen, vorwiegend Frauen, sind ihr treu ergeben. Manche dienen ihr sogar als sterbliche Avatare, die als ihre Töchter fungieren.
Mama Efe und ihre Töchter
Ausgehend von dieser beidseits des Atlantiks gefĂŒrchteten und verehrten Figur, hat C.J. Obasi ein kleines fiktives Dorf namens Iyi erschaffen. An diesem vom Ozean umgebenen und von der Welt abgeschnittenen Ort verortet der Filmemacher die Verehrung von Mami Wata neu, um uns die Geschichte von Mama Efe und ihren Töchtern Zinwe und Prisca zu erzĂ€hlen. Die Menschen im Dorf leben von ihren Pflanzungen, tragen prĂ€chtige weisse Körperbemalungen und ehren Mami Wata, die ihnen Schutz und GlĂŒck verspricht. Sie vertrauen ihren Reichtum Mama Efe an, die der Gottheit auf Erden als Vermittlerin dient. Bald soll eine der beiden Töchter in ihre Fussstapfen treten, was fĂŒr gewisse Spannungen sorgt, denn fĂŒr Zinwe ist die Tradition nicht sakrosankt und Prisca beweist eine solide eigenstĂ€ndige Denke. Jede fordert auf ihre Art die eigene UnabhĂ€ngigkeit ein. Als ein Junge im Dorf erkrankt, kommen Zweifel auf. Mama Efes KrĂ€fte und die Existenz der Gottheit per se werden in Frage gestellt, was den Appetit der Rebellen anregt, die von auswĂ€rts gekommen sind.
Walzer in Schwarzweiss
Die auf den ersten Blick einfache Struktur eines MĂ€rchens kaschiert die geschickte ErzĂ€hlweise Obasis, die sich allem voran in Ă€sthetischen Kriterien und der sehr prĂ€zisen und gewagten Insze-nierung zeigt. Der Filmemacher hat sich entschieden, durchgehend in Schwarzweiss zu drehen, und legt eine meisterliche Arbeit der Kontraste vor, obwohl sich das Geschehen meist nachts abspielt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler tragen in Anlehnung an Ornamente traditioneller Folklore weisse Körperbemalung und weissen Muschelschmuck. Mit wunderschönen Motiven geschmĂŒckt, funkeln die Figuren, insbesondere ihre Gesichter, majestĂ€tisch im Dunkel der Nacht und verleihen einer magischen und zugleich realistischen Geschichte Gestalt, die an das antike Theater erinnert. Dank des Blicks der Kamerafrau LĂlis Soares ist jede Einstellung atemberaubend schön. Die Kompositionen sind prĂ€zise, gleichen beinahe animierten Stichen. In diesem Walzer aus schwarzen und weissen Tönen symbolisiert die makellose Farbe sowohl den Tod und das gefĂŒrchtete Scheitern wie auch Schönheit, Weiblichkeit und Erneuerung. Ausserdem vermittelt C.J. Obasi ĂŒber die lebendige und ausdrucksstarke nigerianische Pidgin-Sprache eine faszinierende AuthentizitĂ€t in dem Film, sie ist begleitet vom Gesang des Meeres oder vielmehr der weissen und schwarzen Wellen, die in einer dunklen Vorahnung an die KĂŒste branden. Jede Einstellung von Mami Wata ist eine Ă€sthetische Wucht und bannt den Blick.
Die suggestive Kraft des Kinos
WĂ€hrend die Harmonie im Dorf durch Elemente und Unruhen von aussen bedroht ist, kĂ€mpfen Zinwe und Prisca darum, ihre Ge- meinschaft zu retten und sie unter den Schutz der Sirenen-Göttin Mami Wata zu stellen, obwohl sie den Kult, den sie von ihrer Mutter Mama Efe geerbt haben, gleichzeitig in Frage stellen. C.J. Obasi nutzt die suggestive Kraft des Kinos, um diesen Bruch auf brillante Weise darzustellen. Aus dem Generationenkonflikt zwischen Mutter und Töchtern zieht er eine Metapher fĂŒr die Spannungen, die sich durch das Einnisten der Moderne in einer traditionsbewussten Bevölkerung aufbauen.
In der Gewalt der MĂ€nner, die von GĂŒtern und ReichtĂŒmern angezogen werden, spiegelt er die Tragödie eines ganzen Kontinents wider, der von den BĂŒrgerkriegen und inneren Konflikten zerfres-sen wird, die noch unter der Asche der Kolonisation schwelen oder durch westlichen Imperialismus geschĂŒrt werden. Gleichermassen sind es der Einfluss und das Eingreifen der so genannten Zivilisation, die in Mami Wata den Konflikt auslösen. Aber C.J. Obasi spielt gescheit und geschickt mit den Nuancen des Paradoxons. Ăber die unterschiedlichen Blickpunkte von Zinwe und Prisca vermag er die KomplexitĂ€t der sich stĂ€ndig verĂ€ndernden Welt wiederzugeben, deren Herrschaft er starken, rebellischen und magischen Frauenfiguren anbietet, um das Wohlergehen des Volks zu sichern. Und eine so feministische Haltung in Nigeria ist keine Kleinigkeit.
C. J. «Fiery» Obasi:
C.J. Obasi, liebevoll «Fiery» oder «The Fiery One» genannt, wuchs in der Kleinstadt Owerri im SĂŒdosten Nigerias auf, wo er sich Horrorfilme aus dem Hammer House ansah und die Romane von Stephen King las. Als Kind entwickelte er ein Talent dafĂŒr, Comics zu zeichnen, die auf seinen damaligen LieblingâŠ
Mami Wata
Artikel veröffentlicht: 21. September 2023
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