Ein blutroter Morgen - Xuese qing chen
Unter den chinesischen Spielfilmen, die in jüngster Zeit von sich Reden machten, fiel die Verfilmung des Marquez-Buches "Chronik eines angekündigten Todes" durch die Filmemacherin Li Shaohong auf. Ein Dorflehrer sinkt blutüberströmt über seinen Büchern und Heften zusammen. Er wurde mit der Axt zusammengeschlagen, weil er einer Frau die Unschuld genommen haben soll. Rund herum stehen die Einwohnerinnen und Einwohner des Dorfes, starren in die winterliche Leere. Sie waren herbeigeeilt, weil sie wussten, was geschehen würde, weil sie nicht glauben wollten, dass es geschehen könnte. Als sie ankamen, begriffen sie nicht, dass es jetzt eben geschah. Und niemand hielt die Täter, die aus ihrer Mitte stammten, von ihrer Tat ab.
Die letzten Bilder von Li Shaohongs zweitem Spielfilm "Ein blutroter Morgen" machen deutlich, dass es der Autorin um weit mehr gehen muss als um eine Adaptation des lateinamerikanischen Romans "Chronik eines angekündigten Todes" von Gabriel Garcia Marquez. Entstanden im Jahr nach dem Staatsterror, mit dem die chinesische Gerontokratie auf dem Tienamen-Platz den Ruf nach Freiheit niedergewalzt hat, zeigen diese Bilder ein überfordertes Volk, liebenswürdig und leicht debil. Der Tatort wird zum Theaterplatz: Das Volk Publikum und Chor in einem. Es steht da in der Kälte des Winters, mochte sich für die Rettung des Lehrers, als Intellektueller ohnehin ein Aussenseiter, nicht wirklich auf die Hinterbeine machen und scheint erstarrter denn je. "Wird man sie (die Täter) hinrichten wegen eines Lehrers?" fragt der Metzger.
Li Shaohongs Film beginnt mit der Nachricht von der Ermordung des Lehrers, und er endet mit dem Mord und dem Abtransport der Täter. Wie kurz der Prozess ist, der einem in China das Leben kosten kann, machen die paar eingestreuten Daten deutlich. Zweimal nähert sich der Film der Tat: In der ersten Hälfte über die Recherchen des Staatsanwaltes, in der zweiten Hälfte über die Schilderung des Tathergangs und das Nachzeichnen einiger kläglicher Versuche, das Opfer vor den Tätern zu warnen. Über die beiden Schilderungen entwirft Li Shaohong ein Bild des ländlichen Chinas und einer Gesellschaft, in der eine männliche Tischrunde im Saufgelage über Frauen und deren Zukunft verhandelt.
Mit ausgeprägtem Gespür für sinnfällige Momente geht die Regisseurin den Bedingungen auf den Grund, die zur Tat führten und vor allem dazu, dass sie nicht verhindert werden konnte. Da geht es nur vordergründig um die Frage, wer in diesem Fall schuldig ist; Shaohong interessiert sich viel stärker dafür, warum eine solche Tat geschieht und wie eine Gemeinschaft versagt. Ihr Film ist bei aller Sinnlichkeit in seiner analytischen Struktur und den ikonenhaften Bildern vergleichbar mit frühen Werken Francesco Rosis und verwandt mit "Rekonstruktion", dem Erstling des Griechen Angelopoulos. Auch jener begab sich zur Zeit der Diktatoren in die Berge auf die Suche nach den Gründen einer Tat, deren Ursprünge anderswo zu suchen waren als dort.
Walter Ruggle
Festivals & Auszeichnungen
Grosser Preis am Festival von Nantes 1992
Grosser Preis in Fribourg, 1993.