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Sechs Frauen auf einem Filmset
Les Filles dâOlfa lief am Filmfestival von Cannes im Wettbewerb und wurde mit dem OEil dâor fuÌr den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Kaouther Ben Hania erzĂ€hlt die wahre Geschichte von Olfa, deren zwei Ă€lteste Töchter verschwunden sind. Um sich dieser Familiengeschichte und den Entwicklungen in Tunesien mit der nötigen Distanz zu nĂ€hern, lĂ€sst sie drei Schauspielerinnen auftreten und verwebt in einer meisterlich fesselnden Inszenierung Dokument und Fiktion.
Olfa ist Mutter von vier Töchtern: den zwei jĂŒngeren Tayssir und Eya und den zwei Ă€lteren, Rahma und Ghofrane, die beide verschwunden sind. Um dem Familientrauma auf die Spur zu kommen, greift Kaouther Ben Hania auf zwei Schauspielerinnen zurĂŒck, die mit Olfa und den zwei verbliebenen Schwestern interagieren. Dabei stellen sich wie von selbst Themen wie die Situation der Frau, die Adoleszenz, die Eltern-Kind-Beziehung und das heutige Tunesien ein. Die Regisseurin wĂ€hlt ein filmisches Vorgehen, das nicht nur gewagt und effizient, sondern auch zutiefst ethisch ist. Entstanden ist ein wundersamer, eindrĂŒcklicher, aussergewöhnlich intensiver und kluger Film mit dem schlichten Titel Les Filles dâOlfa. Mit ihm lief zum ersten Mal seit fĂŒnfzig Jahren ein tunesischer Spielfilm im Wettbewerb von Cannes. Zu recht gewann er mehrere Preise, ist die Regisseurin doch lĂ€ngst eine der fĂŒhrenden Figuren des tunesischen Kinos. Ihr letzter Film The Man Who Sold His Skin war der erste tunesische Film, der fĂŒr einen Oscar nominiert wurde.
Der Erfolg ist einer ungebrochenen Motivation geschuldet und vielen Jahren, in denen Ben Hania gefilmt, Kurzfilme geschnitten und gelernt hat, wie man Filme macht â und das in einem Land, das von Armut, Gewalt, moralischen Geboten und Zensur geprĂ€gt ist. Unter dem diktatorischen und korrupten Regime von Ben Ali sprach nichts dafĂŒr, dass sie eines Tages Filmemacherin werden wĂŒrde. Zwar hatten bereits in den 1980er und 1990er Jahren neue Regisseure das tunesische Kino weltweit bekannt gemacht, allen voran Nacer Khemir, ein wunderbarer GeschichtenerzĂ€hler und Filmemacher, der zur Inspiration aus dem Fundus von «Tausendundeiner Nacht» schöpft und dessen Werke weitgehend bei trigon-film und auf filmingo greifbar sind. Dennoch stehen Tunesiens Filmstrukturen weiterhin auf schwachen Beinen und die Filmschaffenden weiterhin unter strenger Beobachtung.
Kaouther Ben Hania stammt aus Sidi Bouzid, einer Stadt im Zentrum, die eine der Keimzellen der tunesischen Revolution war. Sie studierte zunĂ€chst Wirtschaftswissenschaften in Karthago. In den 2000er Jahren schloss sie sich eher zufĂ€llig einem Kulturzentrum an und begann, kurze militante Filme zu drehen, heimlich und mit Kameras, die sie mal hier, mal da ergatterte, wobei die Montage manchmal auch direkt an der Kamera erfolgte. Sie bildete sich an der der französischen Filmhochschule FĂ©mis und spĂ€ter an der Sorbonne weiter. Mit ihr war eine Regisseurin geboren, die jene junge tunesische Generation begleitete, die fĂŒr Freiheit und WĂŒrde kĂ€mpfte und immer noch kĂ€mpft. 2014 realisierte sie mit Le Challat de Tunis ihren ersten Langfilm, einen Mockumentary, in dem sie MĂ€nner und ihre angebliche Moral keck auf die Schippe nimmt.
Fiktionaler Spiegel
Mit Les Filles dâOlfa bietet Kaouther Ben Hania eine Innenansicht der Situation der Frau und der Befindlichkeit des Landes. Der Film beschreibt nicht nur ein echtes Familiendrama, er evoziert das kollektive GedĂ€chtnis der Tunesierinnen und Tunesier und beschreibt wie beilĂ€ufig die soziopolitischen Herausforderungen, denen sich das Land zu stellen hat. Ben Hania hatte Olfa und ihre beiden jĂŒngeren MĂ€dchen 2016 zum ersten Mal getroffen und sie damals in der Absicht zu filmen begonnen, einen klassischen Dokumentarfilm zu drehen. Das klappte nicht. Olfa spielte vor der Kamera theatralisch und in der Art, die sie sich angeeignet hatte, als sie ihre Geschichte vor laufenden Fernsehkameras erzĂ€hlen musste. Die Filmemacherin wollte aber ihre WidersprĂŒche aufdecken, ZwiespĂ€ltigkeiten einfangen, Olfas intime Geschichte und Erinnerungen kennenlernen. DafĂŒr musste sie an die RealitĂ€t andocken, die Mutter ihre Figur vergessen lassen und sie dazu bringen, wieder Darstellerin ihrer eigenen Geschichte zu werden. Mehrere Filme und Jahre spĂ€ter griff sie die Idee auf, Olfa mit einer Schauspielerin zu konfrontieren, die sie verkörpern und als fiktionaler Spiegel ihrer gelebten Wirklichkeit dienen wĂŒrde. Zwei junge Schauspielerinnen sollten die Rollen der verschwundenen MĂ€dchen ĂŒbernehmen.
Damit lag eine ebenso unĂŒbliche wie intelligente Anordnung vor. Der Film beginnt wie ein Dokumentarfilm ĂŒber die Vorbereitungen zum Dreh eines Spielfilm mit einer «Mise en abyme», einem Film im Film. In einem Hotel verblichenen Charmes in Tunis, das in ein Filmset verwandelt wurde, stellt uns Olfa ihre beiden jĂŒngeren Kinder Eya und Tayssir vor, wĂ€hrend die Filmemacherin im Off die Besetzung bekanntgibt: Eine berĂŒhmte tunesische Schauspielerin (Hend Sabri) wird die Mutter in schwierigen Momenten ersetzen und zwei junge Darstellerinnen (Ichraq Matar und Nour Karoui) ĂŒbernehmen die Rollen der beiden Verschollenen. Nach Maske und Anprobe beginnt der Dialog zwischen den Protagonistinnen und den Schauspielerinnen. Olfa und ihr Doppel erzĂ€hlen und spielen Olfas Leben nach, ihre Kindheit, die Hochzeit, die Geburt der Töchter, die Scheidung, ihren ganz eigenen Befreiungsschlag wĂ€hrend der Revolution 2010/2011.
Man begreift den Weg einer Frau, die die Gewalt, der sie ausgesetzt war, reproduziert hat, was sie gegenĂŒber brutalen, fundamentalistischen MĂ€nnern paradoxerweise erstarken liess. Eya und Tayssir erzĂ€hlen aus ihrem Leben und von ihrer Mutter, streichen das Wesen der Adoleszenz heraus, jene Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein, in der man auf der Suche ist, die Welt verstehen und einen Platz in ihr finden möchte, der Sinn macht. Zwischen Olfa und den MĂ€dchen entfacht sich die Diskussion um das, was Eltern an ihre Kinder weitergeben. Ăngste. Gewalt, Traumata und CharakterzĂŒge werden von einer Generation auf die andere ĂŒbertragen. Die verschwundenen Schwestern erstrahlen mitten in der ErzĂ€hlung, durch ihre Abwesenheit ebenso wie durch die neue PrĂ€senz der jungen Schauspielerinnen. Eya und Tayssir rollen das Drama auf, wĂ€hrend ihre Mutter erklĂ€rt: «Ghofrane und Rahma wurden vom Wolf gefressen.»
Jugend sucht Freiheit
Ăhnliches könnte sich in anderen Familien zugetragen haben. Mehr sei jedoch nicht verraten, denn die Spannung resultiert aus dem Verschwinden und der allmĂ€hlichen EnthĂŒllung des Grundes, die sich in dem Masse entfaltet, wie die Stimmen und Emotionen dieses komplexen Frauenuniversums zu vibrieren beginnen und sich die Zungen lösen. Mal lĂ€chelnd, mal bekĂŒmmert, drĂŒckt jede nicht nur ihre Ăngste und Hoffnungen aus, sondern setzt sie auch in Szene. Die Beteiligten gehen eine Symbiose ein, dialogisieren, tauschen sich aus. Der Film entwickelt ein vorzĂŒgliches LĂ€uterungspotenzial, dennoch vermeidet es Kaouther Ben Hania, in Pathos zu verfallen. Einerseits zeigt sie bedingungslosen Respekt gegenĂŒber ihren Protagonistinnen, anderseits verheimlicht sie den theatralischen und kĂŒnstlichen Aspekt der Inszenierung in keinem Moment. Sie zögert nicht, die vierte Wand zu durchbrechen, wenn es nötig ist, und uns daran zu erinnern, dass sie gerade dreht. Offen geht sie mit der Tatsache um, dass sie die verschiedenen MĂ€nner, die Olfa das Leben schwer gemacht haben, von ein und demselben Schauspieler (Majd Masoura) verkörpern lĂ€sst, in Szenen, die fĂŒr Mutter und Töchter SchlĂŒsselmomente wiedergeben. Die Filmemacherin schafft einen Verfremdungseffekt brechtscher PrĂ€gung. Dieser ist unerlĂ€sslich fĂŒr die Reflexion und aktive Rezeption des Publikums, das erkennen kann, wie sehr die Gesellschaft aus Unwissenheit und Versehen ihre nach Sinn und Freiheit suchende Jugend im Stich gelassen hat. Die Distanzierung hilft wohl auch den Protagonistinnen selbst, sich nicht in ihren Emotionen zu verlieren, sondern das Drama und den Verlust mit Humor und die Zukunft mit Lebensfreude zu betrachten. Nie dĂŒster, aber vernĂŒnftig, menschlich und wohltuend, wird die sich aus dem intimen GedĂ€chtnis dieser Familie herausschĂ€lende Therapie zu einer universellen ErzĂ€hlung ĂŒber das Erwachsenwerden, die Emanzipation der Frau und die Frage, was wir an kĂŒnftige Generationen weitergeben. Das Drama von Olfa und ihren Töchtern vermischt sich mit dem Drama eines Landes, das in Aufruhr ist. Obwohl die Revolution endlich eine Reaktion auf Korruption, Zensur und UnterdrĂŒckung provoziert hatte, sind die Hoffnungen praktisch versiegt. Die Religion wird instrumentalisiert, islamistische Bewegungen haben die Jugendlichen abgefangen, die von Demokratie getrĂ€umt hatten und bitter enttĂ€uscht wurden. Menschenrechte werden wieder mit FĂŒssen getreten, das Recht auf freie MeinungsĂ€usserung missachtet, die Justiz ignoriert. Ein Femizid jagt den nĂ€chsten. Und das alles bei anhaltender Wirtschaftskrise.
Wahrheiten auf den Grund gehen
Indem Kaouther Ben Hania die intime ErzĂ€hlung in einen grösseren soziopolitischen Kontext stellt, erreicht sie eine ausserordentliche Dichte. Und das mit ethischem Ansatz. NatĂŒrlich mischen sich auch fiktionale Elemente in den Dokumentarfilm. Olfa und ihre Kinder sind Protagonistinnen der Wirklichkeit, und wenn die Dreharbeiten abgeschlossen sind, nehmen sie ihr Leben wieder auf, umgekehrt treten die professionellen Schauspielerinnen dann aus ihren Rollen heraus. Es ist nicht entscheidend, ob die Filmemacherin sie vergangene Momente nachspielen oder sie aus der Gegenwart heraus agieren lĂ€sst. Sie ist nicht die erste Dokumentarfilmerin, die das tut. NatĂŒrlich inszeniert sie auch, aber immer mit dem Ziel, einer tieferen Wahrheit auf den Grund zu gehen. Sie bleibt aufrichtig â mit ihren Protagonistinnen, den Schauspielern und den Bildern. Jeder nachgespielten Szene lĂ€sst sie eine Reflexion folgen und macht so deutlich, dass der Film gerade im Entstehen begriffen ist. Man ist weit davon entfernt, sich der Illusion hinzugeben, er entstĂ€nde von alleine, weit entfernt von Hollywood, das alle Spuren der Inszenierung möglichst verwischt, weit entfernt auch vom Realfilm, der im völligen Eintauchen zu Stande kommt. Das alles macht den Film ethisch und ergreifend.
Eine solche Meisterschaft erreicht die Regisseurin deshalb, weil sie sowohl im Spiel- wie im Dokumentarfilm eine Forschende ist. Sie versteht es, der realen Welt den Stoff fĂŒr Filme zu entziehen, um ihre Beobachtungen kritisch zu beleuchten. Das hat sie in La Belle et la meute gezeigt, der den Kampf einer vergewaltigten Studentin um Gerechtigkeit nachzeichnet. Das hat sie mit The Man Who Sold His Skin bewiesen, der auf die Reise eines Syrers zurĂŒckblickt, der zum Kunstobjekt wird, indem er sich ein Schengen- Visum auf den RĂŒcken tĂ€towieren lĂ€sst â und uns vor Augen fĂŒhrt, welches Schicksal wir fĂŒr FlĂŒchtende bereithalten. Den Erstling Le Challat de Tunis hatte sie als Mockumentary gestaltet. Frisch von der Leber weg erzĂ€hlt sie hier von einer Art urbanen Legende um einen Mann, der angeblich Frauenhintern aufschlitzte, wenn sie in seinen Augen ein zu lasches moralisches Verhalten pflegten. Sie arbeitete mit gefĂ€lschten BeweisstĂŒcken, um das Patriarchat mit beissender Ironie anzuprangern. Mit Les Filles dâOlfa untersucht sie die Situation der Frauen und das VerhĂ€ltnis von RealitĂ€t und Fiktion noch genauer und reflektiert nebenher ĂŒber den Beruf der Schauspielerin und seiner Doppelnatur, weil sichtbar wird, wie tief man sich in eine Figur hineinversetzen muss und gleichzeitig die Distanz wahren, um nicht von ihr verschlungen zu werden. Auf die Gefahr hin, dass man auch mal unterbrechen muss, es einen Schnitt braucht, man aus dem Bild lĂ€uft. Einmal mehr beweist die Regisseurin ihre FĂ€higkeit, die Essenz der Wirklichkeit, ihrer Geschichte und des Kinos zu destillieren, um jenen eine Stimme zu geben, die wir hören und respektieren mĂŒssen.
Kaouther Ben Hania:
Die Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania wurde 1977 in Sidi Bouzid in Zentraltunesien geboren. Sie absolvierte ein Studium in Wirtschaftswissenschaften in Tunesien und anschliessend in Filmdramaturgie an der FĂ©mis und der Sorbonne in Paris. Ihre Forschungsarbeit befasste sich mit eineâŠ
Les Filles dâOlfa
Artikel veröffentlicht: 5. Oktober 2023
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