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Filmbesprechung

Auf dem Velo durch Paris

Souleymane rast mit seinem Fahrrad durch die ĂŒberfĂŒllten Strassen von Paris. Der junge Guineer arbeitet illegal als Essenskurier und möchte in Frankreich Asyl beantragen. Er hat noch zwei Tage, um sich auf das wichtige Interview vorzubereiten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Boris Lojkine schafft mit «L’Histoire de Souleymane» ein fesselndes Drama ĂŒber Migration und Sans-Papiers in Zeiten der Gig Economy. Abou Sangare wurde fĂŒr seine beeindruckende Darbietung in Cannes als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.

Der junge, gross gewachsene Mann, der am Ende der Filmfestspiele von Cannes 2024 auf die BĂŒhne gerufen wird, um den Darstellerpreis in der Sektion «Un Certain Regard» entgegenzunehmen, heisst Abou Sangare. FĂŒr seine Rolle in L’Histoire de Souleymane wird der 23-jĂ€hrige Guineer, der in Frankreich Asyl beantragt hat, der erste Schauspieler aus Subsahara-Afrika, der vom bedeutendsten Filmfestival der Welt ausgezeichnet wird. Er hatte vorher noch nie in einem Film mitgespielt. Der 55-jĂ€hrige französische Filmemacher Boris Lojkine, von dem bereits zwei seiner vorherigen Spielfilme Hope (2014) und Camille (2019) im Katalog von trigon-film zu finden sind, erhĂ€lt fĂŒr L’Histoire de Souleymane den Preis der Jury, die unter dem Vorsitz des kanadischen Regisseurs und Schauspielers Xavier Dolan steht.

Nachdem er zuvor in entfernten LĂ€ndern gedreht hatte, siedelt Boris Lojkine den Weg von Souleymane im Herzen von Paris an. Auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa, hat der junge Guineer vor Jahren sein westafrikanisches Land verlassen. Er ĂŒberlebte die Gefahren und die Gewalt auf der illegalen Migrationsroute durch die Sahara, libysche GefĂ€ngnisse und das Mittelmeer und stellte in Frankreich einen Antrag auf Asyl. Hier schaffte er es, sich einen sehr unsicheren Platz als Fahrradkurier in der französischen Hauptstadt zu ergattern. Er reiht sich damit in die Kohorte von undokumentierten Migrant:innen ein, die dennoch arbeiten, in diesem Fall fĂŒr eine der zahlreichen digitalen Plattformen, auf denen man Essen und GetrĂ€nke bestellen kann.

Filmstill «L’Histoire de Souleymane»

Eine versteckte Geschichte

Der Film konzentriert sich auf 48 sehr intensive Stunden: Souleymane hat bald einen Termin beim OFPRA (Amt zum Schutz von FlĂŒchtlingen und Staatenlosen), das seinen Asylantrag prĂŒfen wird. Dort soll er zu den UmstĂ€nden seiner Flucht Rede und Antwort stehen. Die Armut und der Mangel an Perspektiven sind keine zulĂ€ssigen GrĂŒnde. Also wiederholt Souleymane fieberhaft die Geschichte des inhaftierten politischen Gegners, der er nie war, und versucht, sie auswendig zu lernen. Ein Landsmann hat sie ihm und anderen verkauft.

Guinea oder Guinea Conakry, benannt nach seiner Hauptstadt, war 1956 das erste Land in Französisch-Afrika sĂŒdlich der Sahara, das seine UnabhĂ€ngigkeit erlangte. Souleymane, der 1999 geboren wurde, ist eine Frucht des Chaos der Entkolonialisierung. Laut den Zahlen der Weltbank aus dem Jahr 2018 sind 80% der jungen Guineer:innen von Arbeitslosigkeit betroffen und fast 80% der Erwerbsbevölkerung arbeitet im informellen Sektor. Vor allem aber leben 55% der Guineer:innen unterhalb der Armutsgrenze. Doch Europa will keine sogenannten «WirtschaftsflĂŒchtlinge».

Um den VerkĂ€ufer von Geschichten bezahlen zu können, der ihm politisches Asyl und damit das Ende seiner Irrfahrt in Aussicht stellt, fĂ€hrt Souleymane in rasender Geschwindigkeit durch die ĂŒberfĂŒllten und gefĂ€hrlichen Strassen von Paris. In die Pedale treten, rennen, wieder auf das Fahrrad steigen, Ruhe bewahren. Unter der unfehlbaren Überwachung der digitalen Plattform muss er die Lieferungen sicherstellen, ohne eine Minute zu verlieren, nicht nur, um die Kundinnen und Kunden zufriedenzustellen – die die Macht haben, ihn um seinen Job zu bringen, wenn sie ihre Unzufriedenheit signalisieren –, sondern auch, um keine neue Bestellung zu verpassen.

Filmstill «L’Histoire de Souleymane»

Die Geschichte von Abou Sangare

Trotz seines stĂ€ndigen Wettlaufs gegen die Zeit und der unvermeidlichen RĂŒckschlĂ€ge, trotz seines Mutes angesichts der katastrophalen Arbeitsbedingungen erhĂ€lt Souleymane nicht das gesamte Geld, das er verdienen sollte: Da er nicht arbeiten darf, weil er «illegal» ist, mietet er das Konto eines anderen Guineers, der seine prekĂ€re Lage ausnutzt. Die Nacht bietet nur wenig Erholung: Ein Bus bringt Souleymane und seine Mitmenschen zu einem Auffanglager ausserhalb von Paris, wo man einen Platz reserviert haben muss, da man sonst auf der Strasse schlĂ€ft. Jeden Morgen, wenn er aufwacht, muss Souleymane schnell die nĂ€chste Nacht buchen. Und stĂ€ndig der Polizei ausweichen. Inmitten dieser Hölle schafft Boris Lojkine mit Souleymane einen leuchtenden und widerstandsfĂ€higen Menschen, der von seiner Hoffnung, in Frankreich Asyl zu erhalten, getragen wird. Diese Figur ist vor allem dem Darsteller Abou Sangare zu verdanken, der – wie fast die gesamte Besetzung des Films – keinerlei Schauspielerfahrung hatte. Boris Lojkine, der immer mit einer soliden dokumentarischen Grundlage arbeitet, erzĂ€hlt: «Wir haben ein langes, wildes Casting gemacht und die Strassen von Paris abgeklappert, um die Lieferjungen zu treffen. Wir tauchten in die guineische Gemeinschaft ein und trafen schliesslich ĂŒber einen Verein in Amiens den 23-jĂ€hrigen Abou Sangare, der vor sieben Jahren als MinderjĂ€hriger nach Frankreich gekommen war. Sein Gesicht, seine Worte und die IntensitĂ€t seiner PrĂ€senz vor der Kamera haben uns von Anfang an gepackt. Er war es. WĂ€hrend der 40-tĂ€gigen Dreharbeiten hat er uns alle verblĂŒfft. Er war manchmal atemberaubend schön, sein Gesicht war wechselhaft, sehr ausdrucksstark, und durchlief eine ganze Palette von Emotionen.» Die wahre Geschichte von Abou Sangare – der selbst auf eine Entscheidung ĂŒber seinen Asylantrag wartet – hat die Geschichte von Souleymane genĂ€hrt.

Ich hatte Lust, einen Film ĂŒber diese Kuriere zu drehen, die mit ihren tĂŒrkisblauen oder leuchtend gelben Taschen mit dem Logo der Organisation, fĂŒr die sie arbeiten, durch die Stadt flitzen, so sichtbar, und doch so illegal – die meisten von ihnen sind ohne Papiere.

Boris Lojkine

Boris Lojkine, der von den Bildern der allgegenwĂ€rtigen und gleichzeitig illegalen Fahrradkuriere inspiriert wurde, sagte sich: «Was wĂ€re, wenn ich Paris als eine fremde Stadt filmen wĂŒrde, deren Codes man nicht kennt, in der jeder Polizist eine Bedrohung ist, in der die Einwohner feindselig sind, voller Arroganz, und unnahbar? Von den Sozialwohnungen in den VorstĂ€dten bis zu den Haussmann-GebĂ€uden im Zentrum, von McDonald’s bis zu BĂŒrogebĂ€uden, von NotunterkĂŒnften bis zu RER-Waggons – es ist meine Stadt, die ich gefilmt habe, manchmal direkt um die Ecke, aber aus einem völlig anderen Blickwinkel.»

Filmstill «L’Histoire de Souleymane»

Die Klangpartitur der Stadt

Mit einer nĂŒchternen Dramaturgie, die «eher einem Thriller als einer sozialen Chronik Ă€hnelt», wie Boris Lojkine es wollte, nimmt uns L’Histoire de Souleymane vollstĂ€ndig und bedingungslos gefangen. Die Wahl einer minimalistischen Ausstattung fĂŒr Bild- und Tonaufnahmen ermöglicht ein echtes Eintauchen in die Stadt. «Um das Fahrrad zu filmen, haben wir andere FahrrĂ€der benutzt. Das war die einzige Möglichkeit, sich in den Verkehr einzufĂŒgen. Ein Fahrrad fĂŒr das Bild, ein anderes fĂŒr den Ton.

Meistens fuhr ich selbst das Tonfahrrad, um mit den Dreharbeiten verbunden zu bleiben», erklĂ€rt Boris Lojkine. «Da sich das Filmdispositiv in die RealitĂ€t einpassen musste, und nicht umgekehrt, verbrachten wir viel Zeit damit, nach Kulissen zu suchen, die wenig oder gar keine Lichttechnik benötigten und der fĂŒr den Film gewĂ€hlten Ästhetik entsprachen: ein Paris mit gesĂ€ttigten Farben und starken BrĂŒchen in den Farbtönen.» Und keine Musik, um «die Klangpartitur der Stadt, Hupen und Sirenen, das Rasseln der RER und das Aufheulen der Motoren voll auszuspielen.»

Der Trailer zum Film

Als er schliesslich der Beamtin des OFPRA (gespielt von Nina Meurisse) gegenĂŒbersitzt, wird Souleymane mit seiner LĂŒge konfrontiert. Boris Lojkine: «Ich habe beschlossen, die Geschichte eines Mannes zu erzĂ€hlen, der sich entschieden hat zu lĂŒgen. Aus fiktionaler Sicht ist der LĂŒgner oft interessanter als derjenige, der die Wahrheit sagt. Es war auch eine politische Entscheidung. Ich wollte keine allzu exemplarische ErzĂ€hlung machen, die einen guten Kerl zeigt, der mit einer hĂ€sslichen Migrationspolitik zu kĂ€mpfen hat. Das ist zu einfach und regt nicht zum Nachdenken an.»

«Ich ziehe es vor, dem Publikum Fragen zu stellen: Verdient Souleymane es, in Frankreich zu bleiben? Sollte man ihm Asyl gewĂ€hren? Hat er Ihrer Meinung nach das Recht dazu? Hat er es verdient? Was wĂŒrden Sie wollen?»

Mit L’Histoire de Souleymane lĂ€sst uns Boris Lojkine auf aussergewöhnliche Weise in eine RealitĂ€t eintauchen, fĂŒr die sich das Kino kaum interessiert. Er verleiht seinen Figuren die WĂŒrde und Menschlichkeit, die ihnen der tĂ€gliche Medienfluss und die Politik absprechen.

Filmstill «L’Histoire de Souleymane»
portrait Boris Lojkine

Boris Lojkine:

Born in 1969, Boris Lojkine taught philosophy at the Aix-Marseille Université before he entered filmmaking. Initially he made documentary films inspired by his time in Vietnam. In 2013 he shot his first feature film Hope in Africa, which won the SACD prize during International Critics' Week in 2014


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