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Reise ins Niemandsland
Die Mexikanerin Fernanda Valadez erzählt in ihrem Spielfilmerstling «Sin señas particulares» die Geschichte von Magdalena, einer Mutter, die sich trotz aller Warnungen auf die Suche nach ihrem spurlos verschwundenen Sohn macht. Ihre Reise führt sie ins Grenzgebiet zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten, wo sie vielen begegnet, die ihr Schicksal teilen. Was mit ihrem Teenager passiert ist, ist kein Einzelfall. Ein visuell starkes und emotional packendes Spielfilmdebüt, das tief unter die Haut geht.
Wir blicken aus einem Fenster auf ein Feld hinaus. Vom Feld ist jedoch nicht viel auszumachen, da die Abenddämmerung bereits hereingebrochen ist. Weisslicher Rauch überzieht die Landschaft, was die Sicht noch zusätzlich erschwert. Da erscheint in der Ferne eine Gestalt. In schnellen Schritten läuft das Schattenwesen in unsere Richtung, bald erkennen wir, dass es sich dabei um einen Teenager handelt. Unser Blick bleibt an ihm haften. Der Junge nähert sich dem Hauseingang, bleibt dort stehen. Mit einer Hand stützt er sich erschöpft am Türrahmen ab, sichtlich gezeichnet von der strengen Feldarbeit. Er nimmt seine Mütze ab, atmet tief ein, sein Blick direkt in die Kamera gerichtet, sagt er: «Ich gehe mit Rigo. Sein Onkel wird uns Arbeit in Arizona finden.»
Perspektivenwechsel
Der Film wechselt mit einem Schnitt die Szenerie. Zwei Frauen sitzen nun nebeneinander am Tisch auf einem Polizeiposten. Die Situation gleicht einem Verhör. Erwartungsvoll schauen sie in Richtung des Polizisten, der nicht im Bild zu sehen ist. Sie erzählen mit gebrochener Stimme, dass sich ihre befreundeten Söhne Jesús und Rigo gemeinsam mit dem Bus 670 in Richtung der US-amerikanischen Grenze begeben haben. In der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch seit Wochen haben die beiden Mütter nichts mehr von ihnen gehört. Die Kamera verharrt auf den beiden Frauen, und wir hören aus dem Off die anteilnahmslose Antwort des Polizisten, dass die Behörden leider nichts für die Mütter tun können.
Mit diesen zwei intensiven Szenen beginnt das Spielfilmdebüt der Mexikanerin Fernanda Valadez, die am Drehbuch mitschrieb, Regie führte und als Produzentin mitwirkte. Seit dem Valadez im Jahr 2012 verschiedene Medienberichte über spurlos verschwundene mexikanische Emigranten und die damit verbundene humanitäre Krise las, lässt sie das Thema nicht mehr los. Intensiv arbeitete sie an diesem Film. Wie sehr es ihr dabei um einen Perspektivenwechsel geht, zeigt die beschriebene Anfangssequenz. Valadez will die Perspektive jener Menschen zeigen, die von Staat und Polizei im Stich gelassen sind: Minderjährige, verchwundene Emigranten und ihre Mütter, die auf der Suche nach ihnen sind. Sie will den Unsichtbaren ein Gesicht verleihen und ihre Geschichte erzählen.
Schon beim Schreiben war uns klar, dass wir keine explizite Gewalt zeigen wollten. Das hat damit zu tun, dass wir Empathie für alle Figuren schaffen wollten. Wir wollten menschliche Figuren, zu denen das Publikum eine Beziehung aufbauen kann und erkennt, dass es, wenn die Umstände gegeben sind,vielleicht auch so handeln könnte.
Fernanda Valadez
Einige Wochen nach dem Besuch auf dem Polizeiposten taucht die Leiche von Rigo auf. Doch von Jesús fehlt jegliches Lebenszeichen. Seine Mutter Magdalena ist nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Sie glaubt daran, dass ihr Sohn noch lebt. Obwohl ihr die Polizei rät, ihren Sohn auch als Tod zu erklären, und allen Warnungen zum Trotz macht sich Magdalena alleine auf die gefährliche Suche nach ihm. Nur: Wie findet man einen Teenager unter all den hunderten von minderjährigen Vermissten? Ihre mühselige Reise führt sie ins Grenzgebiet von Mexiko und den USA. In diesem Niemandsland begegnet sie dem jungen Miguel. Er war zuvor illegal in die Vereinigten Staaten eingereist, wurde aber von der Polizei erwischt und aus dem Land spediert. Nun ist er ohne Hab und Gut im Grenzgebiet gestrandet. Sie beschliessen, sich gemeinsam auf die Reise zu begeben – Magdalena auf der Suche nach ihrem Sohn und Miguel mit der Hoffnung, seine Mutter wiederzusehen. Auf ihrer Odyssee treffen sie auf Menschen, die ihr Schicksal teilen. Schritt für Schritt kommen sie der traurigen Wahrheit näher, denn was mit Jesús passiert ist, scheint kein Einzelfall zu sein.
Kaum eine andere Landesgrenze steht seit zwanzig Jahren sowohl politisch, kulturell als auch medial so sehr im Fokus wie die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten. Insgesamt 3.144 Kilometer ist sie lang; sie ist eine der weltweit am häufigsten überquerten Grenzen. Der Versuch, die Grenze zu überschreiten, kostet jährlich hunderte Menschen das Leben. Denn die Emigranten geraten oft in die Fänge von Schleppern, gewalttätigen Drogenbanden oder korrupten Grenzbeamten und sind diesen schutzlos ausgesetzt. Immer wieder machen Funde von Massengräbern Schlagzeilen in den Medien. Besonders seit Donald Trumps Wahlkampf-Versprechen, eine Grenzmauer zu errichten, gewann die Grenze nochmals an symbolischer wie politischer Bedeutung.
Border-Filme
An dieser Grenzlinie werden Machtkämpfe und Abschottungsversuche sichtbar. Gleichzeitig ist die Zwischenzone am mexikanisch-amerikanischen Grenzstreifen auch mit vielen Klischees behaftet. Das Hollywood-Kino hat dafür sogar ein eigenes Genre entwickelt: Der so genannte Border-Film. Actiongeladene Hochspannungsthriller, in denen es um blutige Kämpfe zwischen den verschiedenen Drogenkartellen geht oder um abgebrühte Grenzpolizistinnen und Grenzpolizisten, die versuchen, den eiskalten Schmugglern das Handwerk zu legen. Sie sind geprägt von extremer Gewaltdarstellung und stereotypen Figuren. Beispiele dafür sind Sicario von Denis Villeneuve oder La Linea von James Cotten mit Ray Liotta in der Hauptrolle.
Diese Filme sind auf Unterhaltung ausgerichtet, sie thematisieren die politischen oder gesellschaftlichen Konflikte, wenn überhaupt, nur oberflächlich. Neben ihnen ist Sin señas particulares eine frische und willkommene Abwechslung. Ja, sogar ein Glücksfall für das gegenwärtige Kino. Denn, obwohl der Film im Grenzgebiet spielt und diese Themen behandelt, vermeidet Regisseurin Fernanda Valadez ausdrücklich die Thriller-Situation à la Sicario. Sie verfolgt einen humanistischen Ansatz, um die Abgründe, die das ganze Land verschlingt, aufzuzeigen. So wählt sie eine alltägliche Frau mittleren Alters als Hauptfigur, eine Figur, die im Kino meist nicht im Mittelpunkt steht.
Eine gewöhnliche Frau
Diese gewöhnliche Frau erlaubt es uns als Zuschauer:innen, uns mit ihr zu identifizieren. Wir sind immer ganz nahe bei Magdalena und begleiten sie auf ihrer mühseligen Suche nach ihrem Sohn. Wir sind dabei, wenn sie etwas herausfindet, aber auch dann, wenn sie Rückschläge einstecken muss. Gezielt setzt die Filmemacherin in solchem Momenten auf Grossaufnahmen von Magdalenas Gesicht aus verschiedenen Blickwinkeln, wodurch wir mit ihr aus dem Moment heraus fühlen können. In derselben Konsequenz setzt die Regisseurin oft auf Point-of-View Shots, also Kameraeinstellungen, die die subjektive Sicht der Figur zeigt. Wir blicken aus den Augen von Magdalena und fühlen mit ihr mit. Strukturiert ist Sin señas particulares wie ein Roadmovie und Regisseurin Valadez bedient sich an dessen Stilmitteln und Motiven. Magdalena ist ständig unterwegs. Sobald sie einen neuen möglichen Hinweis zu ihrem Sohn gefunden hat, fährt sie ihre Suche fort. Die Handlung spielt denn auch überwiegend auf Strassen im Auto, Bus oder Truck, und immer wieder wird – wie im Roadmovie üblich – von der Handlung abgeschweift und die vorbeiziehende Landschaft ins Bildfeld gerückt. Während die Reise im Roadmovie zur Metapher für die Suche nach Freiheit wird, steht die Reise hier für den unermüdlichen Kampf für Gerechtigkeit. Ist es nicht interessant, dass Valadez einen Film, bei dem es um Grenzen geht, als Roadmovie konzipiert?
Unglaublich virtuose Kamerafrau
Sin señas particulares ist unglaublich fesselnd erzählt und inszeniert. Oft lässt uns der Film mit den Figuren im Dunkeln, was die dramatische Spannung erhöht. Wird Magdalena ihren Sohn finden? Ist dieser Hinweis eine Falle? Meinen es die Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet, gut oder böse mit ihr? Ein weiteres Stilmittel, um Suspense zu erzeugen, sind die unglaublich virtuosen Aufnahmen von Kamerafrau Claudia Becerril Bulos. Es sind akribisch genau komponierte Bilder, die die Erzählung vorantreiben.
Zudem arbeitet Valadez immer wieder gezielt mit Unschärfen. So sind die Gesichter der Figuren in Grossaufnahme aufgenommen, während der Hintergrund unscharf bleibt. Dies hat den Effekt, dass wir als Zuschauer:in mit der Figur im Ungewissen gelassen werden. Lauert im Hintergrund eine Falle? Wer tritt vom Hintergrund in den Vordergrund? Sin señas particulares ist ein Film, der einen von der ersten Minute packt und nicht mehr loslässt: Mit ihrem selbstbewussten, bildstarken und packenden Spielfilmdebüt beweist Fernanda Valadez, dass sie eine neue, spannende Stimme aus Mexiko ist. Beim Sundance Film Festival, dem einflussreichsten nordamerikanischen Filmfestival für Independent Film, wurde Sin señas particulares mit dem Publikumspreis geehrt und von der Jury mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Der Film ist in jeder Hinsicht beeindruckendes Kino.
Fernanda Valadez:
Die Regisseurin und Produzentin Fernanda Valadez wurde 1981 in Guanajuato in Mexiko geboren. Ursprünglich studierte sie Philosophie und Lateinamerikastudien, stellte dann aber fest, dass sie sich nicht über Konzepte ausdrücken, sondern Emotionen durch Geschichtenerzählen näher kommen wollte. Schrif…
Sin señas particulares
Artikel veröffentlicht: 17. September 2023
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