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Ein Lichtblick aus dem dunklen Kuba
Traurig, aber wahr. Kuba steckt im Elend wie noch nie. Auch das Kulturleben ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Es grenzt an ein Wunder, dass in diesem unaufhaltsamen Niedergang immer wieder (aber immer seltener) grosse Kunst entsteht. An Talent fehlt es nicht, doch früher oder später gehen sie fast alle fort. Oder müssen gehen, weil sie in Ungnade gefallen sind und die Diktatur sie ins Exil treibt. Die Geschichten von all den Geächteten, Eingesperrten und Vertriebenen nach 65 Jahren Revolution ergäben einen düsteren Sammelband. Eine dieser Geschichten wäre die von Nicolás Guillén Landrián (1938–2003).
Landrián war ein Original. Ein wilder Kerl, stupender Dokumentarfilmer und Maler, an dessen Namen und Werk sich in Kuba lange Zeit nur noch Insider erinnerten. Aber das ändert sich zum Glück gerade. Dank Ernesto Daranas. Er und Fernando Pérez sind Kubas erfolgreichste Filmregisseure der letzten Jahre. Beide leiden schwer am Zerfall ihrer Heimat, weigern sich aber, ihr den Rücken zu kehren. Sie sind im kubanischen Kino so etwas wie die Musikkapelle an Bord der Titanic. Daranas’ bekanntester Spielfilm Conducta war auch international ein Erfolg und ist nach wie vor als DVD im trigon-film Shop und im Streaming auf filmingo.ch erhältlich. Sein neustes Werk heisst schlicht Landrián. So einfach der Titel, so vielschichtig ist der Film selbst: eine Annäherung an den Künstler, sein Schaffen und sein Leben, auch eine Dokumentation über die Suche und Rettung von beinahe verloren gegangenem Filmmaterial. Gleichzeitig zeigt Landrián exemplarisch, wie das Kuba der Castros mit Menschen umgeht, die aus der Reihe tanzen.
Der Film beginnt mit viel Schwarz und Donnergrollen. Ein wolkenverschleierter Vollmond am Nachthimmel. Ein Zug pfeift in der Ferne. Ist es der Zug der Geschichte, der für Kuba längst abgefahren ist? Oder kündet er an, dass er bald einfährt? Dieses Hin und Her zwischen Hoffnung und Resignation, Licht und Schatten, es zieht sich durch den ganzen Film. Es ist dieses in Kuba latente Gefühl, dass alles verloren ist, aber halt nein, vielleicht doch noch etwas zu retten ist.
Kreativer Geist fliegt aus Diplomatenschule
Nicolasito kommt zwanzig Jahre vor der Revolution auf die Welt. Kaum auf den eigenen Beinen, malt er zuhause schon alle Wände voll. Sein erster Sex: auch sehr früh, mit der Hausangestellten. Ein Skandal. Die Eltern stecken ihn ins Reformatorium. Danach studiert der kreative Geist Malerei. Nach der Revolution träumt er vom Ausland, geht auf die Diplomaten-Schule, fliegt da aber schnell raus. Mit 22 will er zum Film. Und da gibt es im neuen sozialistischen Kuba nur noch einen Weg: das staatliche Filminstitut ICAIC. Eine Anstalt im besten und schlechtesten Sinne. Im revolutionären Drunter und Drüber der ersten Jahre ist noch einiges möglich. Gewagte Filme und rasante Karrieren, vom Laufburschen, Kabelträger und Kaffeekocher zum Regisseur. Landrián hat Talent und gute Maestros. Er lernt schnell und legt los. Und wie! Unkonventionell, ohne Drehbuch, einfach mal rausgehen und Kamera draufhalten, nicht fragen und reden, nur filmend schauen und beobachten. In einem Quartier, an einem Fest, in den Strassen im Havanna der Sechzigerjahre, in einem Dorf und Fluss im hintersten Winkel Kubas, immer nah beim Fussvolk. Die Mächtigen interessieren ihn nicht. Er fängt Bilder und Töne ein, scheinbar zufällig und nebenbei, aber mit einem Auge wie ein Gott. Reine Poesie.
Grosses Kino in würziger Kürze
Dann, am Schneidetisch, macht Landrián, der Freigeist und Feingeist, Schelm und Schlingel, sich ans Werk. Und es entsteht: grosses Kino in würziger Kürze. Von einem, der mehr sieht als ein Normalsterblicher und vermutlich schon alle und alles längst durchschaut hat. Die Menschen, ihr Leben, ihren wahren Glauben, ihre Rituale. Und nun sind da plötzlich diese neuen Götter, Fidel, Che Guevara, Lenin. Kommunismus in der Karibik. Auf einer Insel, wo die Leute lieber zu einem sinnlichen Son tanzen als im Stechschritt marschieren; wo man es sich gewohnt ist, Opfer zu erbringen für Elleguá, Oggún und andere afrikanische Gottheiten, aber nicht im Namen des Sozialismus. All diese verstörenden und bisweilen grotesken Kontraste fängt Landrián mit der Kamera ein und schneidet sie zu dokumentarischen Juwelen zusammen. Sicher, für damalige Verhältnisse mutig und experimentell, aber nie aufwieglerisch, im Gegenteil. Man sieht jeder Einstellung an: Der Mann liebte sein Land und seine Leute, und er kannte sie sehr gut. Man könnte auch sagen, er führt einem pfiffig vor Augen, was eine Revolution so alles mit sich bringt. Ziemlich viel Verrücktes. Sein Erstling En un barrio viejo gewinnt gleich einen internationalen Preis. Vor sechzig Jahren, 1964, in Frankreich. Fidel Castro fragte, wer dieser «Negro» sei, der diesen Film gemacht habe. Es dauert nicht lange und Landrián bekommt Probleme.
Für Fälle wie ihn hält man in Kuba den bewährten stalinistischen Massnahmenkatalog vom grossen Vorbild Sowjetunion bereit: Fallakte anlegen, überwachen, bespitzeln und verpfeifen. Nicht selten sind die Denunzianten die vermeintlichen Freunde, die mit Landrián Partys feiern und Marihuana rauchen. Die Stasi findet oder erfindet immer irgendwelche Indizien und Gründe, um ihre Fallakten zu füllen: liederliches Verhalten, Umgang mit verdächtigen Elementen, ideologische Verwirrung und so weiter. Vorerst lässt man Landrián noch ein paar Filme machen – die den Revolutionshütern selbstverständlich nur noch mehr Gründe liefern, weshalb man diesen Mann stoppen und ihn und sein nonkonformes Werk aus dem Verkehr ziehen muss. Die nächsten Massnahmen: Arbeitsverbot, Ächtung, Landarbeit, Gefängnis, Elektroschocks, Psychiatrie, Zwangsjacke, Verbannung.
Landrián ist all dies widerfahren, über Jahre. Doch er gilt als unzähmbar. Die Geflügelfarm, auf der er zur Strafe Hühnermist wegschaufeln muss, steckt er mit Benzin in Brand. Im Gefängnis auf der Insel Los Pinos verordnet ein Arzt, dieser Häftling gehöre nicht hierher. Man bringt ihn barfuss heim in den Hausarrest. (Man fand keine Schuhe in seiner Grösse!) Irgendwann wird er für geisteskrank erklärt, auch so eine beliebte Methode des Stalinismus. In Mazorra, der berüchtigten Klapsmühle in Havanna, sagt er zu seiner Ehefrau Gretel: «Wenn du vorher geglaubt hast, du seist ein wenig verrückt, wirst du es hier garantiert.»
Propaganda für Fidel
Totalitäre Systeme geben gerne vor, im Namen des Volkes zu handeln, wohlwollend erzieherisch zu sein im Umgang mit kritischen Zeitgenossen wie Landrián. Die Realität: Man tut alles Erdenkliche und Schreckliche, sie zurechtzubiegen, um ihnen dann vielleicht wieder eine Chance zu geben. Auch Landrián. Das Filminstitut beauftragt ihn, didaktische Dokus über diese und jene Themen zu drehen. Anders gesagt: Propagandafilme.
Sein erster ist sein bester: Coffea Arábiga, eine Art Schulfilm zu Fidels wahnwitziger Kaffeeanbau-Grossoffensive. Landrián sollte das Volk filmisch unterrichten, wie die korrekte Aussaat und Aufzucht vor sich gehen. Und was tut er nach allem, was man ihm angetan hat? Er macht einen bombigen 17-Minüter. Rasant, humorvoll, doppelbödig. Man kann Coffea Arábiga als avantgardistisches Propagandawerk sehen oder als genialen Racheakt. Auch Fidel kommt darin vor. Der Máximo LÃder steigt am Revolutionsplatz auf die Anhöhe, von wo er zu seinem Volk herab spricht. Unter ihm die jubelnde Masse. Einige Schnitte später blendet Landrián Schrifttafeln ein: «Einen Moment bitte... zum Abschluss nun die Beatles mit: The fool on the hill.» Au weia! Die Beatles standen in Kuba damals auf dem Index der Moral zersetzenden Unkultur. Und dann noch dieser Song: Der Trottel auf dem Hügel, mit den tausend Stimmen, der nie auf die dort unten hört, weil er weiss, dass sie die Idioten sind (so der Liedtext).
Letzte Chance
Nach diesem bittersüssen Kaffee ist für Landrián mal wieder Schluss mit Film. Man sperrt ihn erneut weg. Danach die letzte 22 Chance. Wieder Strafaufgaben. Diesmal, so der Befehl, aber ohne versteckte Landriansche Schlaumeiereien. Seine letzten Filme sind streckenweise so langweilig konform, dass sie schon wieder urko misch lustig sind. Immerhin, Landrián schafft es bis zum Schluss, da und dort seinen inzwischen vom System schwer malträtierten Freigeist aufblitzen zu lassen. Viele seiner Filme enden mit dem Satz: Fin... pero no es el fin. Vielleicht ein Gag, vielleicht aber sah Landrián schon damals Kubas Zukunft voraus. Dass es noch nicht das Ende dieser Revolution ist, obwohl sie schon lange am Ende ist. Landrián selbst endete und starb mittellos im Exil in Miami.
Landrián ist wie eine späte Auferstehung. Am Anfang von Daranas‘ Dokumentation stand nicht die Idee eines Films, sondern eine Erinnerung. Daranas stiess im Filmarchiv des ICAIC zufällig auf den Namen Landrián und erinnerte sich an einen seiner Filme, den er als Knabe gesehen hatte. Er erkundigte sich, was aus dessen Werk geworden sei. Ein Archivar zuckte nur mit den Schultern. Daranas liess nicht locker. Die Suche begann. Und damit eine Reise in die Vergangenheit Kubas, die nach und nach vieles ans Licht brachte, glücklicherweise auch einen Teil von Landriáns Werk, zehn von seinen siebzehn Filmen. Die meisten in einem himmeltraurigen Zustand. Für Daranas war klar, die muss man retten. Er weibelte in Kuba und im Ausland herum, suchte Hilfe, Verbündete und Geld. Und kam auf die Idee, alles filmisch zu dokumentieren. Daraus entstand in vier Jahren Arbeit Landrián sowie ein Paket von unschätzbarem Wert: zehn aufwendig restaurierte Kurzfilme.
Daranas’ grandiose Arbeit ist eine Ehrenrettung, eine Art kollegiale Wiedergutmachung kubanischen Unrechts. Sein Film weckt Lust auf Landriáns Werk. Auch, weil Daranas gekonnt und in kongenialer Landrianscher Manier mit dessen Werk umgeht. Man könnte auch sagen mit aufklärerischer Verrücktheit. Er setzt Filmfragmente ein, spielt mit diesen und den Originaltonspuren, zappt herum, wiederholt, vorwärts und rückwarts. Macht quasi den doppelten Landrián. Damit auch ein internationales Publikum heute, über ein halbes Jahrhundert danach, nachvollziehen kann, wie wenig es schon damals brauchte, in Kuba in Ungnade zu fallen.
Landrián hat neben seinen Filmen einen immensen Schatz an Zeichnungen, Gemälden, Texten, Gedichten und Gedanken in Tagebüchern hinterlassen. Einmal schrieb er, er sei nie gewöhnlich gewesen, und genau deshalb habe er gedacht, die Revolution sei sein Ding. Viele dachten so wie er. Und nicht wenige zahlten für ihre Illusion irgendwann einen hohen Preis. Um Nicolasito Landrián ranken sich in Havanna unzählige Geschichten und Gerüchte. Daranas hat mit vielen Leuten gesprochen und er hätte mit all dem Gesammelten eine Hommage voller Reminiszenzen machen können. Zum Glück hat er es nicht getan. Ihm ging es um etwas anderes: um Landrián, dessen Werk und das, was ihnen widerfahren ist – und was vielen Kunstschaffenden in Kuba noch heute widerfährt. Daranas hat sich in seinem Film auf zwei Weggefährten Landriáns beschränkt: dessen Witwe und den Kameramann. Und einen Überraschungsgast, der alle zu Tränen rührt und selbst weinen muss.
Wenn Daranas über Landrián spricht, zitiert er oft einen Kollegen. Dieser sagte: «Eine Revolution ist eine Stampede in die Zukunft, wer da innehält, sich am Kopf kratzt und fragt, was zum Teufel hier gerade vorgeht, wird überrannt und zertrampelt.» Landrián war einer, der innehielt und sich am Kopf kratzte.
Ernesto Daranas:
Landrián
Article published: 5. August 2024
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