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Filmbesprechung

Der engagierte Bilderarchäologe

Filmemacher Raoul Peck begibt sich politisch und poesievoll auf akribische Spurensuche und lässt den Fotografen Ernest Cole in Gedanken und Bildern aus dem Leben und Schaffen erzählen.

Seine Biografie gäbe auch Stoff her für einen spannenden Film: Raoul Peck wurde 1953 in Port-au-Prince auf Haiti geboren. Er war fünf Jahre alt, als Diktator François Duvalier auf der Karibikinsel die Macht übernahm, sieben, als die Familie über den Atlantik nach Léopoldville umzog, in die seit 1966 Kinshasa genannte Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, die damals noch Zaire oder Belgisch-Kongo hiess. Allein diese Namensänderungen mögen illustrieren, wie dies in einer Zeit geschah, in der sich europäische Kolonialmächte aus von ihnen angeeigneten afrikanischen Regionen zurückziehen mussten – was nicht heisst, dass sie es auch aufrichtig getan hätten.

Der junge Raoul Peck mitten in der grossen Geschichte. Als Jugendlicher verliess er Zaire, bildete sich in den USA, Frankreich und Deutschland zum Wirtschaftsingenieur, Journalisten und Fotografen aus und studierte an der Film- und Fernsehakademie in Berlin Film. 1987 präsentierte er mit Haitian Corner (Haiti ist nicht New York) am Festival von Nantes sein Spielfilmdebüt, zehn Jahre später wurde er für zwei Jahre Kulturminister in seinem vom Diktator befreiten Heimatland Haiti.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Die Buchhandlung in Brooklyn

«History is not the past, it is the present», hat der US-amerikanische Schriftsteller James Baldwin notiert. «Haitian Corner» heisst eine kleine Buchhandlung in Brooklyn, New York. Hier treffen sich aus der Diktatur Duvaliers geflohene Haitianer:innen, unter ihnen Joseph, der sieben Jahre Kerker überlebt hat und in New York einen jener Männer zu entdecken glaubt, die ihn quälten. «Als ich an Haitian Corner zu arbeiten begann, war ich mir noch nicht im Klaren darüber, dass ich Filmemacher werden würde», sagte Raoul Peck Jahre später rückblickend. Das Drehbuch hat er während der Wartezeiten als Taxifahrer in New York geschrieben, noch bevor er in Berlin Film studierte. Danach war er nach Brooklyn gezogen, wo viele seiner vor der Duvalier-Diktatur geflohenen Landsleute lebten.

Zu den Motivationen, Filme zu machen, gehörte für ihn die Erkenntnis, dass es in den USA nur wenige schwarze Filmschaffende gab (Charles Burnett etwa, Haile Gerima und Spike Lee). Pecks Figuren sprachen Kreolisch, was allein schon ein Ereignis war; sein Erstling beginnt mit drei Statements von Überlebenden der Gefangenschaft, die Filmhandlung ist flashartig mit akustischen und bildlichen Erinnerungen an Haiti durchsetzt.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Man trägt seine Geschichte in sich, egal, wohin man zieht. Ein Leitmotiv, das sich durch Raoul Pecks Werk zieht und das ihn sowohl in Spielfilmen wie in dokumentarischen Essays Geschichten von Individien aufarbeiten liess, die von der Geschichte ihres Lebensraums geprägt waren. Da war zunächst Patrice Lumumba, der vom Juni bis zum Putsch durch Mobutu im September 1960 der erste Premierminister des unabhängigen Kongo war. Im Filmessay Lumumba: Tod des Propheten (1992) nahm Peck den von der eben abgezogenen Kolonialmacht Belgien organisierten Umsturz und die Ermordung Lumumbas als Anlass, über seine Kindheit als Haitianer in Zaire nachzudenken, wo man Fachleute brauchte, die «schwarz waren und Französisch sprachen».

Die Geschichte hat er Jahre später mit neu gewonnenen Erkenntnissen im packenden Spielfilm Lumumba (2000) noch fiktionalisiert verarbeitet, nachdem er 1993 in der Dominikanischen Republik den in Haiti spielenden L’Homme sur les quais (1993) gedreht hatte. Hier lässt er seine weibliche Hauptfigur in die Kindheit in den 1960er Jahren zurückblicken, um die Gegenwart begreifbarer zu machen.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Eine realistische Nachinszenierung von historischen Ereignissen strebt er nicht an; Peck will vielmehr zu fassen versuchen, wie ein böser Traum, der Wirklichkeit wurde, von einem Kind erlebt wird. Nicht die grossen Ereignisse, nicht der grosse politische Lärm interessieren den Filmemacher. Er konzentriert sich auf die kleinen Gesten der Protagonisten im sonnendurchfluteten und verstaubten Dorf seiner Handlung. Der Blick des Kindes, der hier vor allem der Blick des Mädchens auf die Strasse ist, ins Freie, in die nächste Welt draussen vor der Tür, ist gleichzeitig auch der Blick, der das Leben des Kindes verändern wird, denn da draussen spielen sich Dinge ab, die es so leicht nicht verarbeiten kann und will.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

James Baldwin und Karl Marx

L’Homme sur les quais ist zwar auf Haiti angesiedelt – er könnte aber überall dort spielen, wo Autokraten die Macht übernommen haben, entsprechend hat er nichts an Dringlichkeit eingebüsst. Im Gegenteil. Seine ursprüngliche Heimat wird ihn weiter beschäftigen in Kinofilmen wie Moloch Tropical (2009) oder in Fernsehproduktionen wie Fatal Assistance (2013), in dem er der Welt zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti nüchtern vor Augen führt, wie die internationale Gemeinschaft im Versuch zu helfen auch scheitern kann.

Im Lauf der Jahre verfeinerte Raoul Peck seine filmischen Mittel, blieb gleichzeitig seinem Augenmerk treu: Man trägt seine Geschichte in sich. Mit der Oscarnomination für I Am Not Your Negro (2016) erreichte er einen Höhepunkt in der Anerkennung. Den Film über James Baldwin hatte er parallel zu Der junge Karl Marx realisiert. «Sie ergänzen einander», erklärte er in einem Gespräch, «beide hatten die Idee, dass sich das menschliche Dasein sowohl individuell als auch kollektiv entwickeln müsse. Beide blicken auf die grösseren Zusammenhänge und lassen in der Analyse weg, was nicht relevant ist. Beide befassen sich mit der Realität. Für mich als jemand, der schwarz ist, aus einem Entwicklungsland kommt, in Europa und Amerika aufgewachsen ist, hat das eine Perspektive auf die Welt eröffnet.»

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Die Filme von Raoul Peck basieren alle auf Wirklichkeit. Sie ist das, was ihn umtreibt, «die Absurdität, die Ungerechtigkeit der Wirklichkeit, die Wut, die diese Wirklichkeit auslöst, und mein Wille, Machtstrukturen jeder Art herauszufordern.» Seine Arbeitsweise gleicht der eines Archäologen, der Fundstück um Fundstück minutiös zusammenträgt, für sich auslegt, in eine Ordnung bringt, um zu einem Bild zu gelangen, das Vergangenes für die Gegenwart sichtbar macht und für die Zukunft gegenwärtig hält. Fürs filmische Umsetzen von Baldwins unvollendetem Manuskript «Remember This House» nahm Peck sich zehn Jahre Zeit. Der Schriftsteller hatte wie kaum ein Zweiter in seinem Werk wie in seinen Auftritten verdichtet, was auch Pecks Lebenserfahrung war, und einen vergleichbaren Ansatz verfolgt: «Der Zweck der Kunst ist es, die Fragen freizulegen, die von den Antworten verdeckt werden.»

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Berliner Mauer und Apartheid

Wir alle dürften die Erfahrung gemacht haben, dass es Dinge gibt, die man rückblickend schwer nachvollziehen kann, selbst wenn man sie selber in ihrer Zeit wahrgenommen hat. Die Mauer mitten durch Pecks Studienstadt Berlin gehört für mich dazu, durch die die Menschen im einen Teil Deutschlands eingesperrt waren, während die andern aus dem Westteil der Stadt problemlos rüber auf Besuch gehen konnten. Das Apartheid-System in Südafrika und wie es mit nordwestlicher Hilfe und mitunter bizarrer Verteidigung aufrechterhalten wurde, erscheint heute ebenso surreal. Eher hilflos kündigte man das Bankkonto bei der SBG, der heutigen UBS, mit dem Hinweis auf die intensiven Schweizer Geschäfte mit dem Unrechtstaat.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

Einer, der das Unrecht vor Ort erlebt hat, der in ihm aufwuchs und früh schon einen Blick für seine Erscheinungen entwickelte, war Ernest Cole, 1940 in Pretoria geboren. 1956 beschloss er, die Schule zu verlassen, weil er erkannte, «dass die Regierung mit der Einführung des so genannten Bantu Education Act das ohnehin schon niedrige Bildungsniveau für Afrikaner:innen absichtlich gesenkt hatte.» 1958 kam er in Kontakt mit dem deutschen Fotografen Jürgen Schadeberg, bei dem er das Handwerk erlernen konnte. Er fotografierte im Alltag, dokumentierte in seinen Bildern die Apartheid, etwa einen Bahnübergang, der mit Trennwand in zwei Teile gegliedert war: einer für Weisse (Europeans), der andere für Nichtweisse.

Um Südafrika zu verlassen, schaffte er es, sich unter dem Namen Kole als «mixed» einstufen zu lassen – als «Schwarzer» hätte er nicht ausreisen dürfen. Er veröffentlichte seinen Bildband «House of Bondage» (Haus der Knechtschaft) bei Random House in New York. Es waren Arbeiten von Henri Cartier Bresson, die ihm Mut gemacht hatten und deren mitunter schwebend leicht wirkenden Momente ihn mitprägten.

Filmstill «Ernest Cole: Lost and Found»

In seinem jüngsten Filmessay Ernest Cole: Lost and Found, der in Cannes 2024 mit dem Œil d’or als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, erzählt Raoul Peck nun gewissermassen in erster Person das Leben des Fotografen, der das menschenverachtende Antlitz der Apartheid in unaufgeregten Momentaufnahmen festgehalten hat, seinen Sinn für den aussagekräftigen Moment später in New York weiter pflegte und im Süden der USA. Dabei arbeitet der Filmemacher vergleichbar mit I Am Not Your Negro mit einer Erzählstimme, diesmal jener des Theaterschauspielers LaKeith Stanfield, die auf ausgesprochen persönliche Weise aus dem Leben und vom Fotografieren erzählt, die Bilder und ihre Geschichten begleitet. 25 Jahre nach dem Tod des Fotografen (1990) wurden im Safe einer Bank in Stockholm 60’000 Negative gefunden, die als verschollen galten. Bis heute ist nicht geklärt, wie sie dahin gelangten und weshalb niemand von ihnen wusste.

Coles Aufnahmen bilden neben Filmaufnahmen aus unterschiedlichen Zeiten, die zu einer verschmelzen, die Erzähllinie Raoul Pecks und führen uns den ungeheuer wertvollen visuellen Schatz vor Augen, die stille Aussagekraft von Coles Beobachtungen, die tiefe Menschlichkeit, die sie ausstrahlen: «Ich sehe dich! Ich sehe dich jeden Tag», hatte Cole notiert. Peck sucht die Erzählung aus ihnen heraus, schrieb den Text als Stimme des Fotografen, der selber nur noch über seine Bilder erzählen kann. Er stellt diese einem Puzzle gleich in Gruppen zusammen und führt uns so an die Lebensgeschichte heran, als würde Ernest Cole sie nach seinem frühen Tod selber erzählen: «Ich habe Heimweh, und ich kann nicht zurück.»

portrait Raoul Peck

Raoul Peck:

Raoul Peck wurde 1953 in Port-au-Prince auf Haiti geboren. Da sein Vater eine Stelle im früheren Belgisch-Kongo annahm, lebte die Familie einige Jahre in Kinshasa. Nach langen Aufenthalten in Zaire, Frankreich, USA und Deutschland beendete Peck sein Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademi…

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