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Filmbesprechung

Tagebuch gegen das Schweigen

Im mehrfach ausgezeichneten Film «Black Box Diaries» dokumentiert die japanische Journalistin und Filmemacherin Shiori Ito die Aufklärung ihres erlebten sexuellen Übergriffs und ihren mutigen Kampf, den Täter vor Gericht zu bringen. Shioris Suche nach Gerechtigkeit wurde zu einem Vorzeigefall für die japanische #MeToo-Bewegung und zeigt eindrücklich, wie veraltet das Justiz- und Gesellschaftssystem des Landes ist.

Black Box Diaries beginnt sehr japanisch: Auf einem Fluss treiben rosarote Kirschblüten. Nun erscheint ein handschriftlicher Text in tagebuchartiger Form der Journalistin und Filmemacherin Shiori Ito, die uns vor Triggern warnt und erläutert, dass sie ihre persönliche Geschichte erzählen wird. Die Bedeutung der Kirsch- blüten werden wir als Zuschauer:innen erst am Ende des Films erfahren. Als Nächstes sind wir bei der ersten, emotionalen Selfie-Aufnahme von Shiori Ito, die direkt in die Kamera spricht. Es ist Mai 2017. Sie wolle ab jetzt alles dokumentieren, da sie nicht wisse, was in Zukunft passieren werde. Die nächste Woche werde ihr Leben für immer verändern, da sie sich an die Öffentlichkeit wenden werde. Sie möchte ans Licht bringen, was ihr vor zwei Jahren widerfahren ist. Es sei ignoriert worden und sie hoffe, dass sie dadurch Veränderungen in der Gesellschaft bewirken könne. Sie wolle endlich über die Wahrheit sprechen. Doch was ist vor zwei Jahren geschehen?

Filmstill «Black Box Diaries»

Shiori Ito, 25 Jahre alt, absolviert ein Praktikum beim Medienkonzern Thomas Reuters. Der bekannte japanische Fernsehjournalist Noriyuki Yamaguchi lädt Shiori zu einem Abendessen in Tokyo ein. Er wolle mit ihr über die Medienwelt sprechen und ihr wertvolle Tipps für ihre Karriere geben. Der 54-jährige Yamaguchi ist nicht nur eine renommierte Medienperson, er ist auch Freund und Biograf des damaligen japanischen Premierministers Shinzo Abe. Laut Ito wurde ihr auf der Toilette schlecht und sie verlor das Bewusstsein. Überwachungskameras zeigen, wie Yamaguchi die junge Frau in ein Hotelzimmer brachte, wo sie von ihm vergewaltigt worden sei – sagt Ito. Zwei Jahre lang versuchte sie ohne Erfolg, bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Es war, als könne sich Yamaguchi auf mächtige Freunde verlassen. Die Staatsanwaltschaft beschloss schliesslich auch, den Fall wegen Mangel an Beweisen nicht weiter zu verfolgen.

Veraltetes Sexualstrafrecht

Zurück ins Jahr 2017 und zum Anfang des Dokumentarfilms. Shiori Ito richtet die Kamera auf sich selbst und dokumentiert. Sie will ihren Fall bei einer Pressekonferenz öffentlich machen und Zivilklage gegen Yamaguchi einreichen. Der Film Black Box Diaries entstand aus dem Bedürfnis heraus, ihre Ermittlungen aufzuzeigen, eine Reaktion auf die Weigerung der Behörden, den Fall gründlich zu verfolgen. Gleichwohl auch, um ihre Ängste und Gedanken festzuhalten, und getrieben von der Hoffnung, mit dem Film in der japanischen Gesellschaft sowie dem Justizsystem etwas zu verändern.

Filmstill «Black Box Diaries»

Ito verarbeitet mit dem Film das eigene Trauma und schafft eine journalistische Dokumentation von gesellschaftlicher Relevanz, da sie die Missstände grundsätzlich aufdeckt. Weil Opfer sexueller Gewalt sich in Japan normalerweise schämen und lieber darüber schweigen. Ein Gang an die Öffentlichkeit ist ein absolutes Tabu. Sexuelle Gewalt ist auf der ganzen Welt ein Thema, in Japan kommt dazu, dass die traditionelle Rolle der Frau als züchtiges Familienmitglied tief verankert ist im Bewusstsein der Konsensgesellschaft. Viele denken, es sei ein Fehlverhalten der Frau, wenn sie Opfer eines Übergriffs wird. Japans Sexualstrafrecht ist symptomatisch, denn im Kern stammt es noch von 1907, als Frauen in Japan noch kein Wahl- recht hatten. Vergewaltigte müssen demnach beweisen, dass ihr Peiniger ihnen körperlichen oder seelischen Schaden zugefügt hat. Die Hürde für eine Anklage ist hoch. Laut einer Untersuchung der japanische Regierung wenden sich nur vier Prozent der betroffenen Frauen an die Polizei.

Filmstill «Black Box Diaries»

Shiori Ito wagt den Schritt an die Öffentlichkeit. Über persönliche Videotagebucheinträge, Archivmaterial, geheime Ermittlungsvideos, Tonaufnahmen und Interviews mit Expert:innen erhalten wir als Zuschauerinnen und Zuschauer einen einmaligen Einblick in die Aufarbeitung des Falls. Ihr Kampf, den sie von ihrem 27. bis zum 33. Lebensjahr mit der Kamera begleitete, beinhaltet die öffentliche Benennung ihres Angreifers, Reaktionen von Polizei und Zeugen, das Verfassen des gleichnamigen Buches, die Zusammenarbeit mit ihrem Anwaltsteam, um Yamaguchi vor Gericht zu bringen, und den Gerichtsprozess selbst. Es sind zum Teil erschütternde Aufnahmen, die eindrücklich vermitteln, weshalb so viele Opfer lieber schweigen. So wird Ito etwa nach der Pressekonferenz von einer anderen Frau als «Nutte» beschimpft oder die Kamera hält fest, wie viele Hassmails sie schon bekommen hat. Itos Erzählweise ist roh und ungeschönt, wodurch das Publikum die tiefgreifenden Auswirkungen des Ereignisses auf ihr Leben verstehen kann und mitfühlt.

Filmstill «Black Box Diaries»

In den persönlichen Videotagebucheinträgen teilt sie ihre Gefühlslage laufend mit. Manchmal ist sie voller Energie und Kampfeslust, oft aber auch nur traurig und müde. Itos Weg durch das Rechtssystem macht einen bedeutenden Teil des Dokumentarfilms aus und zeigt die Herausforderungen, denen Ito gegenüberstand: die anfängliche Zurückhaltung der Polizei, ihren Fall ernst zu nehmen, und die invasive und veraltete Natur des Ermittlungsprozesses. So wird sie tatsächlich aufgefordert, die Vergewaltigung mit einer lebensechten Puppe nachzustellen, oder ein Polizist bittet sie um ein Date! Die Szenen unterstreichen die Notwendigkeit von Reformen im Hinblick auf Sexualdelikte in Japan. Manchmal wird der Film zum Hochspannungsthriller, etwa, als sich plötzlich ein wichtiger Zeuge bei Ito meldet oder wenn ein merkwürdiger Lieferwagen immer wieder vor ihrer Wohnung parkiert. Soll sie eingeschüchtert werden? Wird sie allenfalls abgehört?

Man kann kein Problem lösen, das man nicht kennt. Ich möchte weiterhin Dinge sichtbar machen, sie ans Licht bringen. Denn nur so werden sie sich verändern.

Shiori Ito

Die Einzelheiten von Itos Übergriff enthüllt der Film erst am Schluss. Nicht um Spannung zu erzeugen, sondern weil das eigentliche Thema des Films die Mängel im System aufzeigt, das Frauen ignoriert und verunglimpft, sie für ihr eigenes Leid verantwortlich macht, ihnen auf Schritt und Tritt juristische Hindernisse in den Weg legt und sich weigert, sie zu schützen. Black Box Diaries ist mehr als ein gut gemachter Dokumentarfilm; er ist ein Aufruf zum Handeln. Mit ihrem Kampf wurde Ito zur Ikone der #MeToo-Bewegung in Japan, die in dem konservativen Land allerdings schwer Fuss fasst. Immerhin hat das japanische Parlament die minimalen Gefängnisstrafen für Vergewaltigungen erhöht und das Gesetz aus dem Jahr 1907 soll reformiert werden.

Filmstill «Black Box Diaries»
portrait Shiori Ito

Shiori Ito:

Shiori Ito, geboren 1989, ist eine japanische Journalistin, Autorin und Regisseurin. Ihr Fokus liegt auf geschlechtsspezifischen Menschenrechtsfragen. Sie ist Mitbegründerin von Hanashi Films, einer in Tokyo und London ansässigen Produktionsfirma, die u.a. mit NHK, BBC und Al Jazeera zusammengearbe…

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