Magazine

Telefonkrimi
Sabiha arbeitet in einem Erotik-Callcenter am Stadtrand von Ankara und nimmt unter dem Pseudonym Arzu Anruf um Anruf entgegen. Als Istanbul von einem heftigen Erdbeben erschüttert wird, ruft ein verschütteter Teenager über die Rückruftaste an. Arzu fällt nur eine Lösung ein, um ihn zu retten. Sie macht einen Anruf, ohne zu ahnen, dass sie damit in ein politisches Komplott hineingezogen wird.
Frauen in einem Callcenter in Ankara beantworten die Anrufe bei einer Sex-Hotline. Hier wird Tacheles geredet, das machen gleich die ersten Sätze unmissverständlich deutlich. Der Blick richtet sich auf Arzu, eine schmale Frau mit grossen dunkelblauen Augen unter dichten Brauen, und verzeichnet, wie sie professionell auf die unterschiedlichen Wünsche eingeht. Organisiert und aufmerksam macht sie sich Notizen über die persönlichen Umstände und die Vorlieben ihrer Anrufer, viele davon Stammkunden; darüberhinaus schreibt sie auf, was beim Sprecher im Hintergrund sonst noch so zu hören ist und möglicherweise wichtig sein oder werden könnte. So entgeht ihr natürlich nicht, dass bei einem der Anrufer offenbar eine Riesenparty im Gange ist – Korken knallen, Mädels kichern, Musik wummert, Nasen schniefen (Koks); und irgendwie mischt bei dieser Orgie dann auch noch ausgerechnet jener Staatsanwalt mit, der gerade eben im Fernsehen als engagierter Korruptionsbekämpfer hoch gelobt wurde. Wenig später schon wird das sehr wichtig werden.

Die imaginäre Präsenz des Aussen
Eine Frau, ein Raum, ein Telefon. Das sind die wesentlichen Zutaten von Confidente, dem vierten gemeinsamen Spielfilm des türkisch-französischen Regieduos Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti. Vergleichsweise wenig, könnte die Zuschauerin nun versucht sein zu denken, und sich präventiv die Frage stellen, ob es den Filmemacher:innen wohl gelingen wird, das Interesse am solcherart übersichtlich gehaltenen Geschehen auf Dauer aufrechtzuerhalten. Tatsächlich dauert es dann aber nicht lange, bis aus dem neugierigen Interesse, das ohnehin gleich geweckt ist, ein grosses Gespannt-Sein wird, das bis zum Schluss immer nur wächst, nie nachlässt. Natürlich hilft es, dass Confidente mit 76 Minuten Länge angemessen und angenehm ökonomisch gehalten ist. Die ausdrucksstarken Stimmen der Anrufenden – die ihre Ansinnen mal flehend, mal drohend, mal schmeichelnd, mal befehlend vorbringen – tragen weiterhin dazu bei, den konkreten Ort um ihre imaginäre Präsenz zu erweitern; sie bringen das Aussen nach Innen und damit bald eine gefährliche Undurchschaubarkeit der Motive ins Spiel. Befördert wird das von einer Cadrage, die Rahmen in Rahmen schachtelt, Türen, Treppen und Geländer zur Blickführung nutzt respektive Durch- wie Überblick erschwert. Dabei wird sie von Eric Devins Kamera unterstützt, die immer ganz nah an der Protagonistin bleibt, ihr forschend ins Gesicht schaut, ihr förmlich auf die Pelle rückt – und so ihre zunehmend ausweglose Lage fassbar macht; zusätzlich dynamisiert vermittels der geschwind, und doch ruhig dahinfliessenden Montage von Guerric Catala.

Augen, die alles niederbrennen
Logischerweise steht und fällt der Film mit Saadet Aksoy, die in der Rolle der Telefonistin im Zentrum der Ereignisse steht, und der es mühelos gelingt, die innere Anspannung der Figur auf die Zuschauer:innen zu übertragen. Einem internationalen Festivalpublikum ist die 1983 in Istanbul geborene, viel beschäftigte und vielfach ausgezeichnete Film- und Fernsehschauspielerin aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Semih Kaplanoglu (u.a. Yumurta, 2009) und Ali Vatansever (Saf, 2018) bekannt. Zuletzt wirkte sie in der Netflix-Thrillerserie Asaf mit; Sergio Castellitto, der sie in Venuto al mondo (2012) an der Seite von Penélope Cruz und Emile Hirsch besetzte, bringt seine erste Begegnung mit ihr folgendermassen auf den Punkt: «Ich stolperte über einen Filmtrailer; keine Ahnung mehr, was es war. Aber ich erinnere mich, dass da diese Frau abrupt der Kamera den Kopf zuwandte, und ihre blauen Augen brannten alles nieder, sprengten die Einstellung.» Der Ausdruck, von dem hier die Rede ist, ist einer der Stärke. Mit ihrer schmalen Statur wirkt Aksoy zwar eher zierlich und ihre Schönheit mag insbesondere Männer dazu verführen, ihre Figuren als Prinzessinnen zu idealisieren und so zu unterschätzen. Doch die Schauspielerin verkauft ihre Arbeit nicht unter Wert, stattet vielmehr ihre Frauen mit einer beträchtlichen Kraft aus, einer Mischung aus Mut und Zähigkeit, die sie dazu befähigt, im Fall der Fälle über sich hinauszuwachsen.
Die westliche Kultur und Gesellschaft verlangt von uns, dass wir mit uns selbst klarkommen, die östliche Kultur hingegen ermutigt uns, Teil der Gesellschaft zu sein.
Das Regie-Duo zum Film
Je länger man Aksoys Figur zusieht und zuhört und unterdessen verfolgt, wie die Story von Confidente um sich greift und sich verästelt, desto klarer wird, dass deren Bedeutung sich auf gleich mehreren Ebenen entfaltet. Zencirci und Giovanetti erzählen nicht einfach nur von einer Frau, die in einem Raum pikante Telefongespräche führt; vermittels des Telefons holen sie die Geschlechterverhältnisse mitsamt Machtgefälle zu dieser Frau in den Raum – der wiederum wird auf diese Weise zu einem Ort der kritischen Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, deren Konventionen und Vorstellungen von Sitte und Anstand von doppelmoralischen Standards tief geprägt sind.

Arzu heisst eigentlich Sabiha; sie lebt in Scheidung und streitet sich mit ihrem Ex-Mann um das Sorgerecht für ihren Sohn; womit sie ihren Unterhalt verdient, darf keine:r wissen, das Patriarchat, in dem sie lebt, ächtet Frauen wie sie (und braucht sie doch zugleich). Der wacklige Untergrund, auf dem Sabihas/Arzus Existenz gründet, spiegelt sich in der Krücke, auf die sie angewiesen ist, und die sich natürlich als Symbol der Bewegungseinschränkungen interpretieren lässt, denen Frauen in muslimischen Gesellschaften unterworfen werden. Eine weitere Komplikation in Sabihas Leben: der Callcenter-Chef hat einen Narren an ihr gefressen, er steigt ihr hinterher, will sie «retten», lockt mit einem Flugticket nach Berlin. Eine verführerische Aussicht gerade jetzt, da die Dinge am Telefon sich zuspitzen.

Die Frau folgt nicht
Am 17. August 1999 nämlich, an dem die Ereignisse in Confidente angesiedelt sind, erschütterte ein massives Erdbeben den Nordwesten der Türkei, das Marmarameer und die Region Istanbul; die staatlichen Institutionen zeigten sich der katastrophalen Lage wenig gewachsen, so dass zunächst zivilgesellschaftliche Organisationen einsprangen und die Rettungsmassnahmen koordinierten. An den seinerzeit wirksam gewordenen solidarischen Impuls knüpfen die Filmemacher:innen, die ein eigenes Drehbuch verfilmen, hier nun an: Arzu erhält den Hilferuf eines jungen Mannes, der in Istanbul in einem eingestürzten Haus verschüttet ist, und erinnert sich an den Staatsanwalt, der ahnungslos eine enthemmte Party feiert, anstatt Einsatzbefehle zu erteilen. Also ruft sie denselben kurzerhand an, nicht ahnend, in welche Gefahr sie sich damit bringt. Denn während die Frau eindeutig motiviert ist – sie will helfen – entpuppen sich die Agenden der Männer als zunehmend diffus. Die Party des Staatsanwalts findet in jener Grauzone statt, in der das Ermittelnde und das Kriminelle oft nur noch schwer voneinander zu trennen sind. Und auch am Aufenthaltsort des verschütteten Jungen ging es keineswegs so unschuldig zu wie angenommen. Gemeinsam ist den Männern der Drohgestus: Die Frau soll folgen, sonst . . . Aber die Frau folgt nicht.
In mancherlei Hinsicht steht Confidente in scharfem Kontrast zum Vorgänger Sibel (2018). Und doch verfolgen beide Filme dasselbe Ziel, indem sie Mechanismen von Unterdrückung analysieren und die Möglichkeit von Widerstand zeigen. Wo der eine in einem engen Innenraum in der riesigen Hauptstadtmetropole angesiedelt ist, lebt die Titelheldin des anderen tief in einem Tal im Pontus-Gebirge inmitten einer weit sich öffnenden spektakulären Landschaft. Und wo die stumme Sibel sich lediglich in der ortsüblichen Pfeifsprache verständlich machen kann, da spricht jene Andere am Telefon in den unterschiedlichen Sprachen, die die verschiedenen Männer verstehen. Sabiha/Arzu sei als eine Art Scheherazade zu sehen, so Zencirci und Giovanetti, die nicht nur mit mehreren Anrufen in der Leitung, sondern auch mit den Anrufern um ihr Leben jongliert. Sibels Verzweiflung über den immensen Druck, den die dörfliche Sozialstruktur, in der sie gefangen ist, insbesondere auf die Frauen ausübt, kulminiert schliesslich in einem markerschütternden, stummen Schrei. Sabiha verlässt am Ende die Telefon-Zelle und adressiert eine Öffentlichkeit, die tatsächlich bereit scheint, ihr zuzuhören. Beide Frauen fordern ein Ende der Scham; und auf leisen Sohlen, doch unbeirrt machen sie sich auf den Weg, wenn schon nicht in die Freiheit, so zumindest ins Freie.

Çağla Zencirci:
French-Turkish couple ÇağlaZencirci and Guillaume Giovanetti have directed together since 2004 several shorts (all selected in Berlin, Locarno, Clermont-Ferrand Festivals) and two features, Noor (Pakistan, 2012 / Cannes Acid) and Ningen (Japon, 2013 / Toronto). Their third feature film Sibel premie…

Guillaume Giovanetti:
French-Turkish couple ÇağlaZencirci and Guillaume Giovanetti have directed together since 2004 several shorts (all selected in Berlin, Locarno, Clermont-Ferrand Festivals) and two features, Noor (Pakistan, 2012 / Cannes Acid) and Ningen (Japon, 2013 / Toronto). Their third feature film Sibel premie…

Confidente
Article published: 7. August 2025
More articles
Polizistin im Himalaya
Deepak Rauniyars dritter Spielfilm basiert auf wahren Ereignissen und ist in der nepalesischen Gesellschaft verankert. Während der Proteste der ethnischen Gruppe der Madhesi im Jahr 2015 verbünden sich zwei sehr unterschiedliche Polizistinnen, um einen Fall von Kindsentführung aufzuklären. Ein faszinierender Kriminalfilm und ein Plädoyer für Toleranz.
Den Hocker wegziehen?
Vier Variationen zur moralischen Kraft. Heschmat ist ein vorbildlicher Ehemann und Vater, der seinem Alltag nachgeht. Rekrut Pouya kann sich nicht vorstellen, einen Menschen zu töten. Javad ahnt nicht, dass sein Heiratsantrag nicht die einzige Überraschung für seine Geliebte am Geburtstag bleiben wird. Bahram ist Arzt, darf aber nicht praktizieren. Die vier Menschen kennen ...
Liebe in Zeiten der DĂĽrre
Banel und Adama lieben sich. Sie leben im Norden Senegals in einem kleinen Dorf und sehnen sich nach einem eigenen Zuhause, weg von Familie und sozialen Verpflichtungen. Dies bedeutet jedoch, dass Adama die für ihn vorgesehene Rolle als Dorfvorsteher nicht wahrnehmen kann. Als Adama den Dorfrat von seinem Vorhaben unterrichtet, gerät die gesamte Gemeinschaft in Aufruhr, und der ...