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Filmbesprechung

Tiger-Frau, Frauen-Tiger

Zaffan ist zwölf und lebt in einer beschaulichen Gemeinde in Malaysia. Mitten in der Pubertät merkt sie, dass sich ihr Körper mit beunruhigender Geschwindigkeit verändert. Ihre Freundinnen wenden sich von ihr ab und in der Schule scheinen mysteriöse Kräfte zu wirken. Wie ein Tiger, der aus seinem Lebensraum verdrängt wird, beschliesst Zaffan, ihre wahre Natur zu enthüllen. Das Debüt von Amanda Nell Eu begeisterte in Cannes und wurde mit dem Grand Prix der Semaine de la Critique ausgezeichnet.

Noch vor der ersten Einstellung empfängt uns Tiger Stripes mit pulsierenden Beats, die einen mitten im Dschungel wähnen lassen, und setzt damit den Ton für diese Geschichte, die da verheissungsvoll und mit voller Kraft auf die Leinwand drängt. Das fulminante Debüt der malaysischen Regisseurin Amanda Nell Eu ist ein Film über das Frauwerden und weibliche Selbstbestimmung, eine Coming-of-Age-Erzählung, ein Body-Horror- Drama, ein übernatürlich-realistisches Abenteuer, ein Film, der sich, rebellisch wie seine Protagonistin, gleich wieder aus der zugeteilten Genre-Schublade windet. Nicht umsonst beschreibt Amanda Nell Eu ihren Erstling selbst als «ziemlich punkig».

Wirbel um einen BH

In der Mädchentoilette herrscht Aufregung: Lässig lässt Zaffan die Träger ihres BHs unter ihrem Top hervorblitzen und wirft sich scherzend in Pose. Sie ist die Erste, bisher hat noch keine der drei Freundinnen einen getragen. Grosszügig bietet die Zwölfjährige das Wäschestück zum Probieren an. Mariam würde gern, aber Farah, die Zaffans neuen Besitz argwöhnisch taxiert, ist schneller. Farah zieht den BH über ihren Tudung, den Hijab, wie er in der malaiischsprachigen Welt weit verbreitet ist und wie ihn alle Mädchen an dieser Schule tragen. Viel Zeit sich zu bewundern oder gar ein TikTok-Video zu drehen bleibt nicht; eine Lehrerin klopft energisch an die verriegelte Tür. Während Farah und Mariam sich in einer der Kabinen verstecken, kümmert sich Zaffan keck und verwegen um die Lehrerin, die durch die ruckartig geöffnete Tür strauchelt. Das hat Konsequenzen. Die Schulleiterin schilt Zaffan vor den versammelten Klassen auf dem Hof. Farah schimpft sie später Schlampe, bloss Mariam wagt es, ihrer Freundin einen verschwörerischen Blick zuzuwerfen.

Tiger Stripes feierte seine Weltpremiere in Cannes. Amanda Nell Eu ist die erste malaysische Regisseurin, die ans Filmfestival an der französischen Riviera eingeladen wurde und begeisterte die Jury der Semaine de la Critique, die sie mit dem Grand Prix auszeichnete. Die Nebensektion des Festivals widmet sich ersten und zweiten Werken junger Filmschaffender. Der Film habe durch seine ausgeprägte Risikofreude beeindruckt: «Unerschrocken und kompromisslos will Tiger Stripes nicht gefällig sein, sondern gibt sich voll und ganz seiner verführerischen Einzigartigkeit hin. Es war der erste Film der Reihe, den wir gesehen haben. Er hat den Test der Zeit bestanden», hielt die Jury-Vorsitzende und Regisseurin Audrey Diwan (L’événement, 2021) fest.

Bild aus Tiger Stripes
Die drei Freund:innen aus «Tiger Stripes»

Mythen und Volksmärchen bleiben in Malaysia nie ganz in der Welt der Geschichten; die Monster, Geister und Gespenster sind sehr real und begleiten unseren Alltag mit einem gewissen Aberglauben.

Monster des Alltags

Wie die vorherigen Kurzfilme Nell Eus (Vinegar Baths, 2018 und Senang Jaga Sekandang Lembu, 2017) dreht sich Tiger Stripes um Themen wie Feminismus und weibliche Monster. Sie sei regelrecht besessen davon, sagt die Regisseurin: «Mythen und Volksmärchen bleiben in Malaysia nie ganz in der Welt der Geschichten; die Monster, Geister und Gespenster sind sehr real und begleiten unseren Alltag mit einem gewissen Aberglauben.» Zu ihren frühen Einflüssen zählt sie den kanadischen Filmemacher David Cronenberg und den Japaner Shinya Tsukamoto. Auch Julia Ducournaus kannibalistisches Body-Horror-Werk Raw (2019) kann einem in den Sinn kommen. Amanda Nell Eu hebt sich vom Genre jedoch ab, indem sie Realismus und Folklore nahtlos verschmelzen lässt und sich auch nicht davor scheut, TikTok-Schnipsel einzustreuen.

In den Hauptrollen stehen neben dem jungen Trio grossartiger Nachwuchsschauspielerinnen die bekannten malaysischen Darstellerinnen Shaheizy Sam (Polis Evo 3, 2023), Jun Lojong (Roh, 2019) und Fatimah Abu Bakar (Imaginur, 2022). Für die fantastische Kameraarbeit zeichnet Jimmy Gimferrer, den exzentrischen Soundtrack hat das indonesische Duo Gabber Modus Operandi komponiert, das für seinen experimentierfreudigen Mix aus traditionellen und elektronischen Klängen bekannt ist.

Bald ist Zaffan wieder die Erste. Die ganze Schule weiss Bescheid: Sie hat ihre Periode bekommen. Was den Mädchen zunächst als Privileg erscheint – Zaffan ist von den Gebeten befreit –, schwenkt schnell um, als Farah genüsslich Gerüchte streut. Zaffan sieht sich mit Abscheu und Ausgrenzung konfrontiert, doch weit mehr beschäftigen sie andere Veränderungen: In ihr reift eine unerwartete Stärke, eine Wut, ihre Sinne lassen sie beim leisesten Vogelzwitschern die Zähne blecken und in den Baumwipfeln erkennt sie mysteriöse Wesen mit glühenden Augen. Langsam verschwimmen die Grenzen zwischen Realem und Übernatürlichem, und mit Zaffans neuen Instinkten verwandelt sich auch ihr Körper in beängstigender Form. Die Schnurrhaare zupft sie aus, die Krallen versucht sie so gut wie möglich durch Handschuhe zu verbergen – mit mässigem Erfolg. Als ihre Mitschülerinnen Zaffan eines Tages kollektiv in die Mangel nehmen und sie für den darauffolgenden Tumult an der Schule verantwortlich gemacht wird, gerät sie mehr und mehr unter Druck, und begreift, dass es nur eine Antwort auf ihre Freiheit gibt.

Fantastisch und feministisch

Amanda Nell Eu denkt nicht daran, den Stoff rund um die Tabuisierung des weiblichen Körpers, insbesondere der Menstruation und der damit einhergehenden Stigmatisierung von Frauen, mit Samthandschuhen anzufassen. Sie schickt das Publikum gleich mit in den komplexen Gefühlscocktail – menstruierenden Menschen nur zu vertraut – an dem ihre Protagonistin mal fröhlich nippt, sich dann wieder fast verschluckt. Punk eben. Malaysia mag ein besonders religiöses und von konservativen Normen geprägtes Land sein, doch auch im Rest der Welt ist die Monatsblutung oft Quelle von Scham, Stress und Unterwerfung.

Mit ein Grund, warum hierzulande am 14. Juni erneut Zehntausende Frauen auf die Strasse gegangen sind und wieder deutlich machten, dass die Menstruation, obwohl in den ersten feministischen Forderungen nicht vorhanden, in den letzten Jahren zu einem wichtigen Thema im Kampf gegen die geschlechtsspezifische Diskriminierung geworden ist. Parolen wie «Alles was du kannst, kann ich blutend» könnte man sich durchaus auch als Zeile in Tiger Stripes vorstellen. Amanda Nell Eu bedient sich jedoch fantastischer Elemente, um ihre politische Botschaft zu vermitteln, und zeigt uns im wahrsten Sinne des Wortes die rasend schnelle und überwältigende Metamorphose, die Mädchen in der Pubertät durchleben. Mit der Wahl des Tigers schenkt sie ihrer Heldin die Kraft, sich zu verteidigen und sich in ihrer ganzen wilden Schönheit zu behaupten.

Der Trailer zum Film
portrait Amanda Nell Eu

Amanda Nell Eu:

Amanda, born 1985 in Kuala Lumpur, graduated from the London Film School with an MA in Filmmaking and is an alumna of Berlinale Talents and Locarno Filmmakers Academy. Her short film Lagi Senang Jaga Sekandang Lembu (It's Easier to Raise Cattle) premiered in competition at the Venice International …

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