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Interview

«Ich interessiere mich sehr für beste Freundinnen – es ist die komplizierteste Beziehung überhaupt»

Die Filmemacherin Amanda Nell Eu spricht über ihren Spielfilm «Tiger Stripes».

Wie kam es zu Tiger Stripes?

Die Idee zu Tiger Stripes entsprang meinem schrägen Sinn für Humor. Ich erinnerte mich daran, wie ich meine Pubertät erlebt hatte. Es war eine ziemlich traumatische Erfahrung für mich. Ich fühlte mich so unsicher, schaute auf meinen Körper herab und fand die Veränderungen, die er durchmachte, plötzlich sehr erschreckend. Es gefiel mir auch nicht, dass die Leute über meinen Körper urteilten und ganz offen vor mir darüber sprachen. Ich wollte einen Bezug zu diesem Körperhorror herstellen, zu diesem Mädchen, das diese Veränderungen an sich entdeckt. Alle sagen immer, dass Teenager-Mädchen Monster sind, dass sie verrückt sind und von ihren Gefühlen gesteuert werden, also fand ich es ziemlich lustig, dass sich dieses Mädchen tatsächlich in ein Monster verwandelt. Warum zeige ich dir nicht, was ein echtes Monster ist? Damit wollte ich auch die Idee des Monsters an sich und die Definition von schön und monströs in Frage stellen. Tiger Stripes ist definitiv mehr darauf ausgerichtet, das Monster zu feiern, denn so habe ich mich gefühlt, als ich aufwuchs.

Wie haben Sie Ihre Hauptfigur, Zaffan, geschaffen?

Am Anfang war Zaffan sehr nah an mir, an den Erfahrungen, die ich in meiner Jugend gemacht und beobachtet hatte. Dann begann sich die Figur während des Castings durch die Interviews mit jungen Mädchen zu verändern. Meine Teenagerzeit liegt weit hinter mir, aber die Prüfungen, die ich damals durchmachte, sind den heutigen jungen Mädchen immer noch geläufig. So haben wir die Figur weiterentwickelt. Das Zusammentreffen mit Zafreen Zairizal, die Zaffan spielt, war schliesslich von entscheidender Bedeutung. Zafreen ist ein junges Mädchen mit unglaublichem Mut und Entschlossenheit. Sie ist voller Schalk, keck und frech, und ich sah das Feuer, das während des Castings in ihr brannte und das perfekt zur Rolle passte. Es ist diese Energie, die es möglich gemacht hat, die Figur auf der grossen Leinwand zum Leben zu erwecken.

Filmstill aus Tiger Stripes
Wie ein Tiger bleckt Zaffan die Zähne.

Wie verlief der Casting-Prozess?

Er fand während der Pandemie statt, so dass es wegen der Einschränkungen sehr schwierig war, grosse Castings in Schulen durchzuführen, was ursprünglich unser Plan gewesen war. Stattdessen hat meine Casting-Direktorin Anzeigen im Internet geschaltet und auch junge Mädchen auf TikTok und Instagram angeschrieben. Sie schaffte es, etwa 200 Mädchen zu erreichen, und wir vereinbarten jedes Mal rasch ein Vorsprechen, wenn es zu einer Teilöffnung kam. Wir wählten etwa 30 Mädchen aus und begannen in Workshops mit einem Schauspielcoach mit ihnen zu arbeiten. In diesen Workshops, die ein Luxus waren, da wir den Dreh wegen der Pandemie verschieben mussten, diskutierten wir Themen wie, wie Mobbing, Körperbild, Selbstvertrauen... und in zusätzlichem Schauspielunterricht brachten wir den Mädchen bei, wie sie sich öffnen und mitteilen können. Zafreen stach während dieses Prozesses heraus, sie war ein echter Star. Die anderen Darstellerinnen, Deena Ezral und Piqa, hatten ihre eigenen besonderen Qualitäten. Es war eine grossartige Erfahrung, im Workshop zu beobachten, wie sich zwischen ihnen eine Chemie entwickelte. Das Vertrauen, das wir vor den Dreharbeiten aufgebaut haben, war sehr gross.

Was haben Sie bei diesem Casting über Mädchen von heutzutage gelernt?

Dass sich nicht viel geändert hat! Jugendliche sind immer noch sehr schwierig und schroff. Sie können dich an einem Tag lieben, und am nächsten Tag ändert sich etwas, und sie lehnen dich ab, und das auf Knopfdruck. Aber ich habe auch bemerkt, vor allem während der Workshops, wie viel Unterstützung sich unter den Teenagern entwickeln kann. Es war wunderbar, eine solche Kameradschaft und Zuneigung zwischen ihnen zu sehen. Sie hatten einen Rahmen des Vertrauens, der Sicherheit und der Offenheit geschaffen, für den ich aufrichtig dankbar war. Es war eine unglaubliche Erfahrung, die mir Hoffnung für die Zukunft gab: Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie sich zu aussergewöhnlichen Menschen entwickeln werden.

Warum war es wichtig, die manchmal bösartige Dynamik zwischen Mädchen darzustellen?

Mean Girls (2004) ist einer meiner Lieblingsfilme, daher liebe ich diese Dynamik! Ich bin mit dieser Dynamik aufgewachsen – ich habe zwei ältere Schwestern und bin auf eine reine Mädchenschule gegangen – daher ist diese Aggressivität zwischen Mädchen für mich sehr real. Das ist nicht nur bei Teenagern so, das passiert auch zwischen Frauen. Ich interessiere mich sehr für die Beziehungen zwischen besten Freundinnen. Es gibt so viel Hass und so viel Liebe zur gleichen Zeit. Das ist die komplizierteste Beziehung überhaupt.

Wie wĂĽrden Sie die Beziehung zwischen Zaffan und Farah beschreiben?

Auf dem Papier sind sie beste Freundinnen, sie hängen zusammen ab, lieben die Gesellschaft der Anderen, aber da schwingt auch Eifersucht mit. Farah sieht in Zaffan etwas, das sie zerstören und niedermachen will, weil sie nicht weiss, wie sie sich ausdrücken soll, also greift sie Zaffan an. Manche Kinder tun das, weil sie nie die Möglichkeit hatten, sich frei zu äussern und auszuleben. Farah beobachtet Zaffan ständig und will sie unterdrücken. Zaffan hingegen, die sehr selbstbewusst und rebellisch ist, wehrt sich stets und weist sie zurück. Plötzlich, als sich die Dinge ändern und Zaffan eine Schwäche in sich spürt, schlägt Farah zu.

Der Trailer zum Film

Es ist sowohl fĂĽr Zafreen als auch fĂĽr Deena ein Leinwand-DebĂĽt. Wie haben Sie ihnen gezeigt, die Beziehung ihrer Figuren zu entwickeln?

Für beide, Zafreen und Deena, war es das erste Mal, dass sie überhaupt schauspielerten. Schon in den Workshops konnte ich sehen, dass sie ein erstaunliches Gespür hatten. Es war richtig schön zu sehen, wie sie im Laufe des Prozesses sehr enge Freundinnen wurden. Ich hielt es für sehr wichtig, dass sie sich ausserhalb des Sets gegenseitig unterstützten, damit sie, wenn sie in ihre Charaktere schlüpften, nicht das Gefühl bekamen, dass diese ein Teil der Realität sind. Wir haben ausführlich über die Figuren gesprochen und darüber, wie sie einen Bezug zu ihnen finden können. Das alles haben wir vor dem Dreh erarbeitet, und als wir dann am Set waren, ging es eigentlich nur noch darum, jede Menge Spass zu haben.

Was ist die Rolle der Erwachsenen?

Meine Vorstellung von den Erwachsenen war eher stereotyp, fast wie eine Karikatur, vor allem die Lehrer:innen und alle, die mit der Schule zu tun haben. Als wir aufwuchsen, sahen wir die Lehrpersonen nie als Menschen, sie waren Figuren. Sie waren keine Mütter oder Eltern, sie hatten kein Leben ausserhalb der Schule. Dieses Gefühl wollte ich auch darstellen, mit den Lehrer:innen als autoritäre Charaktere, die sich den Mädchen aufdrängen. Was die Eltern angeht, so gab es einen menschlicheren Aspekt, der aber immer auf Märchen anspielt. Eine Vaterfigur, die nicht wirklich da ist und eine Mutter, die immer hinter Zaffan her ist und nicht wirklich versteht, wer sie ist. Da ist so viel Liebe, aber es gibt auch so viele Missverständnisse, und genau da beginnt der Konflikt. Zaffans Mutter sieht nicht wirklich, wer ihre Tochter ist – und so entsteht die Reibung zwischen Mutter und Tochter.

Wo wir gerade von Märchen sprechen, was waren Ihre Inspirationsquellen für Zaffans Metamorphose?

Da ist zum einen die Folklore aus Südostasien, insbesondere für Zaffans Aussehen am Ende des Films. Ich habe lose mit der Idee des Harimau Jadian gespielt, ein Tigermensch ist. Er kommt in der Folklore aus der Nusantara-Region vor, vor allem in Indonesien, aber natürlich sind all diese Geschichten auch in Malaysia verbreitet. Im Grunde geht es um einen Tiger, der sich in einen Mensch verwandelt und versucht, sich in die menschliche Gesellschaft einzufügen. In Tiger Stripes mache ich das Gegenteil: Ich löse mich von der Gesellschaft und den sozialen Regeln, um wild und frei zu sein und mich mit der wunderschönen Natur um uns herum zu verbinden. Es ist auch eine Hommage an unsere alten Horrorfilme, an das Aussehen unserer Monster und eine Ode an das Make-up mit Spezialeffekten. Es steckt auf jeden Fall eine Menge Horror aus den Achtzigern mit drin, insbesondere des Films House (1977). Was die Märchen angeht, so habe ich mich auf «Das hässliche Entlein» bezogen, vor allem wegen der Mutter-Tochter-Beziehung. Zaffan ist ein hässliches Entlein, das sich in etwas anderes verwandelt, und niemand versteht, was sie ist.

Filmstill aus Tiger Stripes
Zaffan und ihre Freundinnen

Warum war es wichtig, Telefonaufnahmen in den Film zu integrieren? Haben die Mädchen davon etwas selbst gedreht?

Das gesamte Material wurde von den Mädchen selbst gefilmt. Mein Kameramann, Jimmy Gimferrer, ist definitiv kein Mädchen im Teenageralter, also glaube ich nicht, dass er weiss, was sie sehen, ihren Blick einnehmen kann. Dieses Filmmaterial zeigt den Blick der Mädchen selbst und den Blick der jungen Mädchen heute. Es ist ganz anders als in der Zeit vor den sozialen Medien, vor der Smartphone-Kamera, als wir noch in den Spiegel starrten und unseren Körper betrachteten. Das fand in einem ganz privaten Rahmen statt, aber jetzt ist es sehr öffentlich – man postet, wie man aussieht und wie man wächst und sich verändert. Das war ein wichtiger Aspekt der Art und Weise, wie Mädchen heute aufwachsen.

Wie würden Sie Ihre ästhetische Vision für Tiger Stripes beschreiben?

Für mich ging es darum, der Energie der Charaktere und der Schauspielerinnen selbst zu folgen. Ausserdem habe ich mich an den Farben Malaysias orientiert. Die Schulen hier sind irrsinnig farbenfroh. Die Natur liessen wir genauso schön, wie sie tatsächlich ist. Es gibt dieses diffuse, phantastische Element in einigen Szenen, das dem Publikum das Gefühl eines Märchens geben soll, einer Geschichte über ein junges Mädchen, das an einem weit, weit entfernten Ort lebt. Dieser hat keinen bestimmten Namen, es gibt keinen geopolitischen Kontext. Wir wissen, dass es Malaysia ist, aber das war's auch schon.

Märchen und Volkserzählungen gefallen mir, weil sie sich nicht auf eine bestimmte Region beschränken. Sie werden mündlich überliefert und überdauern Generationen, denn egal, in welcher Zeit man lebt, man kann sich mit ihnen identifizieren. Das ist etwas, was ich an Geschichten liebe, und deshalb wollte ich in Tiger Stripes ein Gefühl der Zeitlosigkeit schaffen. Einerseits haben die Teenager im Film Handys, aber andererseits sind sie von Aufklebern besessen, obwohl das etwas aus den 90er Jahren ist! Das war eine Möglichkeit, die Geschichte noch universeller zu machen.

Filmstill Tiger Stripes
Zaffan nachts in der KĂĽche
portrait Amanda Nell Eu

Amanda Nell Eu:

Amanda, born 1985 in Kuala Lumpur, graduated from the London Film School with an MA in Filmmaking and is an alumna of Berlinale Talents and Locarno Filmmakers Academy. Her short film Lagi Senang Jaga Sekandang Lembu (It's Easier to Raise Cattle) premiered in competition at the Venice International …

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