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Die Freiheit ist weiblich

Iman, ein Untersuchungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran, hat mit Misstrauen und Paranoia zu kämpfen, als die landesweiten politischen Proteste zunehmen und seine Waffe auf mysteriöse Weise verschwindet. Da er seine Frau Najmeh und seine Töchter Rezvan und Sana verdächtigt, etwas damit zu tun zu haben, ergreift er zu Hause drastische Massnahmen, die die Spannungen noch verstärken. Nach und nach werden soziale Normen und die Regeln des Familienlebens ausser Kraft gesetzt. So direkt wie noch nie bäumt sich Rasoulof hier gegen das repressive iranische Regime auf und dokumentiert erstmals die Welle der Frauenproteste und die brutale Reaktion der Behörden. Ein weiterer Geniestreich nach seinem Goldenen Bären «There Is No Evil».

Es gibt Daten, die nicht nur für immer in die Weltgeschichte eingehen, sondern sich regelrecht in das Bewusstsein der Menschen einbrennen. Der 11. September 2001 ist so ein Datum, das längst den Kampf gegen den Terrorismus symbolisiert. Nun reiht sich ein weiteres Datum im September ein, das sich als Wendepunkt in einer anderen Causa verewigen müsste: Es war der 16. September 2022, als die 22-jährige Mahsa Amini ihr Leben verlor, nachdem sie durch die islamische Sittenpolizei brutal misshandelt worden war. Ihr Vergehen: Sie hatte den Hijab zu locker getragen. Ihr Tod löste Proteste aus, wie sie das Land noch nie gesehen hatte, und sorgte weltweit für eine grosse Welle an Solidarität: «Woman, Life, Freedom» ging als Slogan um den Globus im weltweiten Kampf für Gleichberechtigung, Freiheit und Menschenrechte.

Filmstill «The Seed of the Sacred Fig»

Kurz nach dem Tod Mahsa Aminis siedelt Mohammad Rasoulof The Seed of the Sacred Fig an. Iman, ein Familienvater der Teheraner Mittelschicht, wird zum Untersuchungsrichter am iranischen Revolutionsgericht befördert. Dies bedeutet für die Familie nicht nur den sozialen Aufstieg, sondern auch finanzielle Aussichten, die man bisher noch nicht hatte: Ein eigenes Zimmer etwa für die beiden Töchter Rezvan (21) und Sana (16), die beide noch zur Schule gehen, sich gerne mit ihren Freundinnen treffen und zu Hause auch mal die Nägel lackieren oder die Augenbrauen zupfen. Der Nagellack muss natürlich wieder weg, bevor sie das Haus verlassen. Die Freude ist gross, die Ernüchterung grösser, als Mutter Najmeh den Mädchen eröffnet, was dies fortan für sie bedeutet. Als Töchter eines Staatsangestellten am Revolutionsgericht haben sie sich entsprechend zu verhalten, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und sämtlichen Regeln des theokratischen Staats treu Folge zu leisten. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sie Ziel von Racheakten würden – denn Iman hat nun die Befugnis, über Leben und Tod zu entscheiden.

Das Handy als Pforte zur Welt

Diese Befugnis bedeutet für Iman eine Verantwortung, mit der er immer mehr hadert. Doch Zweifel haben im iranischen Justizsystem nichts verloren. Wer davon profitieren will, muss gehorchen. Hinter jedem System stehen Individuen, die es aufrechterhalten. Und genau dies untersucht Rasoulof in diesem sagenhaft spannenden Drama akribisch genau. Ausgerechnet jetzt nämlich, als Iman seinen Posten Antritt, mehren sich die Verhaftungen, auf den Strassen werden nach dem Tod Mahsa Aminis Proteste laut. Der ganze Tumult geht nicht unbemerkt an den weiblichen Familienmitgliedern vorbei: «Wir leben in diesem Land», sagt die ältere Tochter Rezvan einmal, die mit ihren 21 Jahren praktisch gleich alt ist wie die verstorbene Amini. Es ist eine Reaktion auf die krasse Divergenz zwischen dem, was sich auf der Strasse abspielt, und dem, was das Staatsfernsehen zeigt. Hier Gebete und Talkshows, dort rohe Polizeigewalt und Gummigeschosse. Rasoulof kontrastiert die Aufnahmen geschickt, indem er die Mädchen auf ihren Handys die (echten) Aufnahmen von draussen schauen lässt, währenddem sie mit der Mutter vor dem Fernsehen sitzen, in welchem ein ganz anderes Programm läuft. Das Dokumentarische greift so unmittelbar in die Fiktion ein, und das geht zünftig unter die Haut, gerade weil diese Realität vom Staat vertuscht wurde und internationale Medien wenig Zugang zu diesen Ereignissen hatten.

Filmstill «The Seed of the Sacred Fig»

Durch den Griff zum Handy macht Rasoulof aber auch deutlich, welche zentrale Rolle die sozialen Medien in diesen Protesten spielen. Sie sind aus dem Land, aus der Frauenbewegung nicht mehr wegzudenken, geben der Bewegung ein Wir-Gefühl, eine vereinende Kraft, und öffnen den Iraner:innen auch die Pforten zur Welt, in einem Land, in dem die herkömmlichen Medien komplett vom Staat kontrolliert sind. Im ersten Teil von The Seed of the Sacred Fig bleiben wir mit den Mädchen im Haus, ein Huit clos, und dennoch erleben wir mit ihnen über die Mobiltelefone, was draussen vor sich geht. Je mehr die Proteste von der Strasse ins Haus dringen und je mehr sich Iman in seine Arbeit zurückzieht, desto mehr verliert er den Bezug zu seiner Familie und die Kontrolle. Als die Frauen des Hauses durch eine Freundin von Rezvan in den Sog des Geschehens hineingezogen werden, gibt es kein Zurück mehr. Die Geheimnisse breiten sich in der Familie aus, das Rad des Misstrauens kommt ins Rollen.

Politikum Haar

Es sind Bilder, wie wir sie so aus dem Iran nicht kennen, und dies in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur wagt Rasoulof es hier, Handyaufnahmen zu veröffentlichen, die das Regime klar unterdrücken wollte. Er zeigt uns auch einen Körperteil der Frau, den wir im iranischen Kino in der Regel nicht zu sehen bekommen: ihr Haar. Die Schauspielerinnen tragen in den Innenszenen kein Kopftuch – und machen sich damit gemäss iranischer Gesetzgebung strafbar. Das Kopftuch ist im Iran seit der Zeit des Schahs ein Politikum. Als Ayatollah Khomeini 1979 aus dem französischen Exil in den Iran zurückkehrte und die Regierung des letzten Monarchen stürz- te, erhob er das Schwert seiner Revolution als Erstes gegen die Frauen. Nahezu alle Gesetze, die für Frauen in den vorherigen fünf Jahrzehnten soziale Fortschritte bedeuteten, sollten seiner islamischen Ideologie weichen. Dazu gehörte auch die Einführung der Kopftuchpflicht: Seit 1983 ist es im Iran für alle Frauen und Mädchen ab neun Jahren obligatorisch, einen Hijab zu tragen.

Die Haare der Iranerinnen stehen somit stellvertretend fĂĽr ihre Freiheit: Wer sie sehen darf, und vor allem, wer darĂĽber bestimmen darf, ob man sie zeigt oder verbirgt, diese Freiheit ist heftig umstritten im Land der Mullahs. Das Kopftuchverbot unter Schah Reza Pahlevi war fĂĽr viele Frauen ein Freiheitsentzug, die Kopftuchpflicht nach der iranischen Revolution jedoch ebenso. Und so kommt es vielleicht nicht ĂĽberraschend, dass sich an eben jenem StĂĽck Stoff nun eine Debatte entzĂĽndet, die das Regime vor nie gesehene Herausforderungen stellt.

Ich musste zwischen dem Gefängnis und der Ausreise aus dem Iran wählen. Schweren Herzens entschied ich mich für das Exil.

Mohammad Rasoulof, im Mai 2024

Als Imans Waffe spurlos verschwindet, hält die Paranoia endgültig Einzug ins Familienleben. In seiner eigenen Familie fühle er sich nicht mehr sicher, sagt derjenige, der woanders tagtäglich Todesurteile unterschreibt. Als Beamter drohen ihm eine Gefängnisstrafe und der soziale Ruin, wenn die Waffe nicht wieder auftaucht. Vor allem aber gräbt sich ein Keil zwischen ihn und seine Familie. Dabei geht es natürlich um weit mehr als eine verlorene Waffe. Die Waffe symbolisiert so etwas wie das Vertrauen zwischen den Familienmitgliedern, aber auch die Macht, die der Staat auf die Individuen ausüben kann, seine Präsenz bis in die eigenen vier Wände. Irgendwann spricht die Tochter aus, was ein System wie dasjenige im Iran am Leben hält: «You’re on the inside», sagt sie zu ihrem Vater. «Du bist mittendrin, du glaubst daran. Und du willst das System aufrechterhalten, koste es was es wolle.»

Flucht an die Weltpremiere

Logisch, dass Rasoulof für diesen Stoff keine Drehgenehmigung erhielt und ihn heimlich filmen musste, wie schon seine vorherigen Werke. Es ist schon unglaublich, welche Kreativität und künstlerischen Fertigkeiten die iranische Filmindustrie an den Tag legt bei all der Repression. Mit wenigen Mitteln und minimalem Equipment schafft Rasoulof hier ein Meisterwerk, das seinesgleichen unter seinen Mitstreiter:innen im Wettbewerb von Cannes 2024 suchte. An die dortige Uraufführung hätte er eigentlich nicht reisen dürfen; es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er diese verpasst hätte. Seinen Pass hatte das Regime bereits 2017 beschlagnahmt, den Goldenen Bären für There Is No Evil durfte er in Berlin 2020 nicht selber entgegennehmen, seinen Platz als Jurymitglied 2023 in der Sektion Un Certain Regard in Cannes blieb leer. Dieses Mal entschied er sich jedoch zur Flucht, nachdem ihm das Regime während den Dreharbeiten eine achtjährige Haftstrafe auferlegt hatte wegen angeblicher «Gefährdung der nationalen Sicherheit». Hätten sie den Film bereits gesehen, wäre die Strafe aller Wahrscheinlichkeit nach noch erhöht worden.

Den Iran hat Rasoulof zu Fuss über die Berge verlassen, um nach 28 Tagen in Deutschland anzukommen, wo er vor vielen Jahren bereits einmal gelebt hatte. So konnte er wenige Tage nach seiner Ankunft nach Cannes reisen, um die 15-minütige Standing Ovation mitzuerleben. Auf dem roten Teppich hielt er zwei Fotos seiner Hauptdarsteller:innen Soheila Golestani und Missagh Zareh in die Höhe, die im Film die Eltern spielen und beide nicht ausreisen konnten. Sie und ihre Familien werden vom Regime bedroht. Die beiden jungen Frauen, welche ihre Töchter spielen, konnten das Land verlassen und ebenfalls zur Premiere erscheinen. Beide traten auf dem roten Teppich unverschleiert auf. Dass dem Film und dem Regisseur eine grosse Karriere bevorstehen, bleibt unbestritten. In Cannes hat er gleich drei Preise erhalten: Einen Spezialpreis der Jury, den FIPRESCI Award (Preis der internationalen Filmkritik) sowie den Preis der Ökumenischen Jury.

Legt die Waffen nieder

Mohammad Rasoulof war im Gefängnis, als die «Woman, Life, Freedom»-Bewegung im Iran aufkeimte, das war 2022. Zuvor hatte er gemeinsam mit diversen prominenten Vertreter:innen der Filmindustrie eine Petition gegen Polizeigewalt unterzeichnet unter dem Titel «Put Your Gun Down» (Legt die Waffen nieder). Mit dem Aufruf gegen Gewalt soll er die öffentliche Ordnung gefährdet und mit Regimegegnern zusammengespannt haben, und so wurde er einmal mehr inhaftiert. Es war eine Begegnung mit einem Wächter in jenem Gefängnis, die ihn zu The Seed of the Sacred Fig inspirierte: «Eines Tages besuchte ein leitender Angestellter des Evin-Gefängnisses die Zellen der politischen Gefangenen. Er nahm mich beiseite und sagte mir: «Jeden Tag, wenn ich dieses Gefängnis betrete, frage ich mich, wann ich mich an dieser Tür erhängen werde.» Er litt unter starken Gewissensbissen, hatte aber nicht den Mut, sich von seinem Hass auf seine Arbeit zu befreien.» Im Film gibt Rasoulof exakt diese Selbstzweifel, dieses höchst menschliche Hin- und Hergerissensein wieder.

Dabei spannt der 52-Jährige den dramaturgischen Bogen mehrmals neu, streut Wendungen oder Informationen ein, die die Komplexität der Situation noch vertiefen. Und doch schafft er es, diesen Dreistünder wie aus einem Guss zu gestalten. Brillant vertieft er jede einzelne Figur, gibt ihnen Zeit zur Entwicklung und lässt niemanden einfach stehen. Er lässt sie die Stadien der Naivität, Zweifel, Wut und Rebellion alle in ihrem eigenen Tempo durchleben. Hier verschwestern sich zwei, dort geraten sie aneinander. Verkörpert werden diese Charaktere von einem hervorragenden Schauspielensemble, dem man stundenlang weiter zusehen könnte. Was den Film so unglaublich packend macht, ist die Menschlichkeit, von der er in jeder Pore durchtränkt ist. Wie reagiert der Mensch in einem repressiven Staat wie dem Iran auf einen Vertrauensbruch? Und wie behält er seine Menschlichkeit, gegenüber sich selbst, seinen Mitmenschen, seiner Familie, wenn er höchst unmenschliche Anweisungen befolgen soll?

Der Same des Feigenbaums

Ganz neu ist dieser Fokus nicht, Rasoulof hat sich bereits in There Is No Evil ausgiebig mit der (Un)möglichkeit individueller Entscheide in einem totalitären Staat beschäftigt. Und doch ist The Seed of the Sacred Fig sein politischster Film bisher, auch nach Manuscripts Don’t Burn (2013) oder A Man of Integrity (2017), die ebenfalls beide in Cannes uraufgeführt worden waren. The Seed of the Sacred Fig wechselt vom Kammerspiel zum Thriller, als das Drama um die verlorene Waffe seinen Lauf nimmt und der Vater die Kontrolle verliert. Vom Huit clos-Setting nimmt uns Iman zum Schluss mit in ein verlassenes Dorf und schlussendlich in eine Dorfruine in den Bergen, wo es zum grossen Showdown kommt, einem Katz- und Mausspiel schlechthin.

Und wo bleibt da die Hoffnung? Oder zumindest ein Keim davon? Er ist titelgebend in diesem Meisterwerk; der heilige Feigenbaum, von dem es auch im Iran noch einige gibt, hat einen ungewöhnlichen Lebenszyklus: Seine Samen fallen durch Vogelkot auf die Äste anderer Bäume. Die Samen keimen dann, und ihre Wurzeln wandern in Richtung Boden. Wenn die Wurzeln den Boden erreichen, steht der heilige Feigenbaum auf seinen eigenen Füssen und seine Zweige erdrosseln den Wirtsbaum. Man kann diesen Titel in beide Richtungen deuten. Als Analogie zu den Spionen und der Sittenpolizei, die die Gesellschaft bewachen, die Ordnung für das Regime gewährleisten und bereit sind, gar die eigene Familie zu zerstören. Oder aber als Symbol für die Frauen, die Präsenz markieren, um auf eigenen Füssen zu stehen, und langsam, aber sicher das patriarchale System zu Fall zu bringen. Wir hoffen auf das Letzte. Es wäre das Mindeste, was Mahsa Amini und all den mutigen Frauen auf Irans Strassen an Gerechtigkeit zustehen würde.

portrait Mohammad Rasoulof

Mohammad Rasoulof:

Mohammad Rasoulof wurde 1972 in Shiraz geboren. Er begann seine künstlerische Aktivität im Alter von neun Jahren, als er im Theater von Shiraz auftrat und betätigte sich später als Regisseur sowie als Autor fürs Theater. Er studierte Sozialogie an der Shiraz University und Filmschnitt am Sooreh Hig…

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