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Gefrorene Träume
Der junge Städter Haofeng reist für eine Hochzeit aus Shanghai ins winterliche Yanji. In der chinesischen Stadt an der Grenze zu Nordkorea lernt er die charmante Reiseleiterin Nana und deren Freund Xiao kennen. Innert kürzester Zeit kommen sich die drei näher. Während ihren Streifzügen durch Clubs und die verschneite Landschaft tauen ihre Sehnsüchte auf. Vor wunderschöner Kulisse bietet Regisseur Anthony Chen einen atmosphärisch dichten Einblick in das Lebensgefühl der Generation Z.
Mit geschlossenen Augen zerbeisst Haofeng einen Eiswürfel. Das Knacken durchdringt seinen Körper und für einen kurzen Moment scheint seine Umgebung ganz fern. Dabei befindet sich der junge Mann Anfang zwanzig mitten auf der Hochzeitsfeier eines ehemaligen Klassenkameraden. Doch im Umgang mit seinen alten Freunden hält er sich zurück und an den Festlichkeiten nimmt er nur widerwillig teil. Haofeng, der in Shanghai im Finanzwesen arbeitet, wirkt ebenso abwesend wie verloren. Als er einen Anruf einer psychiatrischen Beratungsstelle erhält, blockt er diesen ab.
Nanas Welt
Seine Zeit in Yanji im Nordosten Chinas nutzt Haofeng lieber für einen Ausflug. Dabei trifft er auf die gleichaltrige Reiseleiterin Nana, die chinesische Besucher:innen mit dem Bus durch die Grenzstadt fährt, um ihnen koreanische Traditionen näherzubringen. So bereitwillig sie für ihre Gäste ein Lächeln aufsetzt, so rasch verschwindet dieses aus ihrem Gesicht, sobald sie sich abwendet. Nana, die ihre Heimat verlassen und nach Yanji gezogen ist, um einen schweren Schicksalsschlag hinter sich zu lassen, wirkt ähnlich orientierungslos wie Haofeng. Schnell kommen die beiden ins Gespräch.
Die Tour endet in einem koreanischen Restaurant, das von der Familie von Xiao betrieben wird. Der gutmütige, aber frustrierte Schulabbrecher hilft seiner Tante tagein, tagaus im Lokal aus – und buhlt beharrlich um Nanas Zuneigung. Die hat jedoch andere Pläne als eine Verabredung in trauter Zweisamkeit: Kurzerhand lädt sie Haofeng ein, den Abend mit ihr und Xiao zu verbringen. Letzterer reagiert anfangs zwar genervt, überwindet seine Vorbehalte jedoch schnell. Bereits nach kurzer Zeit stellt sich in der Gruppe eine gewisse Vertrautheit ein. Als Haofeng am nächsten Morgen seinen Rückflug nach Shanghai verpasst, ermutigen ihn Nana und Xiao gar, noch ein paar Tage zu bleiben. In der Folge beobachten wir, wie sich die Dynamik zwischen den drei jungen Menschen über den Verlauf eines Wochenendes leise wandelt.
Winterlicher Schauplatz
Mit The Breaking Ice kehrte Anthony Chen 2023 ans Festival von Cannes zurück. An der Croisette machte der Regisseur aus Singapur vor zehn Jahren mit seinem Spielfilmdebüt Ilo, Ilo (2013) erstmals von sich reden. Für das warmherzige Werk um einen kleinen Jungen und seine Nanny gewann Chen damals die Caméra d’Or, die Auszeichnung für das beste Erstlingswerk (trigon-film brachte die Perle in die Schweizer Kinos und auf DVD wie im Streaming heraus). Während Anthony Chen die Handlung von Ilo, Ilo noch in seiner tropischen Heimat ansiedelte, vollzieht er in The Breaking Ice einen Ortswechsel ins kalte Grenzgebiet zwischen China und Nordkorea.
Das war eine Entscheidung, die nicht von ungefähr kam. So unterstreicht der unverwechselbare, winterliche Schauplatz auf subtile, aber aussagekräftige Weise die Lebensumstände der jungen Protagonist:innen, die scheinbar feststecken und deren Leben wie eingefroren wirken. Die Stadt Yanji mit ihrer grossen koreanischen Gemeinde, die im Schatten der nordkoreanischen Grenze ihre kulturelle Identität bewahrt, macht sowohl die Isolation als auch die Verbundenheit der Figuren deutlich.
Auch Haofeng, Nana und Xiao sind als Fremde in Yanji gestrandet. Während sie sich an diesem für sie unbekannten Ort auf Identitätssuche begeben, wird ihr Zusammenhalt zur dringend benötigten Rettungsleine. Ebenso wie Wasser, das bei kalten Temperaturen in Kürze von einem flüssigen in einen festen Aggregatzustand übergeht, scheinen auch sie sich zueinander zu verhalten. Innerhalb weniger Stunden und Tage finden die drei Aussenseiter:innen zusammen und entwickeln eine Beziehung, die alle nachhaltig prägt.
The Breaking Ice entstand aus einem Impuls und aus Spontaneität heraus. Das ist ein Film, den ich in kürzester Zeit von der Idee bis zur Fertigstellung realisiert habe. Es ist das verrückteste Unterfangen, das ich seit langer Zeit in Angriff genommen habe. Es war für uns alle ein Sprung ins kalte Wasser. Ein wildes Abenteuer in einem kalten, eisigen Winter, für mich auch ein Liebesbrief an die jungen Menschen in China.
Generation Z
Dem feinfühligen Drehbuch von Anthony Chen ist es zu verdanken, dass sich sämtliche Figuren durch ihre charakterliche Tiefe auszeichnen. Gleichzeitig lassen die Lücken in den Hintergrundgeschichten der drei Protagonist:innen Raum für Projektionen. Haofeng, Nana und Xiao sind von Sorgen, Frustrationen und Ängsten geplagt, die sie nur selten artikulieren. Doch ihre vielen Momente der Selbstbeobachtung verraten ebenso viel, wie sie aussparen. Hier beweist Chen sein ausgeprägtes künstlerisches Talent, in der Zurückhaltung viel auszudrücken. Der Film besticht durch berührende Szenen, die weniger die Erzählung vorantreiben, als vielmehr ein Gefühl für die Figuren und deren Beziehung untereinander schärft. Etwa wenn die drei Freunde den nordkoreanischen Grenzzaun entlangspazieren, einen nächtlichen Ausflug in den Zoo unternehmen oder sich in den hohen Gängen eines Eislabyrinths verirren. Nach und nach fügt Chen mit leichter Hand ein Porträt der Generation Z zusammen. Die Reflexionen über Enttäuschung und Stillstand dürften bei einem breiten Publikum auf grosse Resonanz stossen – unabhängig vom kulturellen Hintergrund.
Anhony Chen zeigt junge Erwachsene, die sich nach geistiger Freiheit sehnen. Im Weg stehen ihnen physische wie psychische Grenzen. Doch je länger Haofeng, Nana und Xiao durch die malerischen, verschneiten Landschaften streifen, desto mehr realisieren sie, dass die Grenzen, die sie sich selbst auferlegt haben, womöglich ebenso willkürlich sind wie jene Grenze, die China von Nordkorea trennt. In kraftvollen Szenen entlädt sich immer wieder die unterdrückte Energie, die in den Dreien schlummert. Beispielsweise wenn sie ausgelassen durch eine Buchhandlung sprinten und wetteifern, wer das dickste Buch entwenden kann – eine Hommage an Truffauts Jules et Jim (1962) und den rebellischen Geist der Nouvelle Vague.
Sensible Inszenierung
Getragen wird The Breaking Ice nicht zuletzt vom hervorragenden Spiel der drei in China allesamt bekannten Hauptdarsteller:innen. Zhou Dongyu als Nana, Liu Haoran als Haofeng und Qu Chuxiao als Xiao verkörpern ihre Rollen mit viel Fingerspitzengefühl und natürlicher Verletzlichkeit. Chen kontaktierte Zhou Dongyu, mit der er bereits für seine Episode des Anthologiefilms The Year of the Everlasting Storm (2021) zusammengearbeitet hatte, noch bevor er mit dem Drehbuch begann. So liess er denn während des Schreibens auch biografische Elemente der Schauspielerin in die Figurenzeichnung miteinfliessen. The Breaking Ice ist ein Filmjuwel, das sich reich an Gefühlen präsentiert und durch seine sanfte Melancholie auszeichnet. Dank seiner sensiblen Inszenierung gelingt es Anthony Chen, die komplexen und intimen Beziehungen, die zwischen Fremden in kürzester Zeit entstehen können, auf poetische Art und Weise abzubilden. Vor eisiger Kulisse zeigt er mit viel Wärme, dass selbst wenn das Leben oftmals allein gelebt werden muss, scheinbar unüberwindbare Grenzen manchmal nur gemeinsam zum Schmelzen gebracht werden können.
Anthony Chen:
1984 in Singapur geboren, entwickelt Anthony Chen schon sehr früh eine Leidenschaft fürs Kino. Mit 17 tritt er in die «Ngee Ann Polytechnic School of Film and Media Studies» ein. Sein Abschlussfilm G-23 wurde rund um die Welt an Festivals gezeigt und ausgezeichnet. Der zweite Kurzfilm Ah Ma (Grossm…
The Breaking Ice
Artikel veröffentlicht: 5. Februar 2024
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