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Im Käfig der korrupten Männer
Was geschieht, wenn die «Freunde und Helfer», die Verbrechen aufklären sollen, selber die Täter sind? Die Tunesierin Kaouther Ben Hania zeigt dies in ihrem Spielfilm am Beispiel einer jungen Frau, die ihre Vergewaltigung durch Polizisten der Polizei zu melden versucht. Inspiriert von einem realen Fall, legt sie den Finger damit gleich auf zwei wunde Stellen der tunesischen Gesellschaft: den Machismo, der Frauen degradiert und entrechtet, und einen Machtapparat, der die Bürgerinnen und Bürger bedroht statt beschützt.
La belle et la meute ist bereits der zweite Film, in dem sich Kaouther Ben Hania mit den kriminellen Seiten des arabischen Machismo auseinandersetzt. Dabei macht die 1977 geborene Regisseurin keine einfachen Zeigefingerfilme, sondern setzt bei der Umsetzung ihrer Stoffe auf clevere und kühne Kunstgriffe. Im Mockumentary Le challat de Tunis (2014, erschienen auf DVD und zu sehen im Streaming) rollte sie die Ereignisse um einen Motorradfahrer in Tunis auf, der es mit einem Rasiermesser auf die Hintern knapp bekleideter Frauen abgesehen hat und in manchen Männerkreisen zum Volkshelden heranwächst. Die fiktive Figur dieses «Rächers der Züchtigkeit» war eine geniale Metapher für die Schizophrenie arabischer Männer, die sich als Tugendwächter aufspielen, de facto aber mit der Anziehungskraft des andern Geschlechts so wenig umgehen können, dass sie es verteufeln müssen. Zudem trieb Ben Hania die Geschichte des «Schlitzers von Tunis» so glaubwürdig ad absurdum, dass man frühestens ab der Hälfte des Films zu erkennen begann, dass hier kein realer, sondern ein frei erfundener und entsprechend überspitzter Fall im Gewand eines Dokumentarfilms daherkam.
Schuldig als Opfer
In La belle et la meute nun verfährt die Regisseurin gerade umgekehrt: Dem Spielfilm zugrunde liegt ein realer Vorfall von 2012. Eine junge Frau in Tunis wurde von Polizisten vergewaltigt und geriet in eine kafkaeske Mühle, als sie das Delikt rapportieren wollte. Der Fall schlug in den tunesischen Medien hohe Wellen und wurde unter anderem im Buch «Coupable d’avoir été violée» (Schuldig, vergewaltigt worden zu sein) aufgerollt, das 2013 in Frankreich erschien.
Kaouther Ben Hania hat sich für ihre Bearbeitung dieser Geschehnisse unter anderem die Freiheit genommen, die Heldin jünger und damit naiver zu machen als das reale Opfer (21- statt 28-jährig) und ihr dafür einen älteren Gefährten an die Seite zu geben, der sich im Lauf der Handlung als Aktivist der tunesischen Jasminrevolution von 2011 erweist: Mariam und Youssef haben sich gerade erst auf einem Universitätsfest in Tunis kennengelernt und gehen für eine Zigarette vor die Tür, als das Unfassliche passiert. Aus einem Polizeiauto steigen ein paar Polizisten, zeigen ihre Dienstmarken, beginnen das Paar zu schikanieren, drängen den jungen Mann ab und zwingen die Frau in ihr Auto, wo sie sie zweifach vergewaltigen.
La belle et la meute ist eher ein Film über institutionelle Zwänge als über Vergewaltigung. Deshalb wird die Vergewaltigung durch Polizisten begangen – mit anderen Worten durch die jenigen, die die Monopolstellung symbolischer Gewalt in der Gesellschaft innehaben. Moderne Gesellschaften sind auf dieser Idee aufgebaut, dass Individuen durch öffentliche Bedienstete und deren Institutionen beschützt werden.
Kaouther Ben Hania
Der erste auffällige Kunstgriff Kaouther Ben Hanias bei La belle et la meute besteht darin, dass sie genau diese Szene überspringt. Dies mag mit den tunesischen Kinorealitäten zu tun haben, die eine explizite Vergewaltigungsszene kaum zulassen, zudem wohl mit Kaouther Ben Hanias Sensibilität, die ihren Figuren und dem Publikum jenes Schauspiel der expliziten Gewaltdarstellung erspart, die im westlichen Kino längst fragwürdiger Standard ist. Vor allem hat die Auslassung aber einen entscheidenden dramaturgischen Effekt: Muss Mariam in der folgenden Nacht wiederholt schildern, was passiert ist, so hören wir das so «unbelastet» von unmittelbarer Zeugenschaft, wie ihre Zuhörerinnen und Zuhörer in Spitälern und bei der Polizei. Ziehen letztere nun regelmässig in Zweifel, was die verstörte Mariam berichtet, so nehmen wir selbst dies aus der Perspektive jener war, die bei der Tat nicht zugegen waren und deshalb in einer grundlegend anderen Position sind als das Opfer der Gewalt. Klar wird dabei: Was ein Opfer erleidet, ist immer nur bedingt vermittelbar.
Zurück auf Feld eins
Was folgt, ist ein Drama in acht Akten. Ganz gleich, ob Mariam und Youssef das Geschehene in Spitälern oder auf Polizeistationen belegen und rapportieren wollen – fast durchgehend stossen sie auf Indifferenz, Angst oder auf offene Feindseligkeit und werden verwickelt in unauflösliche Schlaufen der Bürokratie oder der Böswilligkeit: Mariam hat ihren Ausweis im Auto der Täter verloren, doch die Empfangsdame der nächstgelegenen Privatklinik macht keinen Wank ohne Mariams ID. Im öffentlichen Spital wiederum ist eine Untersuchung ohne Polizeirapport nicht möglich, und für die Polizei ist eine Beschuldigung von Polizisten von vornherein ein Affront.
Ben Hania filmt den Spiessrutenlauf durch die Institutionen dieses mitleidlosen Apparats – wie auch schon die Eröffnungsszene – ausschliesslich in Plansequenzen, also in ungeschnittenen langen Einstellungen, die sie sogar mit eingeblendeten Nummern von 1–9 durchzählt. In jeder Sequenz, so die brechtianische Verfremdungsidee, werden die Heldin und ihr Gefährte wieder auf Feld eins zurückversetzt, jedes Mal scheitern ihre Bemühungen sich auch nur Gehör zu verschaffen, die elementarste Voraussetzung für Gerechtigkeit.
Im Labyrinth der Staatsgewalt
Die aufwändig choreographierten Plansequenzen Ben Hanias haben dabei einen doppelten Effekt: Einerseits verleihen sie den Szenen einen dokumentarischen Anstrich, quasi, als ob die Handkamera realen Geschehnissen folgte. Vor allem aber protokollieren sie mit unerbittlicher Lückenlosigkeit die menschenverachtende Logik der Funktionäre, aus deren verketteten Ausflüchten es so wenig ein Entrinnen gibt wie vor der Kamera, die beharrlich draufhält.
Das Prinzip der Unentrinnbarkeit kulminiert in den Szenen auf der Polizeistation, wo es den Beamten bald gelingt, Youssef zu Ausfälligkeiten zu provozieren, um ihn umgehend verhaften zu können. Vollends in die Isolation getrieben, wird Mariam nun mit dem ganzen Repertoire an Einschüchterungen, vermeintlichen Aufmunterungen und anschliessenden Desillusionierungen traktiert. Umso klaustrophobischer wirkt dies, weil Ben Hania die Ausweglosigkeit in einem Schauplatz spiegelt, der trotz überschaubarer Dimensionen immer labyrinthischer anmutet: Keine Fluchttür, die nicht in der gleichen Sackgasse enden würde, überall in immer neuen Kombinationen die gleichen «good cops and bad cops», die unvorhersehbar zwischen Helfern und Schergen changieren und Mariam bald zum Flittchen, bald zur Familienschande, schliesslich gar zur Gefahr für die innere Sicherheit des Landes stempeln. Selbst die einzige Frau im Korps entsolidarisiert sich schrittweise von der Verzweifelten – der Machtapparat, das wird klar, schützt nicht die Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem die Täter in den eigenen Reihen und damit sich selbst.
Kaouther Ben Hania gönnt ihrer Heldin am Ende dieser klaustrophobischen langen Nacht zwar einen Hoffnungsschimmer in der Person eines einzigen integren Beamten, der ihr Gehör zu verschaffen verspricht. Doch wenn wir mit Mariam endlich aus dem Polizeilabyrinth in einen arabischen Frühlingsmorgen mit sanftem Vogelgezwitscher treten, so kehren auf ihrem Gesicht nach einem Moment der Erleichterung sogleich die stummen Fragen zurück. Für sie mag sich die Aussicht auf Genugtuung abzeichnen, doch wie ist es sonst in Tunesien, im Maghreb und anderswo? Für westliche Selbstzufriedenheit besteht auf alle Fälle kein Anlass: Neben dem eingangs erwähnten Buch war Kaouther Ben Hanias zweite Inspirationsquelle für La belle et la meute nämlich der Dokumentarfilm The Hunting Ground (2015), der Vergewaltigungsfälle an amerikanischen Universitäten aufrollt. Die Universitätsleitungen vertuschten die Fälle systematisch. Ihr Ruf und jener manch eines College-Footballteams standen auf dem Spiel.
Kaouther Ben Hania:
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania wurde 1977 in Sidi Bouzid in Zentraltunesien geboren. Sie absolvierte ein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Tunesien und anschliessend in Filmdramaturgie an der Fémis und der Sorbonne in Paris. Ihre Forschungsarbeit befasste sich mit eine…
La Belle et la Meute
Artikel veröffentlicht: 17. September 2023
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