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Würde trotz Bürde
Isra’a und ihrem Mann Ahmed fehlen aufgrund des Bürgerkriegs im Jemen die finanziellen Mittel für ein viertes Kind. Deshalb treffen sie die Entscheidung, Isra’as Schwangerschaft abzubrechen. Ein sensibles, gut gespieltes Drama, das einen einmaligen Einblick in ein bei uns wenig bekanntes Land ermöglicht. Es ist der erste jemenitische Langfilm, der je auf der Berlinale gezeigt wurde.
Aden, Oktober 2019, südwestlicher Zipfel der arabischen Halbinsel. Der Abend senkt sich über die Hafenstadt im Südjemen. Isra’a (Abeer Mohammed) und ihr Mann Ahmed (Khaled Hamdan) kaufen fürs Abendessen ein und zählen dabei jeden Rial. Die Eltern von drei Kindern leiden unter den dramatischen Folgen des Bürgerkriegs zwischen dem Süden und dem Norden, der 2014 nach einer langen Geschichte der Gewalt ausbrach. Eine galoppierende Inflation, Militärkontrollen auf den Strassen, Stromausfälle und Wasserrationierung gehören in der geschundenen Stadt zum Alltag.
Eigentlich können sie sich auch die gemietete Wohnung nicht mehr leisten. Nachdem mehrere Monatsgehalte nicht mehr ausbezahlt wurden, musste Ahmed seine Stelle beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen aufgeben. Für private Sender zu arbeiten und im Dienste der einen oder anderen politischen Partei zu stehen, kommt für ihn nicht in Frage. Er versucht seine Familie mit Taxifahren über Wasser zu halten, es fällt ihm aber zunehmend schwer, seinen Kindern ein «normales» Leben und eine gute Schulbildung zu ermöglichen.
Isra’as ungewollte Schwangerschaft stürzt das Paar in eine Krise. Die Mittel, um ein viertes Kind zu versorgen, sind schlicht nicht vorhanden, zumal sich die wirtschaftliche Lage mit Sicherheit noch verschlechtern wird. In der dramatischen Situation drängt sich dem Paar ein Schwangerschaftsabbruch als einzig gangbarer Weg auf, was aber bedeutet, gegen das Gesetz zu verstossen: abtreiben ist verboten. Nur im äussersten Fall, wenn das Leben der schwangeren Frau in Gefahr ist, kann ein Abbruch erlaubt werden. Im Jemen ist der Islam Staatsreligion. Wie in Saudi-Arabien, Iran, Pakistan und Afghanistan gilt hier die Scharia, die als Gottes Wille angesehen wird und sowohl die öffentlichen und privaten Aspekte des Lebens als auch die sozialen Interaktionen regelt.
«Ein Kind ist ein Segen»
Die verschiedenen Strömungen des Islam vertreten in der Frage der Abtreibung keine einheitliche Postition. Isra’a hält sich an die öffentlichen Reden jener Scheiche und Fatwas, die sagen, dass der Embryo vor dem 120. Tag der Schwangerschaft noch keine Seele habe und eine Abtreibung daher nicht strafbar sei. Die Zeit drängt, Isra’a und Ahmed müssen eine Ärztin finden, die bereit ist, den Abbruch vorzunehmen. Eine Quacksalberin, die sich teuer bezahlen lässt und Isra’a unter Umständen in Gefahr bringt, ist keine Option. Das Paar setzt seine Hoffnung auf Muna (Samah Alamrani), eine befreundete Ärztin, die ihnen helfen könnte, wäre sie denn nicht tief religiös...
Regisseur Amr Gamal – auch Dramatiker und Theaterregisseur –, baut die Spannung entlang der verschlungenen Pfade auf, die das Paar gehen muss. «Ein Kind ist ein Segen», bekommen Isra’a und Ahmed immer wieder zu hören. Was sich zwischen Schuldgefühlen, Erschöpfung und Angst der Protagonist:innen abspielt, wiederspiegelt die Tragik des Lebens ebenso wie die Tragödie, einer Gesellschaft kein Leben schenken zu wollen, in der religiöse Zwänge, Gewalt, Korruption und Armut eine Herausforderung für die Menschenwürde darstellen. Die intime, fiktionale Geschichte ist von Erlebnissen aus Gamals Freundeskreis inspiriert. Er erzählt sie mit schlichter Intensität und erweitert die Perspektive, indem er das Thema nicht nur aus der Sicht der Frau schildert, sondern den Vater und die gesamte Familie eng miteinbezieht. Man fühlt mit der Frau, die in ihrem Bauch den lebendigen Grund für die Not des Paares trägt, ebenso wie mit dem Mann, der seine Familie zu schützen versucht, aber am Ende seiner Kräfte und von Schuldgefühlen geplagt ist.
«Burden» ist die Last, der Titel «The Burdened» bezieht sich also auf jene, die buchstäblich eine Bürde tragen. Es ist die unermessliche Last eines Volkes, das seit langer Zeit keinen Frieden findet, aber einst in einer grossartigen Stadt lebte: in Aden, das erstmals im Alten Testament unter dem Namen Eden erwähnt wurde. Amr Gamal lässt die Architektur mit britischen, indischen und arabischen Einflüssen des ehemaligen multikulturellen Hafens aufscheinen, in dem der Dichter Arthur Rimbaud, der zum Kaufmann auf der Arabischen Halbinsel wurde, ab 1880 verweilte. Die Briten hatten 1839 die Kontrolle über den strategischen Ort auf dem Weg nach Indien übernommen, dessen Golf damals den Zugang zum Roten Meer eröffnete – der Bau des Suezkanals sollte folgen. Aden diente später den französischen Romanautoren Paul Nizan (Aden Arabie, 1931) und Pierre Benoit (Les Environs d’Aden, 1940) als exotische Kulisse und Henry de Monfreid erwähnte die Stadt mehrfach in seinen Erzählungen.
Die Dringlichkeit des Dokumentierens
The Burdened ist der erste jemenitische Spielfilm, der im Programm der Berlinale lief (Amnesty Award in der Sektion Panorama und Publikumsliebling) und international vertrieben wird. Clarisse Fabre von der Tageszeitung Le Monde schrieb begeistert: «Ein Film aus Aden ist an sich schon ein Wunder. Die meisten Kinos und Theater wurden nach der Wiedervereinigung von Nord und Süd im Jahr 1990 von den Islamisten geschlossen. Im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 versuchte der Süden die Kontrolle wiederzuerlangen. 2014 brach der blutige Bürgerkrieg zwischen den vom Iran unterstützten Huthis und der von Saudi-Arabien unterstützten jemenitischen Regierung aus, der im Dezember 2023 in ein neues Waffenstillstandsabkommen mündete. Das Kino könnte bei all dem also nebensächlich erscheinen, aber für den südjemenitischen Regisseur Amr Gamal erfüllt die Kamera die dringende Notwendigkeit, zu dokumentieren.»
Die Drehbedingungen waren ziemlich identisch mit den alltäglichen Umständen, die der Film beschreibt: Stromausfälle, steigende Kosten und Spannungen auf den Strassen. Fixe Kameraeinstellungen, die zudem eine Brücke zum Theater schlagen, ermöglichten Amr Gamal ein speditiveres Arbeiten als mit geschnittenen Szenen. Ästhetik und Inszenierung sind so gewählt, dass sie dem dokumentarischen Charakter des Films gerecht werden. Dazu führt er aus: «Ich wollte einen rohen und sehr realistischen Film drehen, auch was die Farbgebung angeht. Er sollte auch Zeugnis sein. Wir haben kein Kino, und Kino bedeutet Geschichte. Daher fühle ich mich in der Verantwortung, Orte und Ereignisse im Jemen zu dokumentieren. Das geht einher mit meiner Befürchtung, dass ich die ursprüngliche Topografie von Aden, die sich aufgrund der Kriege und Zerstörungen verändert hat, vergessen könnte. Aus diesem Grund entschied ich mich für Grossaufnahmen und Totalen, die die Stadt und ihre Architektur sichtbar machen. So bleiben Orte für zukünftige Generationen erhalten, man wird später nachvollziehen können, wie die Stadt zu dieser Zeit ausgesehen hatte.»
Filme in Entwicklung
Amr Gamal fährt fort: «Wir haben keine Filmindustrie, aber in Aden gibt es etwa zehn Kinosäle mit je einer Leinwand, in denen amerikanische, ägyptische, russische und sogar indische Filme gezeigt werden, da die indische Gemeinschaft in der Stadt sehr gross ist. Unser Filmerbe umfasst wohl insgesamt sechs oder sieben Filme, zwei sind allein von mir. Demnächst werden noch zwei oder drei weitere Projekte realisiert. Mein erster Film, 10 Days Before the Wedding, stellte einen Wendepunkt dar, weil er als erster jemenitischer Spielfilm breit programmiert war, mit fünf Vorführungen pro Tag. Die junge Generation übernimmt nun den Staffelstab und will ihrerseits Filme machen.»
Inzwischen wurde der Krieg mit einem Waffenstillstand beendet, aber ein dauerhafter Frieden ist noch nicht eingetreten. Aufgrund des Krieges, der durch den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel ausgelöst wurde, verüben die vom Iran unterstützten und mit der Hamas verbündeten Huthi in Nordjemen Angriffe auf Militär- und Handelsschiffe im Roten Meer. Dies beeinträchtigt den Welthandel und erhöht die Gefahr in der Region. Der Transport von Waren wird erschwert und die Preise steigen. Aden ist schon nicht mehr so, wie es in The Burdened abgebildet ist.»
Amr Gamal:
1983 in einer jemenitischen Familie in Posen, Polen, geboren, ist Amr Gamal sechs Jahre alt, als seine Eltern nach Aden zurückkehren. Nach einer schulischen Laufbahn, in der das Theater eine wichtige Rolle spielte, wird er Regisseur und Filmemacher und erlangt parallel dazu das Diplom an der Fakult…
The Burdened
Artikel veröffentlicht: 18. Juli 2024
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