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Verlust und Heilung
Angie und Pat sind ein gut situiertes Paar Mitte 60 und wohnen seit über 30 Jahren gemeinsam in Pats gemütlicher Eigentumswohnung in Hongkong. Als Pat eines Nachts überraschend stirbt, ist Angie der Gnade ihrer Familie ausgeliefert. Da kein Testament vorliegt, ist Pats Bruder automatisch Erbe des Nachlasses, inklusive der Wohnung. Ray Yeung liefert ein sensibles Drama, in dem er die Frage nach der Bedeutung des Begriffs «Familie» im modernen Kontext stellt, mit einer leisen Heldin im Zentrum.
«Alles wird gut.» Wie oft haben wir diesen Satz im Kino schon gehört? Unzählige Male, in denen wir zugleich gelernt haben, diesen Worten zu misstrauen. Denn nicht nur ist etwas, das gut werden soll, sehr wahrscheinlich vorher suboptimal gewesen. Allzu oft auch stellt sich der Sager dann als reine Beschwichtigungsfloskel heraus, heisse Luft und nichts dahinter.
Der Fall liegt in All Shall Be Well von Ray Yeung – bei der diesjährigen Berlinale mit dem Teddy Award als Bester Spielfilm ausgezeichnet – etwas anders. Yeung, der wie so oft ein eigenes Drehbuch verfilmt, verengt den Begriff des guten Ausgangs nicht auf den des Happy Ends – das komplexen Gemengelagen ohnehin meist nur ungenügend gerecht wird. Vielmehr ist der gute Ausgang, den seine Geschichte nimmt, nicht ohne Bitterkeit und nicht ohne Verlust, und zwar für alle Beteiligten gleichermassen. Mit der schlichten Opposition von Sieg und Niederlage kommt man dem Vorliegenden also nicht bei – es spiegelt sich in ihm vielmehr ein Aushandlungsprozess zwischen Parteien, die mit unterschiedlichen Handicaps, widerstreitenden Interessen und ohne es eigentlich zu wollen aufs Konfliktfeld geschickt werden.
International geprägt, verankert in Hongkong
Ray Yeung ist in der Welt schon ziemlich herumgekommen. Geboren und aufgewachsen in Hongkong, wechselt er als 13-Jähriger auf ein Internat nahe London; nach dem Schulabschluss studiert er in Neuseeland Jura; danach arbeitet er als Anwalt in England. Er stellt fest, dass ihm das nicht liegt, und wechselt in den Kulturbereich, schreibt und inszeniert zwei Bühnenstücke, dreht erste Kurzfilme. 2000 revitalisiert er das Hong Kong Lesbian and Gay Film Festival, dessen Vorsitzender er seither ist. 2006 stellt er mit Cut Sleeve Boys seinen nach eigenem Drehbuch inszenierten Debütspielfilm vor; er handelt von einem Freundeskreis asiatischstämmiger Schwuler in London, denen bewusst wird, dass die ewige Party sich dem Ende nähert und lebenswegweisende Entscheidungen anstehen. 2013 schliesst Yeung ein Filmstudium an der New Yorker Columbia University ab. 2015 folgt mit Front Cover sein nächster Film, neuerlich nach eigenem Drehbuch: dies die in New York angesiedelte Geschichte eines US-amerikanischen homosexuellen Stylisten, der mit seinen chinesischen Wurzeln nichts zu tun haben will – bis er es mit einem nationalstolzen, vermeintlich heterosexuellen Schauspieler aus Peking zu tun bekommt.
‹All Shall Be Well› befasst sich mit dem brisanten Thema der Rechte von Hinterbliebenen bei gleichgeschlechtlichen Paaren und mit den sehr emotionalen Themen der trauernden Familien und der Familiendynamik. Unser Film stellt die Frage nach der Bedeutung des Begriffs ‹Familie› im modernen Kontext. Haben Blutsverwandte automatisch mehr Rechte als ein Lebenspartner? Was ist wichtiger – Eigentümer oder jahrelange persönliche Beziehungen und gemeinsame Geschichten?
Ray Yeung
Nach diesen cross-kulturellen Erkundungen kehrt Yeung 2019 mit Suk Suk in seine alte Heimat zurück; er legt einen sanftmütigen Film vor, der, basierend auf dem dokumentarischen Buch «Oral Histories of Older Gay Men in Hong Kong» von Travis S.K. Kong, die späte Liebe zweier älterer Herren schildert, die das Coming-out nicht zuletzt aufgrund ihrer familiären Verpflichtungen nicht wagen. Ein Film von grosser emotionaler Kraft, an den Yeung mit All Shall Be Well anknüpft, in dem er, nun wieder nach eigenem Drehbuch, von Angie Wang und Pat Wu erzählt, zwei liebenswürdigen Damen Mitte Sechzig, die schon lange ein Paar sind.
Ein Frauenpaar bittet die Familie zu Tisch
Zu sehen ist diese über Jahrzehnte gewachsene Vertrautheit gleich zu Beginn in den ineinandergreifenden Bewegungen, mit denen die beiden in der Küche das Frühstück bereiten, später gemeinsam vor dem Spiegel sich der Kosmetik widmen, danach zusammen einkaufen gehen für die abendliche Feier des Mondfestes. Pats grosse Familie kommt zu Besuch: Bruder Shing, Schwägerin Mei, die Nichte mit ihrem Mann und den beiden Kindern, der Neffe mit seiner neuen Freundin, mit der es endlich klappen soll und ernsthaft werden. Es ist ein heiterer Abend, in dessen Verlauf allerdings auch ein ökonomisches Gefälle offenbar wird.
Angie und Pat sind sichtlich gut situiert, nicht nur richten sie das opulente Festmahl aus, Pat öffnet zur Feier des Tages sogar eine teure Flasche, die eigentlich als Geldanlage gedacht war. Und auch der Neffe profitiert, ihm wird heimlich Geld zugesteckt, damit er sich die Reparatur seines Autos leisten kann. Pats Bruder hingegen sieht sich nach langer Arbeitslosigkeit dazu gezwungen, einen Job als Nachtwächter in einem Parkhaus anzunehmen, seine Frau, die in einem billigen Hotel die Zimmer putzt, verdient einfach nicht genug. Shing und Mei ist anzusehen, dass das ewige Sich-nach-der-Decke-Strecken an ihnen ein Zermürbungswerk verrichtet. Später wird man auch sehen, in welch beengten Verhältnissen die Wus wohnen: Es sind heruntergekommene, winzige Bruchbuden in gigantischen, schlecht gewarteten Betonblöcken. Wohingegen die beiden Tantchen, wie sie genannt werden, in einer schönen Gegend in einem grosszügigen Apartment leben, dessen Eigentümerinnen sie obendrein sind. Beziehungsweise haben die beiden die Wohnung zwar gemeinsam gekauft, es steht aber nur Pat im Grundbuch. Und Pat hat auch kein Testament unterzeichnet – was zum Problem wird, als aus heiterem Himmel der Tod zuschlägt und sie von Angies Seite reisst.
Eine kurze Schwarzblende markiert das einschneidende Ereignis, und weitere Schwarzblenden werden im Fortgang das Vergehen eines gewissen Zeitraumes signalisieren; wie viel Zeit jedes Mal und insgesamt vergeht, ist nicht klar und auch egal. Wichtig ist lediglich, dass der Gemütszustand der Figuren ebenso wie der Stand der Beziehungen untereinander sich jeweils verändert haben. Nicht zum Besseren.
Doch zunächst sieht es noch so aus, als stünden die Hinterbliebenen in ihrem Schmerz solidarisch zusammen, als würde die Akzeptanz der – aufgrund der Hongkonger Gesetzeslage nicht legitimierten – lesbischen Beziehung über den Tod hinausreichen. Aber schon mit der Wahl der Bestattungsart tun sich die ersten Risse zwischen Angie und Pats Familie auf, Risse, die sich im Weiteren zu einer Spaltung auswachsen werden. Angie weiss, dass Pat ihre Asche ins Meer streuen lassen wollte; dem steht allerdings das Horoskop des von der Schwägerin Mei beigezogenen Feng-Shui-Meisters entgegen: Wasser auf die Asche der Verstorbenen zu giessen, würde Unglück über die gesamte Wu’sche Sippe heraufbeschwören; sie müsse daher in ein Kolumbarium, und er wisse auch eines mit einem schönen Blick. Da der Wert der Familie in der chinesischen Gesellschaft zentral ist, wird Pats letzter Wunsch dem Wohlergehen der nachkommenden Wus untergeordnet. Angie wird dabei zunehmend an den Rand gedrängt, ihre Stimme wird schwächer und weniger gehört. Auch in der Beziehung mit Pat war sie die stillere und sanftere, hat das Praktische und das Organisatorische gern ihrer zupackenden und eloquenten Freundin überlassen. Das rächt sich jetzt.
Zentral dabei: die Wohnung. Für Angie der gemeinsame Lebensraum voller Erinnerungen, den sie keinesfalls verlieren möchte. Für die Wus die Chance auf eine Verbesserung ihrer Lebenssituation, die sie ergreifen wollen, auch wenn ihnen klar ist, dass diese Art des Handelns von fragwürdiger Moral ist. Wobei die «Fronten», wenn man so will, sich ganz allmählich erst sortieren und die Motive nicht in der Böswilligkeit wurzeln; es fiele schwer Bruder Shing und seiner vielköpfigen Familie Homophobie zu unterstellen, eher schon hat man es mit Neid zu tun. Shing ist derjenige, der erbt, seine Familie ist bedürftig, Blut ist dicker als Wasser, und das Hemd liegt näher als die Jacke – und so gehen einst liebevolle Beziehungen zwischen Menschen in die Brüche. Zumal, und das ist in dem ganzen (Gefühls-)Chaos nicht zu vernachlässigen, Pat – wie es zunächst scheint – keinen eindeutigen Willen hinterlassen hat und Angie hinsichtlich dessen, was richtig ist, verwirrt und beunruhigt durch die Familienbande navigiert.
Streitpunkt Wohnung
Zwischenzeitlich fragt man sich, wie hier noch irgendetwas gut werden soll und ob der Filmtitel womöglich gar zynisch zu lesen ist. Aber Yeung macht es weder sich noch seinem Publikum leicht; und er bleibt auch seinem cross-kulturellen Ansatz treu, diesmal indem er die Figuren in einen Kontext aus unterschiedlichen Ver-pflichtungen und Loyalitäten stellt und die sich daraus ergebenden Konfliktlinien nachvollzieht. Mit zurückhaltend-sanftem Regiegestus folgt er dem entstehenden komplexen Muster bis in die feinsten Verästelungen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler setzen den narrativen Nuancenreichtum in einer herausragenden Ensemble-Leistung mit subtiler Ausdruckskraft um.
Am Ende steht eine um den Begriff des Trostes erweiterte Idee vom guten Ausgang, sie setzt Realismus an die Stelle des Erträumten und hebt das Glück auf eine höhere Ebene.
Ray Yeung:
Ray Yeung ist ein Hongkonger Drehbuchautor und Regisseur. Er wuchs erst in Hongkong und später in London auf. Zunächst studierte Ray Yeung Jura und arbeitete als Anwalt in London, bevor er zum Fernsehen und zurück in Hongkong in die Werbebranche wechselte und sich schliesslich dem Theater- und Film…
All Shall Be Well
Artikel veröffentlicht: 10. Oktober 2024
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