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«Jeder Mensch hat Fantasie, unabhängig von seinem Hintergrund»
Die tunesische Regisseurin Amel Guellaty über ihr Spielfilmdebüt «Where the Wind Comes From».
Was hat Sie dazu bewogen, in Ihren Kurzfilmen und nun auch in Ihrem ersten Spielfilm die tunesische Jugend ins Zentrum zu stellen?
Die Jugend ist eine Lebensphase, die mich schon immer interessiert hat. Die Energie, die Unbeschwertheit, der Drang, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, den Status quo herauszufordern und gegen festgefahrene Regeln zu rebellieren – all das inspiriert mich sehr. Vor allem aufgrund ihrer kulturellen Vielfalt fasziniert mich die tunesische Jugend besonders. Als arabische und afrikanische Jugend verkörpert sie Offenheit und Freiheitsdrang, bleibt zugleich aber fest in Traditionen und kulturellem Erbe verwurzelt – eine spannende Mischung, die ich als unglaublich reich wahrnehme. Es ist aber auch eine Jugend, die unter Verzweiflung, Vernachlässigung und schlechter Behandlung durch die Machthaber leidet. Viele träumen davon, ihr Heimatland zu verlassen, doch ihre Hoffnungen werden erstickt, bevor sie sich auch nur im Ansatz entfalten können. Das berührt mich sehr. Ebendiese Verletzlichkeit macht die tunesische Jugend für mich zutiefst liebenswert. Sie verdient weit mehr Aufmerksamkeit, als sie erhält, weshalb ich mich leidenschaftlich dafür einsetze, sie sichtbar zu machen.

Vor allem die junge tunesische Frau fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Sie ist stark, widerstandsfähig und entschlossen. Tunesien ist das arabische Land, in dem Frauen die meisten Freiheiten geniessen – oft sogar mehr als in manch westlichem Staat, wie das gesetzlich verankerte Recht auf geschützte Abtreibung zeigt. Tunesische Frauen arbeiten unermüdlich, verkörpern Modernität und sind gleichzeitig an die soziokulturellen Normen arabisch-muslimischer Traditionen gebunden, die ihnen eine grosse Verantwortung für Kinder und Haushalt auferlegen. Tunesische Frauen sind Kämpferinnen. Diese ständige Spannung zwischen Modernität und Tradition, zwischen Widerstandskraft und täglichem Kampf – genau diese Dualität ist es, die ich an der tunesischen Jugend und insbesondere an den Frauen so beeindruckend und bewundernswert finde.

Woher stammt die Idee zu diesem Roadtrip-Projekt und wie kamen Sie darauf, eine Frau und einen Mann als beste Freunde auf die Reise zu schicken?
Ich habe schon vor langer Zeit mit dem Schreiben dieses Films begonnen. Dahinter stand der Wunsch, eine Geschichte über die Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau zu erzählen. Solche Beziehungen haben in meinem eigenen Leben immer eine grosse Rolle gespielt. Ich habe viele männliche Freunde, die mir viel bedeuten – sie sind für mich emotionale Stützen, Menschen, denen ich vertrauen kann. Ich hatte das Glück, ehrliche, tiefgründige Freundschaften mit ihnen zu aufzubauen. Solche Beziehungen sind wunderschön, aber oft auch komplex. Allerdings werden solche Verbindungen im Kino selten thematisiert. Geschichten über Beziehungen konzentrieren sich oft auf Romantik, und wenn Freundschaft das Thema ist, handelt es sich in der Regel um zwei Personen desselben Geschlechts oder um eine Figur, die LGBTQ+ ist. Ich wollte von einer intensiven, leidenschaftlichen, liebevollen, aber streng platonischen Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau erzählen – und zwar in der arabischen Welt.
In konservativen Gesellschaften gibt es oft eine klare Trennung zwischen den Geschlechtern: Männer und Frauen werden voneinander ferngehalten, als könnten sie nicht einfach nur Freunde sein. Diese Vorstellung habe ich bewusst in Frage gestellt. Ich wollte zeigen, wie solche Freundschaften funktionieren können – trotz aller gesellschaftlichen Konventionen.

Was ist Ihnen bei der Zusammenarbeit mit jungen Schauspieler:innen wichtig, und welche Prinzipien leiten Sie dabei grundsätzlich?
Schon in der Vorproduktionsphase arbeite ich gerne eng mit den Schauspielenden zusammen. Ich investiere viel Zeit in die Vorbereitung und die Proben und gehe jede Szene gründlich durch. Besonders schätze ich einen intensiven Austausch mit den Darstellenden über ihre Figuren. Dabei gebe ich ihnen den Freiraum, ihre Rollen wirklich zu leben und sich die Dialoge zu eigen zu machen – auch mit Raum für Improvisation. Gemeinsam entwickeln wir die Charaktere immer wieder weiter, sodass für den Dreh alles bestens vorbereitet ist.

Ich habe auch eine Leidenschaft für die visuellen und technischen Aspekte des Filmemachens, daher konzentriere ich mich während der Dreharbeiten gerne darauf. Damit das gelingt, sorge ich dafür, dass die Schauspieler:innen emotional voll auf die Szenen vorbereitet sind, wenn sie ans Set kommen. Ich mag einen einfachen und reduzierten Schauspielstil. Oft rege ich dazu an, Gestik und Mimik bewusst zu vereinfachen, um so eine tiefere Verbindung zu den Gefühlen der Figur zu finden.

Eya Bellagha und Slim Baccar waren in diesem Film beide schlicht herausragend. Sie haben ihre Figuren so zum Leben erweckt, dass sie einem richtig ans Herz wachsen. Die beiden wurden auch ausserhalb des Sets gute Freunde, was ihre Dynamik auf der Leinwand noch verstärkt hat. Sie sind in fast jeder Szene zu sehen und haben unermüdlich gearbeitet. Ich bin unglaublich stolz auf ihre Leistung und ihr Engagement für den Film.

Was hat Sie dazu inspiriert, die reale Handlung mit fantastischen Elementen zu verweben?
Meine Fantasie hat mir schon immer geholfen, mit Emotionen umzugehen. Wie Alyssa nutze ich sie, um mir im Alltag kleine Fluchten zu erlauben. Bereits als Kind habe ich mir eine reiche innere Welt aufgebaut. Diese wollte ich in mein Drehbuch hineintragen, nicht als autobiografisches Abbild, sondern in einer poetischeren, visuelleren Form. Dabei war es mir wichtig, dass diese innere Welt nicht nur Alyssa gehört, sondern auch eine Verbindung zwischen den beiden Figuren stiftet: eine Freundschaft, die von der Sehnsucht nach Träumen und dem Ausbruch aus der engen Realität lebt. Vorstellungskraft ist etwas, das allen Menschen gemeinsam ist. Jedes Kind wird mit einer reichen Fantasie geboren und manche Menschen schaffen es, sich diesen inneren Raum ihr Leben lang zu bewahren. Kunst, wie Mehdis Zeichnungen, ist eine Möglichkeit, diese Fantasie zu pflegen und lebendig zu halten. Durch ihre Freundschaft und das gemeinsame kreative Schaffen inspirieren sie sich nicht nur gegenseitig, sondern öffnen auch einen Weg zur Freiheit – eine Freiheit, die durch Kunst und Selbstausdruck erfahrbar wird.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, ernste gesellschaftliche Themen in den Ton einer Komödie zu kleiden?
Ich wollte die Probleme tunesischer Jugendlicher ansprechen, ohne dabei in ein düsteres Sozialdrama abzurutschen. Oft werden soziale Herausforderungen in der Region, ob international oder lokal betrachtet, sehr negativ dargestellt. Drama ist im arabischen und afrikanischen Kino das vorherrschende Genre. Deshalb habe ich mich bewusst für eine Komödie entschieden, die ernste Themen behandelt. Ziel war es, die realen Schwierigkeiten junger Menschen hervorzuheben, dabei aber ihre Energie, ihren Humor und ihre Lebendigkeit zu bewahren – eine Generation, die trotz aller Hindernisse lebhaft und widerstandsfähig bleibt. Where the Wind Comes From ist ein Wohlfühlfilm, eine sonnige Reise, die sich nicht scheut, die realen Herausforderungen und Komplexitäten der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Tunesien, aber auch weltweit anzusprechen.

Amel Guellaty:
Amel Guellaty (*1988) ist eine tunesische Regisseurin, Drehbuchautorin und Fotografin. Nach einem Jurastudium an der Sorbonne arbeitete sie als Regieassistentin in Frankreich, u. a. bei Olivier Assayas (Personal Shopper). Ihr Kurzfilmdebüt Black Mamba (2017) lief auf mehr als 60 Festivals und gewan…

Where the Wind Comes From
Artikel veröffentlicht: 26. August 2025
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