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Filmbesprechung

Nur ein Schritt vom Paradies

In einem windigen somalischen Dorf muss sich eine neu gegründete Familie zwischen ihren unterschiedlichen Wünschen und der komplexen Welt, die sie umgibt, zurechtfinden. Liebe, Vertrauen und Widerstandsfähigkeit unterstützen sie auf ihrem Lebensweg. Ein vielbeachteter, in Cannes gelobter Erstling von grosser visueller Kraft.

Dem Paradies nahe zu sein,ist schon mal eine schöne Verheissung. Sie ist hier nicht biblisch zu verstehen, sondern ganz handfest: Wenn sich der kleine Cigaal am Ende in eine Umarmung schmiegt, fühlt sich das wahrlich paradiesisch an. Gleichzeitig ist das Eden hier Metapher für eine grosse Sehnsucht, denn Somalia könnte ein Paradies sein, wären da nicht mangelnde Staatsstrukturen, Clankonflikte, Geopolitik und die Terrororganisation Al-Shabaab.

Vom abstrakten Aussen- zum konkreten Innenblick

Mit einem genialen Dreh eröffnet Harawe gleich zu Beginn die Bühne für ein reales absurdes oder vielmehr absurdes reales Theater. Während ein britischer TV-Sender noch die Tötung eines Al-Shabaab-Terroristen in Somalias Wüste mit einer Drohne verkündet, schwenkt die Kamera in die trockene Einöde und zu Mamargade, einem drahtigen Mann in den Fünfzigern, der ebendiesem Terroristen ein Grab schaufelt. Mit dem Auftraggeber allein auf weiter Flur, verliert die bombastische Nachricht massiv an Impact, wird sozusagen vom Treibsand verschluckt.

Filmstill «The Village Next to Paradise»

Dafür kehren wir mit Mamargade nach Hause in sein bescheidenes Heim, wo der kleine Cigaal schon auf ihn wartet. Wieder mal kein Lehrer aufgetaucht in der Schule, also ist er daheim am Zeichnen. Bald darauf tritt Araweelo durch die Tür, sie schleppt ihre Nähmaschine nach Hause, mit der sie tagsüber Kundschaft am staubigen Strassenrand bedient. Wenn denn jemand kommt. Nun scheint die Familie komplett zu sein.

Der Film eröffnet mit der frappierenden Kluft zwischen Aussen- und Innensicht auf ein Land, in dem Regisseur Harawe aufgewachsen ist. Als junger Mann aus seiner Heimat geflüchtet, lebt er heute in Österreich. Sein erster Langfilm beeindruckte 2024 am Filmfestival Cannes in der Sektion «Un Certain Regard» Presse und Publikum und sticht hervor als authentische Produktion aus einem Land, das bisher vor allem Schauplatz US-amerikanischer Projekte war. Wobei Filme wie Black Hawk Down (2001, Ridley Scott), The Pirates of Somalia (2017, Bryan Buckly) oder die europäische Produktion Wüstenblume (2009, Sherry Hormann) zwar in Somalia angesiedelt sind, aufgrund der unsicheren Verhältnisse aber grösstenteils in andern Ländern gedreht wurden.

Filmstill «The Village Next to Paradise»

Staubiges Paradies

The Village Next to Paradise rückt den Alltag eines kleinen Haushalts ins Zentrum, blendet in ein Dorf namens Paradies, wo ein steter Wind durch die Strassen und Häuser peitscht. Als Araweelo in einer der nächsten Szenen mit ihrem Ehemann vor dem Richter und dem Vollzug der Scheidung steht, wird klar: Sie ist nicht Cigaals Mutter, sondern seine Tante, die seit der Trennung bei ihrem Bruder lebt. Zusammen formieren sie eine Patchworkfamilie, die mehr schlecht als recht über die Runden kommt. Mamargade hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, als Totengräber und Fahrer, der immer mal wieder verbotene Ware schmuggelt.

Und Araweelo verdient mit dem Verkauf von Kathblättern – einem in der Gesellschaft verankerten Genuss- oder vielmehr Rauschmittel – mehr als mit ihren Näharbeiten. Man hat nicht wirklich die Wahl im mausarmen Land. Doch in der Zukunft liegt die Kraft. Die gehört selbstredend dem aufgeweckten Cigaal und ist gleichzeitig aller Figuren Antrieb, gerade weil viel Luft nach oben ist.

Filmstill «The Village Next to Paradise»

Licht und Leichtigkeit prägen das in seiner Einfachheit bestechende Setting. Wenn Araweelo ihren Stand zwischen Blechhütten aufstellt, ausgebleichte Farben sich ins allgegenwärtige Sepia der Wüste einpassen, warme Töne die Stimmung im Haus reflektieren, ist der zwischenmenschliche Grundton gesetzt. Mamargade und Sohn Cigaal verstehen sich blendend, die Beziehung rührt ans Herz, weil sich der Wittwer zwischen seinen Jobs Zeit nimmt für den Jungen und auf ihn eingeht. Sie vertreiben sich die Nachmittage mit einem selbst gebastelten Flaschenspiel oder quatschend am Strand. Der Kontrast zu den ausstaffierten Kinderzimmern, straffen Zeitplänen und durchgetakteten Tagen in der westlichen Welt könnte grösser nicht sein. Doch Veränderung liegt in der Luft und der Förderung des Nachwuchses soll gerade hier nichts im Wege stehen.

Filmstill «The Village Next to Paradise»

Schule auf Spendenbasis

Es war leider absehbar: Die Lehrer kommen nicht mehr zur Schule, weil sie keinen Lohn mehr erhalten, und schliesslich muss sie ganz geschlossen werden. Auf staatliche Strukturen kann man hier nicht zählen, die Schule funktionierte auf der Basis von Spenden, die zunehmend ausblieben. Mit Stolz und Ehrfurcht vernimmt Mamargade nun von der Schulleiterin, dass Cigaal mit seinen Begabungen eigentlich aufs Internat in die Stadt gehöre. Doch wie das bezahlen? Die Schwester könnte mithelfen, findet er, doch auch Araweelo ist von Hoffnung beseelt und verfolgt ihre eigenen Pläne. Und dies ziemlich beharrlich.

Das veranschaulicht eine Szene, die exemplarisch für die Arbeit von Mo Harawe und seinem ägyptischen Kameramann Mostafa El Kashe steht. Öfters verweilt die Kamera bei den einzelnen Figuren und macht ihre Gedanken erahnbar. Sie beobachtet Cigaal beim verträumten Spiel mit einem Papierflugzeug, gleitet langsam weiter zu Araweelo beziehungsweise zu einer Fotografie ihrer zerbrochenen Ehe. Close-up auf ihr Gesicht. Ihr Blick nach oben führt nahtlos in die nächste Aussenszene, in der sie auf das hoch hängende Schild eines Blechschuppens schaut. Hier könnte sich ihr Traum von einem windgeschützten Nähatelier verwirklichen. In einem Augenschlag und Schnitt geraten wir von der verblassenden Vergangenheit in die hoffnungsvolle Zukunft, erfassen den inneren Antrieb der Figur.

Nägel mit Köpfen

Auf der andern Seite entstehen in fixen Einstellungen bewegte Tableaus, die jedes Bild wie eine fein cadrierte Fotografie aussehen lassen. Sie fungieren als Kulissen, in denen die Protagonist:innen in einem eigenartig stoischen Schauspiel auf- und abtreten. Das mutet theatralisch an und unterstreicht den fein absurden Grundton. Ob die verzögerten Sprecheinsätze bewusst eingesetzt, der Kultur eigen sind oder auf das Laienschauspiel zurückzuführen ist, spielt keine Rolle. Wichtig ist, sich als Zuschauende:r darauf einzulassen und den Figuren umso näher zu kommen.

Mamargades Drama nimmt seinen Lauf und spitzt sich zu. Gegeisselt von der aufzubringenden Summe für Cigaals Internat, heuert er schon präventiv im Krankenhaus als Totengräber an, als er von einer möglichen bevorstehenden Drohnenattacke erfährt. Der Teufelskreis der Armut. Die Spirale dreht sich angesichts mangelnder Jobs und seines labilen Charakters stetig abwärts und er schlingert in die Illegalität. Dagegen handelt Araweelo zielgerichtet und entschlossen, macht buchstäblich Nägel mit Köpfen. Allerdings muss man Mamargade zugute halten: Einen entscheidenden Nagel schlägt er ein: Irgendwie schafft er es, Cigaal auf Pump aufs Internat zu schicken. Gegen dessen Willen freilich, der sich dort verloren fühlt und sein Zuhause und seinen ihm zusehends abhanden kommenden Vater schmerzlich vermisst.

Filmstill «The Village Next to Paradise»

Kleine Gesten, grosse Wirkung

Zum Glück bewahrheitet sich einmal mehr das afrikanische Sprichwort, wonach es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Wem auch immer der Junge begegnet, von allen erfährt er ein Stück Trost oder Hilfe, was es ihm ermöglicht, an den Herausforderungen zu wachsen.

Solidarität ist allen Figuren in der einen oder andern Form eigen, manchmal äussert sie sich in kleinen Gesten, die generell und besonders in einem sogenannten «failed state» Gold wert sind. Was hier alles nicht optimal läuft, streut der Regisseur im Laufe der Geschichte ein. Es deckt sich mit dem, was wir aus den Schlagzeilen kennen, wird in der Innensicht von der Nachricht zur greifbaren Erfahrung: Armut, Clanwesen, illegale Fischerei, Piraterie und Terrorattacken der radikal-islamischen Gruppierung Al-Shabaab hinterlassen im Alltag der Menschen Spuren und sind brandaktuell. Laut Tagesschau (ARD, 1.2.2025) hat die neue US-Regierung nach wenigen Tagen im Amt schon gezielte militärische Luftangriffe im Norden Somalias durchgeführt. Die Präzisionsangriffe sollen hochrangige Mitglieder der Terrorgruppe eliminieren und die regionale Stabilität fördern, ohne zivile Opfer zu fordern. Was sie für ganz normale Menschen bedeuten und wie sie deren Entscheidungen beeinflussen, zeigt dieser Film mit einfachen, bleibenden Bildern.

Unter all den Umständen braucht es Optimismus, einen Plan – und eine Frau wie Araweelo, die zupackt, liebevoll und loyal ist, und mit diesen Werten die Patchworkfamilie, wie wir sie auch in unseren Breitengraden kennen, Schritt für Schritt zusammenschweisst. Beinahe unbemerkt baut sie Cigaal Stück für Stück ein kleines Nest, das aus seiner Sicht dem Paradies nahe ist.

Filmstill «The Village Next to Paradise»
portrait Mo Harawe

Mo Harawe:

Mo Harawe is a Somali/Austrian writer and director born 1992 in Mogadishu. He has been studying Visual Communication and Film at Kunsthochschule Kassel. The Village Next to Paradise is his debut feature film, following his acclaimed short films Life on the Horn (2020) that earned a Special Mention …

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