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In Grenzüberschreitung ins Entmenschlichte
Eine syrische Familie lässt die Gewalt ihres Landes hinter sich, macht sich über Weissrussland und Polen auf den Weg zu Verwandten nach Schweden. Unterwegs in der polnisch-belarussischen Grenzregion wird sie zum Spielball der Politik. Die Filmemacherin Agnieszka Holland hat ein eindringliches und berührendes Drama gestaltet, in dem sie uns schonungslos mit einer naheliegenden Gegenwart konfrontiert. In Venedig wurde sie mit dem Spezialpreis der Jury geehrt, zuhause in Polen schwer attackiert.
Über die grüne Grenze gehen – das klingt ein bisschen nach Spaziergang; als bräuchte man sich nur in die Büsche schlagen oder durch den Wald wandern oder über die Wiese schlendern, aus dem einen Land heraus und durch die Botanik hindurch in das andere Land hinein. Die grüne Grenze, das ist die, an der es keine Posten gibt und keinen Schlagbaum, das ist jener Raum, der weniger kon- trolliert wird, weniger überwacht ist, weil er in der freien Natur liegt, der unschuldigen.
Assoziationen solcher Art treibt Agnieszka Holland ihrem Publikum noch in der ersten Minute von Green Border (Zielona granica) aus. Das Kameraauge fliegt über einen sattgrünen Wald, der rasch an Farbe verliert. Schon ist das Bild schwarzweiss wie die Malerei, derer sich rechtskonservative Populisten befleissigen und Situationen verursachen wie die, in der wir gleich landen wer- den. Die Begründung, die keine ist, lautet immer gleich: schuld sind die Anderen. Und die Anderen, das sind die Fremden.
Ein Spaziergang ins Glück
Von der grenzenlosen Drohnen-Luftaufnahme geht es nun in den Innenraum eines Flugzeuges, das im Sommer 2021 aus der Türkei unterwegs ist nach Belarus (aka Weissrussland). An Bord «die Familie» (so der Titel des ersten Kapitels): Opa, Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Säugling. Sie alle wollen nach Schweden zu einem Verwandten, der aus der Ferne auch schon den weiteren Transport klar gemacht hat; das geht heutzutage alles per Handy, und daher ist das Handy für die Migrierenden von enormer Bedeutung. Und die Mutter sagt noch zur Sitznachbarin – einer Englischlehrerin aus Afghanistan, die sich ihnen anschliessen wird –, dass der Weg über Belarus in die Europäische Union quasi ein Spaziergang sei, und was für ein Glück. Denn nie hätte sie mit ihrer Familie die Flucht übers Mittelmeer gewagt, in dem so viele ertrinken. Dann doch lieber in Lebensgefahr in Syrien bleiben.
Und während die Zuschauerin sich noch die Luxus-Frage stellt, wo eigentlich diese Leute ihre Naivität hernehmen und warum sie keine Nachrichten schauen, bevor sie sich mit ihren Kindern auf den Weg machen, sitzen dieselben auch schon im Niemandsland fest. Das Niemandsland ist die hässliche Kehrseite der grünen Grenze, ein Nicht-Ort, für den keiner zuständig ist und keiner Verantwortung übernimmt und in dem der Horror sich eingenistet hat. Zwischen Belarus und Polen, im NATO-Drahtverhau, werden sie nun hin und her geschoben von Handlangern jener Mächte, die sie zu Spielbällen gemacht haben. Hier wird Pushback mit Pushback beantwortet und die Kadaver der an Erschöpfung und Auszehrung gestorbenen Unglückseligen wirft man sich gegenseitig über den Stacheldrahtzaun ins Hinterland. Soll «der Nachbar» sich kümmern! Es ist die entmenschlichte Zone und für die nächsten zweieinhalb Stunden unser Aufenthaltsort.
Als die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze begann und das Ausmass der Lügen und Grausamkeit klar wurde, realisierte ich, wie dringend ich diesen Film machen musste. Ich hatte all diese historischen Stoffe über politische Verbrechen gedreht, dann kann ich jetzt nicht schweigen.
Agnieszka Holland
Green Border ist ein in seinen Schilderungen alles andere als zimperlicher, in jeder Hinsicht unbequemer und auch nicht leicht auszuhaltender Film. Doch jedes Mal, wenn die Zuschauerin die Augen vor den ins Bild gesetzten Entsetzlichkeiten verschliessen möchte, fällt ihr ein, dass sie sich mit diesem Akt der Verdrängung einmal mehr nur in die eigene Tasche lügt. Die Augen bleiben offen, denn bezeugt werden muss.
Von House of Cards bis Green Border
Also wird Zeugnis abgelegt: nicht nur von den schändlichen Ereignissen, die sich seit 2021 an obiger EU-Aussengrenze zutragen, sondern auch vom Engagement und Widerspruchsgeist der 1948 in Warschau geborenen Regisseurin und Drehbuchautorin. Agnieszka Holland, ausgebildet an der Prager Filmfakultät, begann ihre Laufbahn als Regieassistentin von Krzysztof Zanussi; Andrzej Wajda war ihr Mentor. 1981, kurz vor Verhängung des Kriegsrechts in Polen, emigrierte sie nach Paris. Sie arbeitete an den Drehbüchern von Krzysztof Kieslowskis «Trois couleurs»-Trilogie mit und erhielt für Europa Europa (deutscher Titel: Hitlerjunge Salomon) eine Oscar-Nominierung für das Beste Drehbuch. Das Schaffen der international renommierten Filmemacherin, die auch in Hollywood und für US-Fernsehserien (beispielsweise The Wire und House of Cards) tätig ist, ist vielseitig. Dabei versteht es Holland, Publikumsnähe, humanistische Agenda und kritischen Blick organisch miteinander zu verbinden; die zentrale Frage ihres Werks ist die nach Solidarität und Empathie: Wie kann eine:r angesichts der Verhältnisse ein guter Mitmensch werden/sein/bleiben?
Seit der Uraufführung von Green Border am Filmfestival in Venedig 2023, wo er mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, stehen Film wie Macherin in der Kritik, vielmehr regelrecht im Kreuzfeuer. Bei der Premiere in Polen wenig später und nur ein paar Wochen vor den Parlamentswahlen (die eine Niederlage der regierenden PiS-Partei brachten) kam es zu Protesten rechtsradikaler Aktivisten und wurden die Kinobesuchenden als «Schweine» beschimpft. Holland wurde unter anderem von Mitgliedern der national-populistischen Regierung heftig attackiert. «Nestbeschmutzung» lautete noch einer der harmloseren Vorwürfe, «Heimatverrat» einer der gängigen und «Nazi-Propaganda» einer der bodenlosesten. Dass das Geschrei über den Film und die angeblich in ihm zum Ausdruck kommenden «anti-polnischen Ressentiments» so gross ist, dürfte wohl nicht zuletzt daran liegen, dass Holland den Finger in eine äusserst schmerzende Wunde legt.
Das Hetzen der Rechtspopulisten
Wir erinnern uns: Mithilfe von problemlos, wenn auch nicht umsonst erteilten Touristen-Visa begann der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko im Juli 2021 Flüchtlinge aus Nahost und Afrika nach Minsk einzufliegen und an die polnische Grenze zur EU zu bringen. Solcherart sollte der europäische Staatenverband unter Druck gesetzt und langfristig gezwungen werden, die Sanktionen zu lockern, die gegen Belarus infolge der Wahlfälschung im August 2020 und der brutalen Niederschlagung der darausfolgenden Proteste verhängt worden waren. Auf der anderen, der polnischen Seite ist man vom zunehmenden Flüchtlingsaufkommen in der dicht bewaldeten Grenzregion wenig überraschend wenig angetan; die Rechtspopulisten im Land freilich erkennen die Gunst der Stunde, sie nutzen die dramatische Situation für fremdenfeindliche Hetze und Panikmache und festigen damit ihre Position. Anfang September 2021 wird über die Grenzregion der Ausnahmezustand verhängt und ein drei Kilometer breites Sperrgebiet eingerichtet, das lediglich Anwohnern und Anwohnerinnen und Sicherheitskräften zugänglich ist; die Arbeit von Medienschaffenden und Menschenrechtsorganisationen vor Ort wird solcherart erheblich erschwert.
Hybrid-Krieg
Es entwickelt sich ein sogenannter «Hybrid-Krieg», in dem Fake News, Propaganda und gegenseitige Beschuldigungen von der Tatsache ablenken (sollen), dass die an der Grenze gestrandeten Menschen als Manövriermasse im Dienste von Partikularinteressen funktionalisiert und ihrer Würde ebenso wie ihrer Rechte beraubt werden. Im Sommer 2022 errichtet Polen schliesslich entlang etwa der Hälfte der zirka 400 Kilometer langen Grenze zu Belarus – der Rest wird von Seen und Flüssen gebildet – einen mächtigen stählernen Zaun; zuvor bereits waren in hektischen Verhandlungen der EU mit den Herkunftsländern der Flüchten- den Rücknahmeabkommen geschlossen worden; wie viele Menschen an der grünen Grenze bislang gestorben sind, lässt sich nicht exakt ermitteln, berichtet wird von über 200 Toten. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahl weiterhin steigt.
Selektiv willkommen
All dies zu wissen schadet nicht, denn die innen- wie (EU-)politischen Dimensionen der Ereignisse en detail zu erörtern, ist nicht Hollands zentrales Anliegen. Dem Zynismus der Systeme, der die humanitäre Katastrophe an der Grenze überhaupt erst heraufbeschworen hat, setzt sie in Green Border ihre Aufmerksamkeit für die Einzelnen entgegen. Solcherart eine anonymisierte Masse von Flüchtenden zurück in Menschen verwandelnd, die in Not und auf Hilfe angewiesen sind. Dezidiert anti-zynisch legt Holland ihr Augenmerk auf das individuelle Leid. Was vorliegendenfalls auch bedeutet, eine staatliche Struktur zur Rechenschaft zu ziehen, die die ihr Dienenden – das heisst Angehörige von Polizei und Militär – moralisch korrumpiert, da sie sie zur Grausamkeit zwingt.
Der Sadismus und die Gewalttätigkeit der Uniformierten an der Grenze ist also nicht nur als Ausdruck machistischer Gruppendynamik oder eines neofaschistischen Rassismus zu verstehen, er kann auch das Ergebnis von Hilflosigkeit angesichts der Befehlskette sein. Indem sie sukzessive den Blick erweitert und die verfahrene Situation aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet – der der Flüchtlinge, der der Grenzwächter und der der zivilen Helfer:innen – überwindet Holland zudem den zuschauerlichen Abwehrreflex der Verdrängung. Sie schildert Chancen der Gegenwehr, Beispiele von Zivilcourage, sie macht – und zu Beginn des Films hätte man das nie für möglich gehalten – tatsächlich Hoffnung.
Auch die Coda, die zeigt, mit welcher Grosszügigkeit Polen nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 den von dort Flüchtenden Tür und Tor geöffnet hat4, lässt sich doppelt lesen: Einerseits als, ja, polemische Anklage des Messens mit zweierlei Mass. Andererseits als unmissverständlicher Hinweis darauf, was mit gemeinsamer Anstrengung möglich ist. Nämlich eigentlich alles.
Agnieszka Holland:
Agnieszka Holland is a Polish film director and scriptwriter, born in Warsaw in 1948. After graduating from FAMU in Prague in 1971 she began her film career working as an assistant director of Krzysztof Zanussi and was mentored by Andrzej Wajda. Throughout her work life the filmmaker was nominated …
Green Border
Article published: 16. February 2024
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