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Filmbesprechung

Der Faktor Mann

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes ist Nawal mit Tochter Noura allein und muss um ihre Wohnung bangen. In Jordanien, wo Männer von Gesetzes wegen bevorteilt sind, sähe die Situation mit einem Sohn anders aus. Ein starkes Debüt über den Kampf einer mutigen Frau gegen das allmächtige Patriarchat.

Panorama auf einen Stadtteil Ammans. Über einen langsamen Schwenk dringt die Kamera in die Strassen des Quartiers und bleibt auf dem Bild eines einsam trocknenden BHs auf einer Wäscheleine stehen. Nawal versucht ihn mit einem langen Stab von der Leine vor ihrem Fenster zu fischen, doch er fällt auf den darunterliegenden Balkon. Sie lehnt sich hinaus und duckt sich blitzschnell weg, als der Nachbar unten auf die Terrasse tritt. Ein BH ist Grund genug, sich zu schämen. Die erste Szene nimmt symbolisch brillant vorweg, worum es in dieser Geschichte geht. Eine Frau, auf sich allein gestellt, soll sich unsichtbar machen und die Männer walten lassen. Doch zwischen diesem Anfang und der letzten Einstellung liegen Welten. Am Ende sitzt Nawal am Steuer eines Pick-ups, den sie in mehreren Anläufen auszuparken versucht. Was auf den ersten Blick unbeholfen wirkt, ist für sie ein Triumph, ein heroischer Akt, eine Trophäe am Ende einer langen Kette von gemeisterten Hürden. Dazwischen liegt ein packender Spiessrutenlauf durch ein gesellschaftliches Labyrinth voller patriarchaler Irrwege.

Inshallah a Boy ist der erste jordanische Film, der es an das Filmfestival von Cannes geschafft hat. Mittlerweile ist er an weitere wichtige Festivals rund um die Welt gereist – Toronto, London, Stockholm, Mumbai, Singapur, New York – und von Jordanien ins Oscarrennen um den besten internationalen Film geschickt worden. Nachdem der Aufbau einer eigenen Filmindustrie im Wüstenstaat lange auf sich warten liess und mit der «Royal Film Commission» erst 2003 und dem «Red Sea Institute Of Cinematic Arts» 2008 entsprechende Strukturen aufgebaut wurden, sind in den letzten 20 Jahren einige jordanische Filme entstanden, die auch internationale Anerkennung erlangten. 2008 gewann Amin Matalqas Captain Abu Raed am Sundance Film Festival den Preis für den besten ausländischen Spielfilm. Theeb von Maji Abu Nowar gehört dazu, der 2015 für den Oscar nominiert war, oder The Last Friday von Yahya Alabdallah aus 2012 (letztere zwei greifbar bei trigon-film). Jüngst erntete Daughters of Abdul-Rahman von Zaid Abu Hamdan an internationalen Festivals Erfolge.

Filmstill aus «Inshallah a Boy»
Mutter und Tochter beim Abendessen in ihrer Wohnung, um die sie bangen mĂĽssen.

Wie viel ist ein Pick-up wert?

Dass ein 38 Jahre junger Jordanier in seinem ersten Spielfilm die Situation der Frauen in seinem Land einfühlend beschreibt, exemplarisch analysiert und die patriarchal geprägte Heimat scharf kritisiert, lässt aufhorchen und Hoffnung schöpfen. Auf dem Boden wahrer Tatsachen, inspiriert von den Erlebnissen einer Verwandten, inszeniert Amjad Al Rasheed ein dichtes und packendes Sozialdrama über die ungerechte Rechtssprechung und fehlende Gleichberechtigung in seinem Land. Der Gang vor verschiedene Richter, das Aufsuchen von Ärztinnen, Szenen in Treppenhäusern und Transportmitteln, der Blick in verschiedene Gesellschaftsschichten ebenso wie unerwartete Wendungen zeigen Parallelen zu iranischen Gesellschaftsdramen wie die frühen Filme von Asghar Farhadi auf. Bei der Realisierung des Films wurde Al Rasheed von den zwei entschlossenen jordanischen Produzentinnen Rula Nasser und Aseel Abu Ayyash unterstützt, die beide am iranischen Film Holy Spider mitwirkten. Amjad Al Rasheeds überzeugt durch eine eigene Handschrift, sein erster Langfilm besticht durch die authentische Verankerung im jordanischen Alltag, den Kameramann Kanamé Onoyama (Abou Leila) in elegante Bilder rahmt, durch das stringente Drehbuch und die strikte Konzentration auf die weibliche Perspektive.

Mouna Hawa dominiert in der Rolle von Nawal praktisch jede Szene, man kennt die vielseitige Schauspielerin aus den Filmen In Between von Leila Bakhr und der Netflixserie Fauda. Nach dem plötzlichen Ableben von Ehemans Adnan muss die junge Witwe alle Hebel in Bewegung setzen, sich auf den Goodwill von Verbündeten verlassen und eine gute Portion Gerissenheit an den Tag legen, um den sozialen und finanziellen Ruin abzuwehren. «Eine Frau verliert mit dem Tod ihres Mannes ihren Geliebten, ihren Partner, ihr ganzes Leben», wie eine Verwandte bei der Totenwache festhält. Kein Wunder, denn genau darauf ist die gesellschaftliche Struktur auch ausgerichtet. Kaum sind die ersten Tränen getrocknet, beginnt ein nervenaufreibendes Seilziehen um die bescheidene Hinterlassenschaft des Verstorbenen: ein klappriger Pick-up und eine Wohnung, die noch nicht abbezahlt ist. Da sie keinen Sohn zur Welt gebracht hat, steht Nawal nur gerade die Hälfte des verbliebenen Hab und Guts zu, der Rest geht an die Sippschaft des Ehemannes, was bedeutet, dass sie entweder das Auto oder die Wohnung verkaufen muss, um die Familie auszuzahlen. Doch wo soll sie dann wohnen? Auf den Pick-up hat sie sich eingeschworen, den gibt sie keinesfalls einfach so her, auch wenn sie ihn nicht fahren kann. Absurd? Nein, überlebenswichtig...

Der Trailer zum Film

Hinter der freundlichen Fassade des Schwagers kommt zunehmend eine hässliche Fratze zum Vorschein, hier ist schliesslich niemand auf Rosen gebettet. Er taucht öfters auf, holt die Nichte ungefragt von der Schule ab, lässt Nawal schon bald vor Gericht antraben. Und sie hat keine rechtliche Handhabe. Wie ist das möglich in einem Land, das in der Region selbst heute noch als eines der politisch stabilsten gilt, das vor nicht allzu langer Zeit die Gleichberechtigung in einer Verfassungsänderung festgehalten hat, das ausserdem mit Königin Rania eine Frau an höchster Stelle hat, die sich für Frauenrechte stark macht?

Moderne Frauen in alten Strukturen

Die Mühlen mahlen langsam, sehr langsam, sowohl die Mühlen des Gesetzes wie die des sozialen Bewusstseins. Da müssen noch viele Lücken geschlossen werden. Etwa beim Erbrecht. Laut Verfassung mögen Mann und Frau die gleichen Rechte geniessen, Fragen des Ehe- und Erbrechts sind aber weiterhin im so genannten «Personal Status Code» geregelt, der auf altem islamischem Recht beruht. Der Anteil der Frau an der Erbschaft ist im gleichen Beziehungsverhältnis halb so gross wie jener der Männer. Eine Schwester erhält die Hälfte des Betrags, der einem Bruder zusteht. Ein Ehemann erhält den doppelten Betrag aus dem Nachlass seiner verstorbenen Frau wie sie umgekehrt vom verstorbenen Ehemann. Doch damit nicht genug, selbst dieses unfaire Erbrecht wird in der Praxis vielen verweigert. Laut dem UN-Bericht «Jordan Gender Justice & The Law» aus dem Jahr 2018 sind Frauen weiterhin dem sozialen Druck ausgesetzt, auf ihren Anteil zu verzichten, um keine Schande über die Familie zu bringen. Ergriffene Massnahmen, die hier Gegensteuer geben können, greifen nur spärlich. Ähnlich verhält es sich in der Arbeitswelt. In den letzten 30 Jahren wurde viel in die Bildung von Frauen investiert und inzwischen haben mehr Frauen als Männer einen Uni-Abschluss, dennoch ist ihr Anteil am Arbeitsmarkt im Vergleich zu andern arabischen Ländern gering. Das mag gewiss mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen, die Arbeitslosigkeit ist hoch, dürfte die Wurzeln aber vor allem in den archaischen Strukturen der Vergangenheit haben, die auf Stammesnetzwerken und altertümlichen Ehrvorstellungen fussten und bis heute ihre Blüten treiben.

Filmstill aus «Inshallah a Boy»
Nawal und Noura.

Das dominante systemische Männergeflecht verknotet Al Rasheed in Inshallah a Boy geschickt mit dem subtileren Netz der Frauen und zeigt auf: Während es ihnen gelingt, einige schmerzende Knoten zu lockern, bleiben sie in andere heillos verstrickt. Wie tief die Diskriminierung verankert ist, zeigt sich am Schicksal von Lauren. Als Tochter der wohlhabenden, christlichen Familie von Nawals Arbeitgebern hat sie beste Bildung und gewisse Freiheiten genossen, sieht sich dennoch zur Heirat genötigt, wenn sie etwa ihre Sexualität ausleben möchte. Dies bedeutet wiederum automatisch, Kinder zu kriegen und des Ehemanns Liebhaberinnen zu tolerieren. Auch bei Nawal liegen die Liebesdinge nach Adnans Ableben nicht mehr so klar. Weshalb hat er ihr nicht erzählt, dass er seine Arbeitsstelle vor vier Monaten verloren hatte, und wer ruft ständig auf sein Handy an? Eine Hiobsbotschaft nach der andern erreicht Nawal, die ob der widrigen Umstände am Rande der Erschöpfung zur eigentlichen Heldin mutiert, obwohl sie es doch so viel einfacher haben könnte: einen andern Mann heiraten und alles löst sich in Minne auf! Doch dies ist Nawals Ansinnen nicht. Sie weiss die klaren Rollenverhältnissen für sich zu nutzen und greift auf einen Trick zurück, um einen gerichtlichen Aufschub zu erwirken, der ihr etwas Luft verschafft. Als sie endlich am Steuer des Pick-ups sitzt, ist das nicht nur ein persönlicher Triumph, sondern vor allem eine starke Botschaft für ihre Tochter und alle Nouras dieser Welt: Inshallah a Girl!

portrait Amjad Al Rasheed

Amjad Al Rasheed:

Amjad Al Rasheed, a Jordanian director and writer born in 1985, has an MFA in Cinematic Arts with a concentration on Directing and Editing. In 2016 he was selected by «Screen International» as one of five «Arab Stars of Tomorrow» highlighting the up-and- coming young talents of the region. He atten…

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