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Die Zukunft berühren
Ein Spielfilm aus Bhutan, auf 3400 Metern über Meer mit Laiendarsteller:innen gedreht, die dort die abgelegenste Schule der Welt besuchen. Ein junger Lehrer, der aus der Stadt in die Schule nach Lunana geschickt wird, macht sich wenig motiviert auf den langen Weg durch die irre Bergwelt. Vor Ort trifft er auf eine Gemeinschaft, die ihn mit grösstem Respekt betrachtet – nur ein Lehrer könne «die Zukunft der Kinder berühren», so die gängige Meinung dort. Nach und nach lernt Ugyen mehr über seinen Beruf, als es ihm seine Ausbildung zu vermitteln mochte.
Der junge Ugyen wohnt in Thimphu, der Hauptstadt Bhutans. Er steht im Dienst der Regierung und in der Pflicht, noch sein letztes Dienstjahr als Lehrer zu erfüllen. Als in Lunana ein Lehrer gesucht wird, schickt man ihn dorthin. Das Problem: In Lunana befindet sich nicht nur die abgelegenste Schule Bhutans, sondern vermutlich auch die abgelegenste Schule der Welt.
Spulen wir ein paar Tage zurück: Mit Lederjacke und Gitarre sitzt Ugyen auf einer Bühne, das Publikum pfeift ihm zu. «I’m going to Aussieland, beautiful Aussieland because she’s been calling for some time» singt er ins Mikrofon. Ich gehe nach Australien, folge seinem Ruf. Er ist nicht allein mit diesem Drang, ins Ausland zu gehen. Die sozialen Medien haben auch in Bhutan die Träume der jüngeren Generationen geformt in Bezug auf ihre Zukunft. Und so träumt Ugyen von Bondi Beach und wartet nur noch auf sein Visum, um der nörgelnden Grossmutter zu entkommen und südlich des Äquators sein Glück als Songwriter zu versuchen.
Kletterpartie
Doch statt eines Visums erhält er die Einladung nach Lunana und befindet sich kurz darauf im Bus nach Gasa. Kein Streifen an der östlichen Mittelmeerküste, sondern ein 400-Seelen-Dorf auf 2800 Höhenmetern. Hier wird er in Empfang genommen von zwei Hochländern. Nur noch schnell Toilettenpapier für den Städter einkaufen, dann geht’s weiter. Was als gemütliche Wanderung am Fluss entlang angepriesen wurde, entpuppt sich bald als schweisstreibende Kletterpartie in sauerstoffarme Gefilde.
Mit zunehmender Höhe schwindet auch die Populationsdichte. Mit seiner Popmusik in den Ohren folgt Ugyen den Männern über schlammige Pfade, mit dichtem Farn bewachsene Wege und durch grüne Frühlingswälder, bis sie die Passhöhe von 5240 Metern Höhe erreichen. «Ist es noch weit?», fragt er dabei immer wieder. Und träumt sich in Gedanken wohl an die flachen Strände Australiens. Wäre er nicht schon ausser Puste, so hätte sie ihm spätestens jetzt den letzten Schnauf verschlagen: Die atemberaubende Landschaft des bhutanischen Hochlands mit ihren schneebedeckten Siebentausendern präsentiert sich mit voller Wucht.
Mit Sonnenenergie gedreht
Für die schöne Aussicht hat Ugyen zunächst allerdings herzlich wenig übrig. Einmal angekommen, muss sich der Städter mit dem ruralen Leben abfinden an einem Ort, wo Selbstversorgung nicht trendig, sondern naturgegeben ist. Zum Einfeuern wird Yakmist verwendet, ein WC-Ring muss als Basketballkorb herhalten und Elektrizität ist eine Frage des Sonnenstandes. Wenig motiviert sieht er sich mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die so gar nichts mit dem herbeigesehnten Aussieland zu tun hat.
Das Dorf Lunana ist eine Siedlung, die an den Gletscherzungen des Himalaya liegt und nur durch eine 8-tägige Wanderung über einige der höchsten Berge der Welt erreichbar ist. Es gibt nur 56 Menschen im Dorf, von denen die meisten noch nie die Welt ausserhalb Lunanas gesehen haben. Und die garstige Infrastruktur, die Ugyen in Lunana antrifft, war nicht nur für ihn eine Herausforderung: Die ganze Produktion des Films war von solarbetriebenen Batterien abhängig – somit schafft dieser Film nicht nur den ersten Eintrag auf der trigon-film-Weltkarte auf dem Flecken oberhalb Indiens, es ist gleichzeitig auch der erste vollständig mit Solarenergie gedrehte Film, den trigon-film in die hiesigen Kinos bringen darf.
Die Zukunft in den Händen halten
Zurück nach Lunana: Hier hat die ganze Dorfgemeinschaft voller Vorfreude auf die Ankunft des neuen Lehrers gewartet. Ein Lehrer kann die Zukunft der Kinder «berühren», so die gängige Meinung in Lunana, und man bringt Ugyen daher den grössten Respekt entgegen. Bildung, so merken wir rasch, ist ein erstrebenswertes, aber hart umkämpftes Gut hier oben. Der Wissensdurst der Kinder ist gross, und die 9-jährige Klassenchefin unerbittlich: Der Lehrer ist da, jetzt soll gelernt werden. Dafür wirft sie ihn auch mal morgens aus dem Bett, wenn er nicht rechtzeitig den Gong anschlägt. Und mit ihrer Beharrlichkeit hat sie Erfolg.
Die kluge Pem Zam und ihre Klassenkolleginnen sind indes nicht nur verantwortlich für Ugyens wachsendes Interesse an seiner Lehrtätigkeit, sie ziehen auch uns Zuschauende in ihren Bann. Der Filmemacher Pawo Choyning Dorji schrieb und besetzte den Film am Drehort Lunana und schuf Figuren, die das wahre Leben der beteiligten nicht-professionellen Schauspieler ideal widerspiegeln.
Ugyen wird auf eine andere Reise geschickt. Er begibt sich widerwillig in eine Welt, die sich in jeder Hinsicht von der modernen Welt unterscheidet. Auf dieser Reise wird ihm klar, dass das, was wir so verzweifelt in der äusseren materiellen Welt suchen, eigentlich immer in uns existiert und dass das Glück nicht wirklich ein Ziel, sondern der Weg ist.
Pawo Choyning Dorji
Lebensnah
Die Kinder besuchen alle tatsächlich die Grundschule in Lunana. Pem Zams zerrüttete Familiengeschichte, wie sie im Film dargestellt wird, entspricht wahren Begebenheiten. Da sie ihr abgelegenes Dorf nie verlassen hat, hat sie weder Elektrizität noch das Internet kennen gelernt. Sie träumt davon, eines Tages über die Berge von Lunana hinauszugehen und zum ersten Mal in einem Auto zu fahren. Als Ugyen eines Tages das englische Alphabet durchnimmt und beim Buchstaben «C» auf das für ihn naheliegende Beispiel des «Car» zurückgreift, stösst er auf Unverständnis. Erst nach kurzer Überlegung bemerkt er seinen Denkfehler. Woher sollten diese Kinder wissen, was ein Auto ist, wenn sie ihr eigenes Dorf auf 3400 Metern über Meer noch nie verlassen haben?
Nach und nach lernt Ugyen mehr über seinen Beruf, als es ihm seine Ausbildung zu vermitteln mochte. «Jeder hat ein Recht auf Bildung» – so steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dass dieses Recht nicht immer eingefordert werden kann, macht der Film mehr als deutlich. Gleichzeitig zeigt er unverblümt den Wert der Bildung auf in einem Kontext, den es so noch unzählige Male auf der Welt gibt.
Dem Glück auf der Spur
Das südasiatische Land hat sich Bildung auf die Flagge geschrieben. Es ist Teil des Konzepts der «Gross National Happiness» (GNH), einer in Bhutan entwickelten Alternative zum Bruttoinlandprodukt, und soll als Instrument zur Messung von Fortschritt oder Entwicklung dienen. 1972 deklarierte der 4. König des Königreichs Bhutan, King Jigme Singye Wangchuck, dass das «Bruttosozialglück» wichtiger als das Bruttoinlandprodukt sei. Dieses Konzept impliziert, dass die nachhaltige Entwicklung einen ganzheitlichen Ansatz in Bezug auf den Begriff des Forschritts verfolgen soll und nicht-wirtschaftlichen Aspekten des Wohlbefindens die gleiche Bedeutung beimessen sollte. Seither beeinflusst dieser alternative Index Bhutans Wirtschafts- und Sozialpolitik und hielt auch Einzug in die Arbeit der UNO. Bei der Messung werden dabei Domänen wie das psychische Wohlbefinden, die Zeitnutzung, die Lebendigkeit der Gemeinschaft oder auch die kulturelle Vielfalt und Resilienz in Betracht gezogen, sowie auch die Bildung.
Gleich zu Beginn des Films trägt Ugyen sinnbildlich ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Gross National Happiness». Dorji verweist damit auf ein weit verbreitetes Phänomen in seiner Heimat: Bhutan wird regelmässig als das «glücklickste Land Asiens» und eines der glücklichsten Länder der Welt genannt. Doch obschon sich das Land dem Glücklichsein und Wohlbefinden seiner Bevölkerung verschrieben hat, suchen viele junge Menschen wie Ugyen ihr Glück letztendlich woanders.
Mit dem Glück ist es so eine Sache: «Mit Lunana wollte ich eine Geschichte erzählen, in der auch Ugyen, der junge Protagonist der Geschichte, auf die Suche nach seinem Glück gehen möchte», erzählt der junge bhutanische Filmemacher Pawo Choyning Dorji. «Doch er wird auf eine andere Reise geschickt. Er begibt sich widerwillig in eine Welt, die sich in jeder Hinsicht von der modernen Welt unterscheidet. Auf dieser Reise wird ihm klar, dass das, was wir so verzweifelt in der äusseren materiellen Welt suchen, eigentlich immer in uns existiert und dass das Glück nicht wirklich ein Ziel, sondern der Weg ist.» In seinem Regiedebüt, zu dem er auch das Drehbuch geschrieben hatte, suchte Dorji absichtlich einen Gegenpol zur Traumdestination vieler junger BhutanesInnen: Wenn Australien für Modernisierung, urbane Metropolen und traumhafte Sandstrände steht, so ist Lunana in vielerlei Hinsicht tatsächlich das krasse Gegenteil davon. Womit sein Protagonist nicht gerechnet hat: Zum Erweitern des Horizonts ist man mit dem Himalaya-Gebirge eigentlich ganz gut bedient.
Ein Yak als Klassenkamerad
Für einen Musikliebhaber wie Ugyen hat Lunana zudem mehr zu bieten als erwartet, denn Musik und Gesang spielen im Dorf eine zentrale Rolle. Oft schon wurden wir in Filmen ZeugInnen ritueller Schlachtungen. In Lunana wird bei der Opfergabe an die Götter hingegen kein Tropfen Blut vergossen. Die Opfergabe besteht vielmehr darin, den Göttern, Geistern und Tieren ein Lied darzulegen. Für Ugyen, der sich beim Singen bisher in erster Linie an sein Publikum richtete, eröffnet sich damit eine völlig neue Welt. Über die hübsche Sandon lernt er durch die Lieder auch Geschichten und Mythen aus der Bergregion kennen – und sie lehrt ihn, dass ein Yak hier viel mehr als bloss ein Nutztier ist. Es kann sogar zum Klassenkameraden werden. Das Yak im Klassenzimmer ist einer der wenigen Überraschungsmomente, für die sich Dorji entschieden hat. Und er betont damit die Verbundenheit zur Natur, die in Lunana so zentral ist. Mensch und Tier leben hier gemeinsam, von- und miteinander, aber auch in Abhängigkeit von den Bergen, dem Klima, den Naturgewalten. Eine einschneidende Erfahrung für jeden Städter. Für welche Zukunft sich der Protagonist letzten Endes entscheidet, ist zweitrangig. Denn wenn man erst mal gelernt hat, dass das Glück auf dem Weg statt am Ziel liegt, darf man ruhig ein paar Auf- und Abstiege einbauen.
Pawo Choyning Dorji:
Pawo Choyning Dorji is a writer, photographer and filmmaker from the Kingdom of Bhutan. Pawo's introduction to film came in 2012 when he worked as Khyentse Norbu's assistant for the later's feature Vara – A Blessing. In 2016 he produced the critically acclaimed Bhutanese feature Hema Hema – Sing me…
Lunana
Article published: 16. September 2023
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