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Ein Glückskeks von Film
Die 20-jährige Afghanin Donya kann nicht mehr schlafen. Die einstige Übersetzerin, die für die US-Regierung in Afghanistan arbeitete, lebt mittlerweile mit anderen Geflüchteten im kalifornischen Fremont und arbeitet für eine Glückskeks-Fabrik. Als sie zufällig befördert wird, bricht sie aus ihrem Alltag aus und begibt sich auf eine persönliche Reise. Der iranstämmige Regisseur Babak Jalali inszeniert Fremont mit viel Feingefühl und lakonischem Humor. Sein Film ist eine Perle, die glücklich macht.
Apathisch blickt die 20-jährige Afghanin Donya auf die dampfenden Maschinen der Glückskeks-Fabrik. Mit Haarnetz und Uniform beobachtet sie die metallischen Zapfsäulen, aus denen zähflüssiger Teig herausgepresst und zu dünnen, kreisrunden Plätzchen verarbeitet wird. Auf einem kleinen weissen Zettelchen steht geschrieben: «Now is a good time to explore.» Solche und andere Weisheiten legt sie in die flachen Kekse hinein, bevor sie zu Schiffchen geformt werden. Die Arbeit ist monoton und langweilig, aber immerhin gibt es nette Arbeitskolleginnen für einen Schwatz. Doch Donya hat noch ganz andere Probleme. Sie leidet unter Schlafstörungen.
Die einstige Übersetzerin, die für die US-Regierung in Afghanistan arbeitete, musste vor den Taliban fliehen. Jetzt wohnt sie allein in einem Gebäudekomplex für afghanische Geflüchtete in der Kleinstadt Fremont in Kalifornien. Ihre Familie musste sie in Afghanistan zurücklassen, was Donya ein schlechtes Gewissen bereitet. Jeden Abend liegt sie mehrere Stunden wach, bevor der Wecker zur Arbeit klingelt. Es müssen Medikamente her! Ein Bewohner verschafft ihr einen Termin beim Psychiater, der ihr Schlaftabletten verschreiben soll. Doch anstelle von Pillen gibt es Ratschläge. Sie solle doch eine Gesprächstherapie beginnen und von jetzt an jede Woche zu ihm kommen, was sie schliesslich wiederwillig annimmt. Als eine Mitarbeiterin in der Fabrik plötzlich stirbt, wird Donya befördert. Sie darf ab sofort die Sinnsprüche für die Glückskekse schreiben. Psychiater Dr. Anthony rät ihr diese Chance zu nutzen, um ihr Innenleben zu Papier zu bringen. Donya wird kreativ und schreibt verschiedene Einzeiler auf, die in ganz Fremont gelesen werden. Eines Tages hat sie die Idee, dass sie eine persönliche Botschaft in die Welt hinausschicken könnte. So schreibt sie aufs Papier «Desperate for a Dream» sowie ihren Namen und ihre Telefonnummer auf. Nach einigen Tagen meldet sich tatsächlich eine unbekannte Person via SMS. Kurzerhand beschliesst sie einen Road-Trip zu machen, um die Person zu treffen. Wird Donya ihr persönliches Glück finden?
Regisseur Babak Jalali wurde 1978 in Gorgan im Norden Irans geboren und lebt seit 1986 vorwiegend in England. Er hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaften der University of London und ein Diplom der London Film School. Während seines Studiums drehte er mehrere preisgekrönte Kurzfilme. Sein erster Spielfilm Frontier Blues aus dem Jahr 2009 lief im Wettbewerb in Locarno und verhalf ihm zum Durchbruch – in der Schweiz brachte ihn trigon-film in die Kinos. Schon damals bewies er sein Flair für lakonischen Humor à la Aki Kaurismäki oder Jim Jarmusch. Die Filmballade handelte von drei Männern und einem Esel, die im nordiranischen Grenzland nahe Turkmenistan auf bessere Zeiten warten. Jalalis Gespür für Humor, Feinfühligkeit sowie einzigartige Charaktere zeigt sich auch in seinem neusten und ersten englischsprachigen Film Fremont, der dieses Jahr am Sundance Film Festival seine Weltpremiere feierte.
In wunderbaren schwarzweiss und 4:3 kadrierten Bildern blicken wir auf Donyas Leben, das belastet ist von der Vergangenheit. Der Film betrachtet das Thema Flucht und Migration auf andere Weise, als es die gängigen Dramen tun. Fremont ist beflügelt von feinem lakonischen Humor. In teils langen Einstellungen setzt Babak Jalali auf Alltagsszenen und schafft aus ihnen heraus irrwitzige und kuriose Momente. So gibt es etwa eine herrliche Szene, in der Donya nachts wach im Bett liegt. Ihr Telefon klingelt. Am andere Ende ist ihre gute Freundin Joanna von der Glückskeks- Fabrik. Sie teilt ihr mit, dass sie gerade gelesen habe, dass ein Einzelbett ganz schlecht sei, um einen Partner zu finden. Es sei nicht einladend. Darauf gibt Donya trocken zurück, dass in ihrer Flüchtlings-Wohnung kein grösseres Bett Platz hätte. Joanna sagt dann OK und wünscht Donya eine gute Nacht. Jalali schneidet auf Joanna, wie sie im Bett neben ihrer Mutter liegt. Sie hat zwar ein Doppelbett, lebt aber immer noch zu Hause bei ihrer Mutter. Als Donya befördert wird, schenkt ihr der chinesische Chef der Fabrik einen Kopfmassage-Stab. Der helfe ihm immer beim kreativen Denken. Er gibt ihr noch den Tipp auf den Weg, dass die besten Glückskeks-Schreibenden diejenigen sind, die sich in der Liebe auskennen und sich selber lieben.
Der Film hat auch seine tiefgründigen Szenen, die das Thema Flucht auf feinfühlige Weise betrachten. Wie fühlt es sich an, in einem neuen Land zu leben, in dem man niemanden kennt? Soll man versuchen, ein neues Leben aufzubauen, oder abwarten, falls man wieder zurückkehren kann? Darf man überhaupt über Liebe und Partnerschaft nachdenken, während andere Frauen noch in Kabul sind? Einmal spricht Donya mit einer anderen Afghanin, die auch bei ihr im Haus wohnt. Sie ist Mutter und fragt Donya, was sie ihrem Kind hier lehren könne. Alles, was sie wisse, sei doch auf der anderen Seite des Planeten. Sie fragt Donya, ob denn traurige Mütter auch traurige Kinder hätten. Donya antwortet in ihrer ruhigen Art, dass die Kollegin sich nicht isolieren solle. Das sei die beste Hilfe. Solche Szenen gehen unter die Haut.
Fremont beeindruckt auch mit seiner tollen Besetzung. Babak Jalali setzt auf Laiendarstellende wie Profis. Hervorragend ist Anaita Wali Zada, die die Hauptfigur Donya verkörpert. Sie ist eine wahre Entdeckung. Zada stammt aus Afghanistan und ist 2021 in die USA geflüchtet. In ihrer Heimat arbeitete sie als Journalistin fürs staatliche Fernsehen. Sie sah die Ausschreibung fürs Film-Casting, hat sich spontan gemeldet und erhielt die Rolle, was sich als absoluter Glücksgriff erwies. Anaita Wali Zada hat eine unglaubliche Präsenz und zaubert mit ihrem natürlich menschlichen Spiel den lakonischen Humor perfekt auf die Leinwand. Sie schafft es, auch die verletzliche Seite von Donya, die zwischen zwei Welten lebt und von Flucht und Einsamkeit geplagt ist, sichtbar zu machen. Neben Zada glänzt der Komiker und Schauspieler Gregg Turkington als schrulliger Psychiater Dr. Anthony. Gegen Ende hat Golden-Globe-Gewinner Jeremy Allen White, der aus der Serie The Bear bekannt ist, einen betörenden Gast-Auftritt als einsamer Automechaniker. Fremont ist ein feines Filmjuwel, dass zum Schmunzeln und Nachdenken anregt. Eine Art Glückskeks eben.
Babak Jalali:
Babak Jalali wurde 1978 in Gorgan im Norden Irans geboren und lebt seit 1986 vorwiegend in London. Er hat einen Master-Abschluss in Politikwissenschaften der University of London und ein Diplom der London Film School. Während seines Studiums drehte er drei Kurzfilme: «A Trip to the Coast» (2002), «…
Fremont
Artikel veröffentlicht: 19. Oktober 2023
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