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Filmbesprechung

Mutter und Tochter

Bewegend, poetisch und wuchtig. Im Debütfilm «La hija de todas las rabias» der nicaraguanischen Regisseurin Laura Baumeister wird die Bindung zwischen einem 11-jährigen Mädchen und ihrer Mutter auf die Probe gestellt, als sie plötzlich getrennt werden. Sie fristeten bis dahin in der Nähe der grössten Mülldeponie des Landes ohnehin schon ein prekäres Leben.

Die 11-jährige Maria lebt mit ihrer Mutter Lilibeth im Slum in der Nähe der grössten Mülldeponie Nicaraguas. Es ist ein bedrückender Ort, der «La Chureca» genannt wird. Ihr Leben ist geprägt von Armut und Gewalt. Doch Mutter und Tochter haben eine innige Beziehung. Sie versuchen sich mit Recyceln von Metallabfällen über Wasser zu halten. Ihre Zukunft hängt in diesen Tagen vom Verkauf eines Wurfs von reinrassigen Welpen an einen örtlichen Gangster ab. Als das Geschäft scheitert, muss Mutter Lilibeth alle Hebel in Bewegung setzen, um eine Arbeit zu finden. Sie setzt Maria in einem Recyclingzentrum ab, wo sie zusammen mit andern Kindern arbeiten soll, bis die Mutter sie wieder abholt. Doch die Tage vergehen und Lilibeth kehrt nicht zurück. Maria fühlt sich verloren, verwirrt und wütend. Sie freundet sich mit Tadeo an, einem fantasievollen Jungen, der entschlossen ist, ihr zu helfen und sie wieder mit ihrer Mutter zu vereinen.

La hija de todas las rabias ist der erste Spielfilm der 1983 in Nicaragua geborenen Laura Baumeister, das Debüt ist gleichzeitig eine Seltenheit in der nicaraguanischen Filmlandschaft. Staatspräsident José Daniel Ortega Saavedra führt Nicaragua mit diktatorischer Hand und besetzt wichtige Stellen im Staat mit Familienangehörigen, die den Reichtum des Landes unter sich aufteilen. Das Land ist geprägt von Armut und Korruption. Es gibt keine Filmindustrie und keine öffentlichen Gelder für unabhängiges Filmschaffen. La hija de todas las rabias ist erst die fünfte Produktion der letzten dreissig Jahre und sogar der erste Film von einer Frau, die in Nicaragua aufgewachsen ist.

Filmstill La hija de todas las rabias
Maria lebt mit ihrer Mutter Lilibeth im Slum in der Nähe der grössten Mülldeponie Nicaraguas.

Kinder der Müllhalde

Inspiriert zum Film wurde Laura Baumeister von Kindern, die in der real existierenden Müllhalde «La Chureca» leben. Als Teenager gab sie diesen Kindern oft Nachhilfe im Schreiben und Lesen. Sie war beeindruckt von ihnen, weil sie trotz schwerer Arbeit und Armut viel Witz, Kreativität und Fantasie bewiesen. Da wurde ihr klar, wie viel Macht die eigene Fantasie hat und wie viel Kraft man aus ihr schöpfen kann. Fantasie und Imagination können in dieser Welt überlebenswichtig sein. Dieser Gedanke hat sie bis ins Erwachsenenalter geprägt: sie wollte unbedingt irgendwann einen Film darüber machen.

Ich habe oft den Eindruck, dass der Mensch viel widerstandsfähiger ist, als man gemeinhin denkt, und deswegen wollte ich von einer extremen Situation in einem schwierigen Umfeld ausgehen, um zu sehen, wie eine Person den Erwartungen zuwider läuft.

Laura Baumeister

La hija de todas las rabias wird hauptsächlich aus der Sicht von Maria erzählt. Sie ist der Erwachsenenwelt ausgeliefert. Und dabei empfindet sie auch Emotionen, die sie als Kind noch nicht einordnen kann. In einer bemerkenswerten Szene hämmert Maria vergeblich gegen die Türen der Recyclinganlage, ohne zu begrei- fen, dass sie nur zu ihrem Besten dort ist. Marias innere Wut steigt langsam an die Oberfläche, wie es der Titel des Films aus- drückt; Maria empfindet nicht nur Wut, sie ist auch das Opfer der Wut anderer. In einem von Korruption geprägten Land, muss jeder und jede für sich selber schauen. Gespielt wird Maria von der Laiendarstellerin Ara Alejandra Medal, die das erste Mal vor der Kamera steht. Laura Baumeister hat 300 Mädchen in Nicara- gua vorspielen lassen und so Ara Alejandra Medal gefunden, die eine unglaubliche Präsenz hat und die Rolle der Maria eindrück- lich verkörpert.

Filmstill La hija de todas las rabias
Maria liebt es mit den Welpen zu kuscheln.

Surreale Erzählelemente

In La hija de todas las rabias sind auch Stilelemente des magischen Realismus zu erkennen, womit der Film an die Tradition des lateinamerikanischen Kinos der 1980er und 90er Jahre anknüpft. Die Geschichten erzählen meist vom Alltag kleiner Leute, enthalten dabei aber Elemente oder ganze Handlungsstränge, die über die gängige Vorstellungen von Realismus hinausgehen und surreale Impulse in die Erzählung hineintragen. Im Gegensatz zum nordwestlichen Kino, in dem solche Elemente formal signalisiert oder inhaltlich gerechtfertigt werden (etwa als Zauberwelt), gehen diese Elemente im magischen Realismus organisch aus der Geschichte hervor. Laura Baumeister nutzt in ihrem Debüt solche surrealen Elemente und bettet sie virtuos in die Handlung ein. Durch die Verfremdung bekommen die Zuschauer:innen eine neue Sichtweise auf unsere Welt, gleichzeitig erlaubt es der Filmemacherin, Missstände anzusprechen, ohne diese direkt zu zeigen. Laura Baumeister hat eine spannende Parabel geschaffen, die auf intelligente Weise eine Mutter-Tochter Beziehung erforscht und gleichzeitig Themen wie Ökologie und Armut in Nicaragua aufgreift.

Der Trailer zum Film.
portrait Laura Baumeister

Laura Baumeister:

Laura Baumeister (*1983) ist eine nicaraguanische Filmregisseurin und Soziologin. Sie hat eine Reihe von Kurzfilmen inszeniert, darunter Isabel en el invierno, 2014, der für die Kritikerwoche des Filmfestivals von Cannes ausgewählt wurde, Fuerza Bruta, 2016 und Ombligo de agua, 2018.…

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