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Interview

«Mir ist es sehr wohl damit, modern und traditionell zu sein»

Ein Gespräch mit Lkhagvadulam Purev-Ochir über ihren Spielfilm «City of Wind».

Wo liegt der Ursprung des Films City of Wind?

Der Film ist aus einer Begegnung heraus entstanden, die derjenigen im Film selber nicht unähnlich ist. Meine Mutter nahm mich mit zu einem Schamanen, um eine Familienangelegenheit zu klären. Wir kamen zu spät zur Zeremonie und konnten den Schamanen nicht mehr persönlich treffen. Während ich auf meine Mutter wartete, setzte sich ein junger Mann neben mich. Er wirkte cool, hatte beide Arme voller Tattoos, einen Ohrring und spielte auf seinem Handy. Als wir das Haus verliessen, sagte meine Mutter, dass dies der Schamane gewesen sei, den wir gerade konsultiert hatten. Ich war schon früher zu Schamanen und Sehern gegangen, aber noch nie zu einem, der jünger war als ich. Dieser Moment hatte eine grosse Wirkung auf mich, denn plötzlich fühlte ich mich gesehen. Es war ein Moment der Selbsterkenntnis über mich selbst als junge Mongolin, über mein Burn-out mit Mitte zwanzig, über die verschiedenen Masken, die ich trage und die Rollen, die ich spiele. Wir alle tragen verschiedene Identitäten in uns und die Verantwortung für sie, was sich manchmal schwer anfühlen kann.

Mir ist aufgefallen, dass junge Menschen im Westen viel unbeschwerter scheinen, mehr Leichtigkeit ausstrahlen. In der Mongolei fühlt man sich schon müde, wenn man die Schulausbildung abschliesst. Das ist wohl die Folge von zu vielen Erwartungen, die die Gesellschaft an uns stellt. Da setze ich den Film an. Ich hatte die Szene, in der der Schamane seinen zeremoniellen Kopfschmuck abnimmt und ein junger Mann zum Vorschein kommt, ganz deutlich vor Augen. Diese Visualisierung hat mich tief berührt, weil sie am direktesten zum Ausdruck bringt, wie es ist, heute ein junger Mongole zu sein. Ich glaube, alle Jungen hier können sich mit dieser Szene identifizieren.

Filmstill aus «City of Wind»
Ze, der junge Schamane, bereitet sich auf eine Zeremonie vor.

Ze ist mit inneren Konflikten konfrontiert, die zwar zur Pubertät dazu gehören, aber er muss auch mit der Verantwortung umgehen, der Schamane der Gemeinschaft zu sein und sich mit seinem inneren Geist auseinandersetzen. Wie greifen diese Konflikte ineinander?

Mir war sehr wichtig, das Thema Tradition versus Moderne nicht in einer dualistischen Weise darzustellen. Das Gefühl, das ich in Bezug auf eine traditionelle und eine moderne Rolle zum Ausdruck bringen wollte, ist nicht eines, bei dem man zwischen beiden feststeckt und sich fatalerweise für das eine oder das andere entscheiden müsste. So fühle ich mich als junge Mongolin nicht. Mir ist es sehr wohl damit, gleichzeitig modern und traditionell zu sein. Das bereichert mein Leben, sowohl meine äussere als auch meine innere Welt. Aber manchmal ist es auch überwältigend. Es kann sich schwer anfühlen, gegenüber vielen verschiedenen Aspekten und Verpflichtungen sensibel sein zu müssen. Genau das soll der Film sein: ein Porträt des Lebens in der Mongolei, das eher ein Mosaik aus kleinen Momenten und Begegnungen ist, die sich auf einer Skala von traditionell bis modern bewegen.

Man hat also einen jungen Schamanen von 17 Jahren, der rituelle Zeremonien durchführt, aber man hat auch eine Klasse voller 17-Jähriger, die gemeinsam Pornos schauen. Es geht nicht darum, diesen Punkten zu trotzen, sondern sie sachlich darzustellen und durch die Entwicklung der Emotionen des Protagonisten die Handlung und den Spannungsbogen zu stärken. Ich wollte das Thema Tradition auf keinen Fall ausschlachten. Es sollte kein Film über die Entscheidung zwischen Liebe und Tradition oder über den Verlust des Glaubens an die Spiritualität werden. Ze verliert zwar den Glauben, aber an sich selbst. Es geht also darum, dass Ze sich von sich selbst entfernt, weil er sich komplett überfordert fühlt. Im Laufe der Erzählung löse ich aber sämtliche feindselige Spannungen zwischen den Figuren auf und versöhne sie miteinander. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne ist da, aber immer verarbeitet und entschärft. Ze und Maralaa, die unterschiedliche Ansichten über den Schamanismus und ihre Zukunft vertreten, schaffen es trotzdem, sich gegenseitig zu necken und ihre Beziehung weiterzuleben. Deshalb ist die Szene auf der Brücke, wo sie sich gegenseitig zeichnen, meine Lieblingsszene. Sie sagt viel darüber aus, wie die Menschen in der Mongolei zueinander stehen, über die Vielfalt unserer Leben und Träume und über unsere Akzeptanz füreinander.

Der Trailer zum Film

Spiritualität ist ein wichtiger Aspekt, um die Mongolei und die inneren Konflikte von Ze zu verstehen. Wie sind Sie an die Herausforderung herangegangen, etwas auf die Leinwand zu bringen, das im Grunde unsichtbar ist?

Ich wollte auf keinen Fall den Weg des magischen Realismus einschlagen, denn das hätte impliziert, dass der Schamanismus etwas Magisches an sich hat. Dass er eine Illusion oder etwas Übernatürliches ist. Aber in der Mongolei ist der Schamanismus genau das Gegenteil davon; er ist die Natur selbst, er ist natürlich. Deshalb war meine Herangehensweise an die Spiritualität und an den ganzen Film naturalistisch. Ich wollte dokumentieren, nicht verführen oder dramatisieren.

Was Sie im Film sehen, ist meine eigene Erfahrung mit dem Schamanismus. Er ist vor allem ein emotionales Ereignis. Die Menschen gehen nicht zu Schamanen, um über das Wetter zu reden. Die Menschen suchen sie auf, weil ihre Gefühle so gross sind und sie das Bedürfnis haben, darüber zu sprechen und gehört zu werden. Besonders in einer Gesellschaft, die ihre Bürger:innen so vernachlässigt wie die moderne Mongolei.

Filmstill aus «City of Wind»
Zes Klassenkamerad:innen schauen sich Videos mit eindeutigem Inhalt an.

Meine Erkundung der Spiritualität erfolgt also auf emotionaler Ebene; sie findet zwischen Menschen statt. Eigentlich suche ich nach Spiritualität in den kleinen, subtilen Momenten zwischen Menschen, in ihren Blicken, in ihren Seufzern, in ihrem Flüstern. Menschen, die sich sehen, die einander erkennen, die sich gegenseitig anerkennen. Menschen, die eine Gemeinschaft bilden. Und diese Spiritualität findet auch zwischen Menschen statt, die nicht mehr in dieser Welt sind. Im Schamanismus sehen, erkennen und anerkennen wir unsere Vorfahren. Für mich ist das ein enorm wichtiger Teil der emotionalen Welt bei uns. Diese Verbindungen erstrecken sich auch auf die Natur, die Berge und Flüsse, die Sonne und den Mond. Ich wollte wirklich zeigen, wie wir im Alltag mit der Natur in Kontakt stehen.

Andererseits könnten einige Momente im Film durchaus als übernatürlich interpretiert werden. Für mich stehen diese Momente jedoch nicht über der Natur, sie sind ein Teil von ihr. Wir erleben die Natur durch die Zeit. Unser Protagonist Ze verkörpert wortwörtlich den Übergang zwischen den Vorfahren und den Nachkommen, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ze ist also jemand, der Zugang zur Vielfältigkeit der Natur, der Zeit hat. Was wir vielleicht als übernatürlich empfinden, ist für ihn natürlich. Ästhetisch bin ich an diese Momente genauso herangegangen wie an jede andere Szene im Film.

Filmstill aus «City of Wind»
Tanzen in einem Nachtclub in Ulaanbaatar.

Der Film spielt in Ulaanbaatar, wo Sie herkommen. Wie wichtig war es für Sie, die verschiedenen Aspekte der Stadt zu zeigen? Und inwiefern prägt die Stadt die Geschichte von Ze?

Der Film sollte unbedingt in den Jurtenvierteln von Ulaanbaatar spielen, denn obwohl diese geografisch am Rande des Stadtzentrums liegen, machen sie flächenmässig doch den grössten Teil der Stadt aus, in dem mehr als 60 Prozent der Stadtbevölkerung leben. Die Jurtenviertel sind nicht die Peripherie, sie sind Ulaanbaatar selbst. Das ist die Botschaft, die der Film vermittelt. Zes Universum befindet sich in den Jurtenvierteln. Das Stadtzentrum liegt in der Ferne, im Hintergrund, in einen Dunstschleier gehüllt. Es symbolisiert den mongolischen Traum, den die mongolische Jugend anstrebt, auch Ze. Das Stadtzentrum stellt eine Art Zuflucht dar, ein fast fantastischer Ort, an dem Ze die Realität hinter sich lassen kann. Deshalb geht er auch so gerne ins Shoppingcenter. Zusammen mit Maralaa macht er seine ersten Schritte aus der Normalität der Jurtenviertel heraus in die Fremde des Stadtzentrums. Als ich den Film drehte, dachte ich in erster Linie an die Jugend von Ulaanbaatar. 70 Prozent der Menschen im Alter von 34 Jahren und jünger leben in den Jurtenvierteln. Hier lebt die Zukunft der Mongolei! Es war mir wichtig, die Würde ihrer Leben und tagtäglichen Kämpfe anzuerkennen und die Annahme, dass sie am Rande stehen, dass sie arm und hilflos sind, völlig umzukehren. Der Film ist mein Versuch, die Jugend zu stärken, in spiritueller wie in mentaler Hinsicht.

Filmstill aus «City of Wind»
Ze und Maralaa: Zwischen den beiden entwickelt sich eine zaghafte Beziehung.

Wie war die Arbeit mit den beiden Darstellenden?

Ze wird von Tergel Bold-Erdene verkörpert, einem Laienschauspieler, der hier sein Debüt gibt. Nomin-Erdene Ariunbyamba hingegen, die Maralaa spielt, studierte Schauspiel im letzten Jahr, hatte schon viel Erfahrung und stammt aus einer Schauspielerfamilie. Nomin hatte das Selbstvertrauen und die Erfahrung, die Tergel fehlten, und so entstand eine Spannung zwischen den beiden, die kaum zu überwinden war. Ich entschied schliesslich, dass diese Spannung nicht gegen die Beziehung der beiden arbeitet, sondern sogar gerade deswegen funktionieren könnte: Zwei Menschen, die normalerweise nicht befreundet wären, kommen sich aufgrund der Einzigartigkeit und Intensität ihrer Begegnung näher.

Die Arbeit mit den beiden war eine Herausforderung, denn ich wollte Nomin ihre Rolle nicht zu sehr einstudieren lassen, damit sie sich nicht zu sehr festlegt, aber mit Tergel war intensives Training angesagt, weil er Selbstvertrauen und Erfahrung sammeln musste. Letztlich basierten die Proben nur lose auf dem Drehbuch und konzentrierten sich mehr auf Gespräche und Austausch. Meistens endete das damit, dass Tergel Nomin mit seinen Witzen und Sticheleien zur Verzweiflung brachte, was sie als herausfordernd empfand, weil sie professionell arbeiten wollte. Für mich war es eine wahre Freude, mit den beiden unterwegs zu sein, weil ich zu den Regisseurinnen gehöre, die das Spiel mögen. Ich mag alle Filme, die das auszudrücken versuchen, was Worte nicht vermögen. Ich mag Filme, die über die direkte Kommunikation hinausgehen. Das mag mit ein Grund sein, warum ich mich für Spiritualität im Allgemeinen interessiere.

Filmstill aus «City of Wind»
Ze unterwegs mit einem Freund.
portrait Lkhagvadulam Purev-Ochir

Lkhagvadulam Purev-Ochir:

Lkhagvadulam Purev-Ochir is a Mongolian scriptwriter and director, born in 1989. She has directed few short films including Mountain Cat (2020), selected among others at the Cannes Film Festival, Sundance Film Festival, Busan Film Festival and Snow in September (2022) which has won the Golden Lion …

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