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Von den unsichtbaren Dingen im Leben
Was für eine Freude, diese Filmperle restauriert (wieder) zu sehen! Edward Yang erzählt in seinem Opus magnum auf irrwitzige Weise die Geschichte einer Familie in Taiwan. NJ Jian, seine Frau Min-Min und ihre zwei Kinder sind eine Familie der Mittelklasse. Sie teilen sich ihre Wohnung in Taipeh mit der Grossmutter. Wie viele in den Vierzigern ist NJ an einem Punkt, an dem er sich fragt, ob sein Leben anders hätte verlaufen können. Und sein Sohn Yang-Yang zeigt uns Dinge, die wir nicht sehen.
Was ist das, das Leben? Was für eine Frage. Sie treibt uns um, taucht in tausenderlei Verkleidungen auf, alltäglich. Was wäre die Kunst ohne sie? Wie viele Romane oder Theaterstücke haben Antworten darauf gesucht? Wie viele Filme betrachten nicht Ansätze zu Antworten? Wie viele Musikstücke tasten nicht ihren Klangraum ab? Wie viele Bilder, Skulpturen, Installationen setzen nicht Gefühle in Bewegung? Was ist das, das Leben?
Eine Frage, zu banal und zu gross in einem. Also hilft womöglich eines: Immer wieder näher hinschauen. Schritt um Schritt. Und eins und eins – oder eben in Mandarin: Yi Yi. Grossmutter Jian hat zwei Kinder grossgezogen: einen Sohn und eine Tochter. Er heisst A-Di, steht trotz gewichtiger Postur nicht eben sicher im Leben und hat sich endlich entschieden zu heiraten. Hsiao-Yan bringt auch bereits einen dicken Bauch ans Hochzeitsfest, was die Tischgespräche beflügelt. Grossmutters Tochter heisst Min-Min. Sie ist schon lange verheiratet und steckt mitten in einer existenziellen Krise, in der sie sich fragt, was sie mit dem Leben so anfangen soll, ob es nicht noch andere Sphären des Glücks gibt. Verheiratet ist sie mit NJ, einem erfolgreichen Mann aus der Computerbranche, der am Rand von Schwagers Hochzeitsfest auf seine grosse Jugendliebe Sherry trifft. Min-Min und NJ haben zwei Kinder, die 15-jährige Tochter Ting-Ting, die das Gymnasium besucht, und den 8-jährigen Sohn Yang-Yang, der gehänselt wird und experimentierfreudig Erfahrungen sammelt. Klingt alles ganz gewöhnlich? Klar. Der Taiwanese Edward Yang zeigt uns, wie das ganze Leben im Gewöhnlichen geborgen liegt. Wie er das tut, ist atemberaubend. Vielleicht macht das Leben ja einfach Sinn, weil es Filme wie diesen gibt.
Die halbe Wahrheit
Yang-Yang steckt noch am Anfang. Der Knabe tastet sich still, sorgsam, neugierig und unerbittlich ins Leben vor. Im Badezimmer macht er Atemtests, das Wasser ist ein Element, das ihn fasziniert. Mit dem Fotoapparat des Vaters tapst er auf Socken im Haus herum. Er knipst scheinbar aufs Geratewohl Bilder. Die Erwachsenen schütteln verständnislos den Kopf: «Was fotografierst du da?» fragt eine Nachbarin, die er mit dem Blitz im Treppenhaus erschreckt hat. «Ich will der Mama die Mücken zeigen.» – «Was soll das?», fragt ihn der Onkel, der auf dem ihm zugesteckten Bild nur seine Rückseite, den eigenen Nacken, ausmachen kann. «Da du sie nicht siehst, zeige ich sie dir», meint der Kleine und zieht sich, über die eigene Souveränität erstaunt, gleich wieder zurück. Was denn? Die hintere Seite des Äusseren, die andere Seite des Menschseins, jene Seite, die für den Betroffenen nicht sichtbar ist. Im Auto hat Yang-Yang eines Morgens dem Vater erklärt: «Ich sehe nicht, was du siehst, und du siehst nicht, was ich sehe. Woher willst du wissen, was ich sehe?» – «Gute Frage», meint der Vater, «daran habe ich noch nie gedacht.» – «Papi, dürfen wir nur die halbe Wahrheit kennen?» – «Ich verstehe dich nicht.» – «Ich sehe nicht, was hinter mir ist. Also darf ich nur die Hälfte der Wahrheit wissen.» Der Vater, geistesabwesend und leicht überfordert: «Du hast heute viele Fragen.»
Facetten unseres Lebens
Natürlich redet der Junge in dem Moment für den Autor des Films, klar spricht aus solchen Dialogen Edward Yang. Wie alle Figuren letztlich eine einzige sind und als diese Facetten unseres Lebens verkörpern, steht er für die kindliche Entdeckungsfreude, die unfiltrierte Direktheit, das leicht Verschmitzte, das Sichzurechtfinden. Mit Hilfe der Kamera die andere Seite des Lebens betrachten, jene, die wir selber nicht wahrnehmen, weil wir unseren Nacken ohne Hilfsmittel nicht betrachten können? Was anderes machen wir, fragt Yang, wenn wir kreativ sind? Und er geht noch einen Schritt weiter, wenn er an einer anderen Stelle im Film die Schwester Ting-Ting mit dem Freund ihrer Nachbarin in der Bar übers Kino sinnieren lässt. Auf die Frage ihres Begleiters, ob ihr denn der Film, den sie eben zusammen gesehen hatten, gefallen habe, meint sie lakonisch: «Ein bisschen zu ernst.» – «Magst du Komödien lieber?», will der Junge wissen. – «Nein, aber was sollen solch dramatische Filme?» – «Das Leben besteht aus traurigen und fröhlichen Dingen», versucht er zu erklären, «und je glaubwürdiger ein Film ist, desto besser.»
Dank Kino dreimal intensiver leben
Ting-Ting gibt sich nicht zufrieden: «Wozu überhaupt ins Kino gehen? Man kann auch zu Hause das Leben erleben.» Jetzt zitiert der Junge seinen Onkel, der ihm einmal gesagt habe: «Seit es das Kino gibt, leben wir dreimal intensiver.» – «Warum denn das?» – «Die Filme geben uns zweimal mehr als das, was wir täglich erleben. Einen Mord zum Beispiel. Wir haben nie jemanden umgebracht und doch wissen wir, wie das ist. Das verdanken wir dem Kino.» – «Was nützt mir das? Wenn das Leben so grausam ist, wozu leben? Wenn man nett ist, sind die Leute es auch. Wozu soll man ans Töten denken?» – «Das war ja nur ein Beispiel. Es gibt noch andere Dinge. Er sagte auch: Es gibt keine Wolke, keinen Baum, die nicht schön wären. Deshalb muss man sich selbst sein. Ich finde das sehr rührend, mich hat das verändert.» Ting-Ting lebt noch in einfacheren Denkschemen und mag sich nicht auf komplexe Gedankenspiele einlassen. Befremdet und enttäuscht meint sie: «Warum dramatisierst du das alles?» Eigentlich wollte sie einfach einen schönen Abend mit einem Jungen verbringen, und so hatte sie sich das denn doch nicht vorgestellt. Warum dramatisieren Menschen, warum dramatisieren Künstler und Künstlerinnen das Leben? Will auch heissen: Warum führen sie uns vor Augen, was wir erleben?
Der 2007 im 60. Lebensjahr verstorbene Edward Yang hätte wohl nichts dagegen eingewendet, dass ich die beiden Stellen aus seinem Film als Einstiegshilfen benutze zur Annäherung an Yi Yi. Die andere Seite sichtbar machen und das Erfahrungspotenzial des Lebens verdreifachen: Was für wunderbar simple Ansätze für einen Film. Und wie schafft der Chinese das? Durch Einfachheit. Auf die Frage, warum er denn Filme mache, hatte Yang vor Jahren der französischen Tageszeitung Libération geantwortet: «Damit ich nicht so viel reden muss.» Und wenn man sich anschickt, über seinen Film schreibend nachzudenken, dann geht einem nicht aus dem Sinn, dass das Reden und Schreiben über wirklich grosse Filme das Sehen niemals ersetzen kann. In einem Fall wie Yi Yi ohnehin nicht, denn da ist einfach alles drin: Von der Geburt bis in den Tod, vom Ansatz zur Zärtlichkeit bis zur Gewalt, vom Glücksmoment zu dem des Versagens, vom Schweigen zum Reden, von der Dummheit zur Weisheit.
Yi Yi – allein schon der Titel ist Musik: Da scheint alles gleich wichtig oder unbedeutend, da werden wir getragen von einem Erzählfluss, der uns die kleinsten Strömungen und Wirbelchen erkennen lässt, da wenden wir den Blick gar nie aufs Ganze, weil das Bewusstsein den Strom antreibt, dass im Kleinsten das Grosse sich spiegelt. Das Gespräch zwischen dem Buben und dem Vater ist genauso wie das Gespräch zwischen dem Mädchen und ihrem Begleiter in einer Fixeinstellung aufgenommen, frontal betrachtet, durch eine Fensterscheibe. Im einen Fall sitzen der Junge und der Vater im Auto und schicken sich an, loszufahren. Im anderen Fall sitzt das Paar hinter einer Theke in einer Imbissbar. Nichts lenkt die Betrachtenden von dem ab, was in dem Moment entscheidend ist: der Dialog. Kein Perspektivenwechsel täuscht Aktion vor, wo keine ist. Keine Montage versetzt uns in wechselnde Positionen von sich gegenüber stehenden Figuren. Keine Veränderung der Cadrage täuscht uns eine Annäherung vor, wo Distanz angesagt ist. Das soll jetzt nicht heissen, dass andere Erzähltechniken fragwürdig wären, wohl aber etwas aussagen über diejenige von Edward Yang. Er hat schon in seinen früheren Filmen Zurückhaltung geübt im Einsatz der Mittel, der Möglichkeiten auch, Szenen aufzulösen.
Konfuzianische Konfusion
Yang ist ein Mann der Plansequenzen und des insistierenden Blicks, ohne dass er die beiden gestalterischen Momente je strapazieren würde, dass er sie in Selbsttätigkeit entliesse. Die Form wirkt bei ihm denn auch nie künstlich. Bewegung ist ganz selten eine Aufgabe, die die Kamera wahrnimmt. Aber wenn er seine Kamera bewegt, dann weiss er damit etwas zu erzählen oder, bei ihm besonders wichtig: Gerade dann lässt er auch wieder Elemente des Dekors und damit die Architektur erzählen. In der Architektur bewegt sich der Mensch, und die Architektur bewegt ihn, gibt ihm Wege vor, strukturiert seinen Alltag. Der Blick (der Kamera) muss sich der Architektur unterordnen, wenn er dem Raum seinen Raum belassen will. Davon erzählt Edward Yang in seinen Filmen, die urban sind und vom Menschen im städtischen Umfeld handeln.
Von der Verlorenheit der Menschen auch, denn obwohl sie beispielsweise im vorletzten Film A Confucian Confusion alle mit Handy bestückt sind, haben sie ihre lieben Kommunikationsprobleme, herrscht, wie jener Titel es so schön sagt, Konfusion im Reich des Konfuzius, ein zentrales Moment im Filmschaffen von Yang. Er positioniert seine Kamera so, dass das gewählte Cadre eine Geschichte erzählt und nicht die Bewegung des Objektivs. Visuelle Verdichtungen sind eine von Edward Yangs Spezialitäten, ergänzt durch eine feingliedrige Tonspur, die oft weit voraus eine Szene akustisch antizipiert. Die Verdichtungen fallen nicht auf, sie drängen sich nicht auf, sie sind die natürlichste Sache, sie zeigen sich oftmals erst beim wiederholten Betrachten seiner Filme, tragen aber eben dazu bei, dass man schon beim ersten Mal getragen ist von ihrem Erzählfluss, der mindestens so sehr ein Wahrnehmungsfluss ist. Später wird die Mutter im Dunkel der Nacht am Fenster ihres Büros stehen, und in diesem Fenster spiegeln sich die Lichter der Strasse mit den fahrenden Autos. Irgendwo weit weg das blinkende Licht einer Ampel, das genau an der Stelle ihres Herzens gespiegelt pulsiert. Gleich wird sie ihre Arbeitskollegin Nancy fragen: «Wohin könnte ich gehen?»
Sind die Menschen wirklich so verschieden? Sind wir so verschieden, dass wir unterschiedliche Definitionen für das eine Wort benötigen: menschlich? Ich möchte, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer mit dem Eindruck aus meinem Film herauskommen, einen Augenblick mit einem Freund verbracht zu haben.
Fürs Komponieren in Bildern, fürs Komponieren der Bilder kann Edward Yang auch auf so banale Alltagsrealitäten wie die Überwachungskameras setzen, die etwa die Rückkehr des Buben Yang-Yang ins Schulzimmer festhalten – sinnigerweise entstehen da innerhalb einer einzelnen Einstellung eine Art Schnitte, indem die sichtbaren Monitoren natürlich verschiedene Perspektiven einnehmen, genau das, was Yang selber meidet. Er sucht nicht die Chronologie, weder in einer Szene noch im Blick auf die Lebensfäden, er sucht die Charakteristik, das Wesen eines Lebens, das heutzutage zuerst an einem Monitor sichtbar wird, an jenem des Ultraschalls bei der pränatalen Routinekontrolle.
In die Tiefe hinein
Öfters verschwindet in Yi Yi eine Figur aus dem gewählten Cadre, um später von einer anderen Seite her wieder aufzutauchen. Der Leerraum, der Raum zwischen den Ereignissen, der Raum neben dem vermeintlich Bedeutsamen ist Yang mindestens so wichtig wie der Rest. Das Off des Bildes wird als Aktionsraum genutzt. In ihm zeichnet sich so vieles ab, was folgen kann, und so wie der Knabe die Nacken der Leute um ihn herum fotografiert, lässt uns Yang den Raum daneben betrachten. Manchmal bewegt sich in solchen Momenten die Kamera sanft zur Seite, um den Blickwinkel zu verändern. Geschnitten wird dann nicht. Wenn Yang in einer Szene schneidet, dann am liebsten japanisch, wie Akira Kurosawa das getan hat: in die Tiefe hinein, anstelle einer Kamerafahrt. An der Hochzeit ist es der Raum vor dem Fest, der Moment des Einrichtens, beim Familienbild sind es die Sekunden vor dem entscheidenden Klick, beim Hochziehen des Rouleaus im Bürohaus von NJ ist es der Raum vor dem Fenster, wo Tauben aufgeschreckt davonfliegen – es ist, als wären wir in eine stillgelegte Fabrikhalle getreten und hätten dort ungestört turtelnde Vögel aufgescheucht. Ein stilles Bild für das Leben nach dem Ruin.
Yi Yi handelt nicht zuletzt von der Essenz des vermeintlich Nebensächlichen. Entscheidende Dialogsätze sind die alltäglichsten: Tritt der Studienfreund und Geschäftspartner aus dem Lift, plaudert mit denen, die wartend davorstehen, und betritt mit ihnen kurz danach den Lift wieder, so hört man ihn fragen: «Warum bin ich eigentlich heruntergekommen?» Oder wenn der Vater etwas im Pult sucht: «Was wollte ich eigentlich?» Was wollen wir eigentlich? Yang liebt Lifttüren, denn hinter ihnen verbergen sich Überraschungen wie die Jugendliebe, die plötzlich wieder auftaucht. «Bist du es wirklich?», fragt sie den sprachlos neben seinem Buben stehenden Vater. Ist er wirklich?
Offene Räume
Immer wieder unterstreicht die Position der Kamera diese Mischung aus Diskretion und intimer Nähe, die den Film so unaufdringlich nah macht. Wir dringen als Zuschauerin oder Zuschauer nicht ein in die Privatsphäre der Figuren, die Kamera rückt ihnen nicht auf die Pelle. Nein: Sie verweilt vor einer halb geöffneten Tür, sie blickt durch eine Glasscheibe oder sie späht über die Strasse auf die andere Seite. Nehmen wir darum so viel mehr wahr, als wenn sie näher ranginge? Erzählt uns Yang deshalb so viel mehr, als wenn er ständig schneiden würde, Schuss-Gegenschuss? Er macht das nicht, er lässt Raum offen, und dies in verschiedenen Beziehungen. Wenn es in der Wohnung nebenan kracht, dann nehmen wir das von aussen wahr, genauso wie wir Liebesaktgeräusche vernehmen. Wenn die junge Frau mit ihrem Freund verbotenerweise zusammen unter der Autostrassenbrücke steht, so stehen wir nicht störend daneben. Wenn Yang-Yang am Bassinrand seine Schuhe auszieht und den Rucksack mit den Schulsachen, wenn er ins Wasser springt und uns vor Schreck das Herz stillstehen will, so macht die Kamera keinen Wank. Die Leere danach und drum herum: Sie sagt uns mehr – und gibt uns Gedankenraum. Die Nachbarin, die dem Knaben beim Mückenfotografieren über den Weg läuft, kann sich sagen: Welch kindsköpfige Idee! Die Mücken, die sieht man doch auf den Bildern nicht. Und der Lehrer von Yang-Yang kann sich vor der Klasse lustig machen über seine Fotos: «Das ist avantgardistische Kunst!» Aus dem Mann spricht die Angst des Erwachsenen vor der Begegnung mit dem Unbekannten. Die verkümmerte Offenheit gegenüber dem, was sich zeigen kann – oder eben nicht. Die Angst des Erwachsenen vor dem Scheitern eines Versuchs. Das Kind kennt sie nicht. Egal, ob die Mücken auf Yang-Yangs Bildern sichtbar sind oder nicht, egal, ob beim Versuch, sie mit einer gewöhnlichen Kamera im Treppenhaus zu erhaschen, das meiste unscharf bleibt.
Auf der Suche
Viel wichtiger ist, was ausgerechnet der Lehrer des Knaben nicht begreifen wird: Der 8-jährige Junge hat sich darangemacht, seine Mitwelt zu erfassen. Er hat begonnen, selber Kriterien zu bilden und sich ein Bild zu machen von dem, was wahrnehmbar ist – und was nicht. Irgendwie, scheint er sich zu sagen, muss man davon etwas festhalten können. Und bei ihm zeigt sich, was in unterschiedlicher Art für alle Figuren gilt: Sie sind mit ihrer Suche und mit ihren Versuchen oft genug allein. Natürlich ist Yang-Yang so etwas wie der kleine Yang (Edward) – das Spiel mit den Doppelnamen hat ja auch etwas von Verkleinerungsformen.
Wenn Yi Yi der Rang eines Meisterwerks zukommt, dann eben just deshalb, weil da ein grossartiger Erzähler uns ohne grosse Worte ein Stück Leben daneben zeigt. Der Familienroman führt uns in kleinen Ausschnitten auch Taipeh vor Augen und über Taipeh das Leben in einer asiatischen Wirtschaftsmetropole. Anders als in vielen Stadtfilmen schweben wir nicht per Helikopter an, um irgendwo durchs Schlafzimmerfenster von der Totalen in der Nahaufnahme zu landen: Nein. Yang täuscht keine Übersicht vor, und dennoch schaffen wir sie uns. Taipeh ist eine reiche Stadt, das ist sichtbar, der Vater hatte Erfolg mit seiner Arbeit und doch kriselt es im Computerbereich. Neue Wege sind gesucht, neue Ideen. Aus diesem Grund hat man einen japanischen Game-Spezialisten eingeladen, damit der seine Projekte präsentieren kann. Aber man will profitieren um jeden Preis, auch von ihm oder dann eben von einem, der seine Produkte kopiert und als billigere Varianten anbietet. NJ ist als Einziger im Betrieb interessiert an dem, was Ota berichtet, und fasziniert von der Person.
Gleichzeitigkeit des Anderen
Der 45-jährige Vater NJ durchlebt auch privat eine Krise. Ausgerechnet an der Hochzeit seines Schwagers A-Di trifft er seinen Schul- und Studienschatz von einst wieder, nach bald dreissig Jahren, in denen man sich aus dem Gesicht verloren hatte. Sie ist inzwischen mit einem Nordamerikaner verheiratet und viel unterwegs. Soll man sich wieder sehen? Den fallengelassenen (Lebens-) Faden von damals doch wieder aufgreifen? Der in der nostalgischen Verklärung einzig wahren Liebe eine Chance geben? Das Leben noch einmal neu anfangen? Anders ansetzen? NJ lässt sich auf ein Treffen mit der Jugendliebe in Tokyo ein. Die Reise bringt ihm gleich zwei Begegnungen: zum einen eine geschäftliche mit dem Game-Spezialisten Ota, zum anderen die private mit Sherry. Geschäftlich lernt er, dass man alles kann, wenn man nur will und sich Mühe gibt, dass es keine Tricks gibt und keine Zaubereien, nur Beherrschung gewisser Dinge. Privat ergründet NJ mit seiner Jugendliebe, was damals war, warum er nicht zum Rendez-vous erschienen war und sie allein gelassen hatte. Alle Fragen können nicht geklärt werden, aber eines wird klar: Wenn man jung ist, findet man sich zurecht. Mit zunehmendem Alter kann es schon schwieriger werden.
Yi Yi ist ein Puzzle des Lebens, montiert mit zahlreichen Einzelteilchen, von denen jedes für sich ein Stück einer unendlichen Geschichte erzählt, eine Facette sichtbar macht oder zumindest Ahnungen davon. Der Film ist in einem Fluss um die Ereignisse einiger weniger Tage im Leben der Familie Jian montiert, beginnend an dem Tag, an dem die Oma ins Koma fällt, und endend an jenem Tag, an dem sie zu Grabe getragen wird. Ich habe bereits von der Einfachheit geschrieben, in der Edward Yang seine Puzzleteile inszeniert hat. Dazu gehört auch die Sparsamkeit. Einmal nur arbeitet er mit einer klassischen Parallelmontage, und über sie führt er uns die Wiederkehr vor Augen. Während nämlich der Vater sich mit seiner Jugendliebe in Tokyo trifft, hat seine Tochter Ting-Ting mit dem Freund ihrer Nachbarin abgemacht. Bis dahin hatte sie zwischen den beiden chronisch Unglücklichen Botendienste geleistet, aber jetzt möchte sie es gerne einmal selber wissen. Hier also Tokyo, dort Taipeh. Und die Gleichzeitigkeit des Anderen, Gegenwart und Vergangenheit, Nähe und Distanz.
Das ältere Ex-Liebespaar steht verloren in einer Tokyoter U- Bahn-Station, er deutet nach rechts, sie nach links: In welche Richtung führt der richtige Weg? Auch hier bleibt Yang auf Distanz, um die Umgebung mit erzählen zu lassen, den Figuren Raum zu geben, um sie in der Fragilität ihrer Situation nicht zu stören. Wo andere näher hingehen würden, weicht er noch zwei Schritte zurück. Während wir also im Ton das Gespräch der beiden über mögliche Verbindungslinien und Wege zum Ziel hören, blicken wir von einer Brücke auf die Schienenstränge der Eisenbahn hinunter, auf denen ein Zug von oben nach unten sich bewegt und ein anderer in die Gegenrichtung.
Die feuchte Hand
Yang insistiert auf einzelnen Bildern wie diesem, denn das Ex- Liebespaar denkt jetzt darüber nach, wie das beim ersten Treffen damals gewesen ist. Sie gesteht ein, dass sie Angst gehabt habe und erinnert sich an den Schluckauf. Er war zu nervös, sie zu fragen, was denn los sei. Er hätte kaum richtig atmen können und feuchte Hände bekommen. In Taipeh macht sich gleichzeitig Ting-Ting auf zu ihrem ersten Treffen. Sie hat das grüne Schultenue, das sie normalerweise trägt, mit einem weissen Rock und einer hellblauen Bluse vertauscht und ist dem Begleiter hinten aufs Fahrrad gestiegen, so, wie das die Nachbarstochter jeweils tat. «Wir haben keine Kinder», sagt die Ex-Geliebte dem Vater von Ting-Ting in Tokyo. «Ich habe zwei», gesteht er ihr, einen 8-jährigen Sohn und eine Tochter, die ins Gymnasium geht. Und: «Ich bin vernarrt in meine Tochter.» Bald werde sie einen Freund haben, und er sei eifersüchtig. Dem Sohn möchte er gerne ein Freund sein, denn mit seinem Vater und ihm sei das nie so gewesen. In der Parallelmontage verknüpft Yang Zeiten, Orte und Verhaltensmuster bis hin zum Kulminationsmoment der ersten Berührung. Wenn der Vater seiner Jugendliebe erzählt, wie er bei einem Bahnübergang ihre Hand hätte berühren wollen, sehen wir seine Tochter Ting-Ting und deren Begleiter, der bei einer Ampel in Taipeh ihre Hand berühren will. Der Text kommt weiter aus Tokyo: «Und jetzt halte ich wieder deine Hand.» – «Nur ist es diesmal nicht dieselbe Stadt.» – «Und nicht dasselbe Alter» – «Aber dieselbe feuchte Hand.»
Gespräche mit der Oma im Koma
Die Sparsamkeit der Mittel zahlt sich durch Intensität der Wahrnehmung aus. Edward Yang bewegt sich in einer Beschaulichkeit im allerbesten Sinn des Wortes. Hochzeit und Beerdigung stimmen als Rahmen ein und aus. Als eines der wenigen wiederkehrenden Elemente stehen die Besuche bei der Oma im Koma. Jedes Familienmitglied sitzt mindestens einmal allein an ihrer Bettkante und versucht, der stumm daliegenden Frau etwas zu erzählen. Der Arzt hatte ihnen empfohlen, einen normalen Tagesablauf zu bewahren und mit der Frau zu reden, als wäre nichts geschehen. In den Selbstäusserungen kommen Kleinigkeiten zum Vorschein, die die Figuren aktiven Zuhörenden gegenüber kaum so äussern würden, und sei’s aus Angst vor Widerspruch. Der Sohn beispielsweise, der seine erste Verlobte verlassen und eine andere Frau geheiratet hat, der permanent verschuldet ist und offenbar wenig anzufangen weiss mit seinem Leben, muss keine Angst vor einer Reaktion haben, wenn er seiner Mutter erzählt, es gehe ihm jetzt gut, er sei reich und werde sogar um Geld angegangen. Die Tochter bricht auf zu einem Meister ins Kloster, hat ihr im Moment nichts zu sagen. Am nächsten kommt der Oma sicherlich die Tochter Ting-Ting, die bei der alten Frau Trost holt und die auch die Letzte ist, die sie noch einmal lebend sieht – oder zumindest lebend zu sehen glaubt. Ein kleiner Papierschmetterling, den die Oma ihr noch gefaltet hat, bleibt als Zeichen ihrer Seele zurück.
Dinge erzählen, die sie nicht wissen
Einer hat es nicht geschafft, mit der Grossmutter zu Lebzeiten noch zu reden: der kleine Yang-Yang. Erst als sie gestorben ist, tritt er in der Kapelle zu ihr hin und liest aus dem Heft vor, in das er am Morgen notiert hatte: «Verzeih mir, Oma, ich wollte schon mit dir reden. Aber alles, was ich dir hätte sagen können, wusstest du sicher sowieso schon. Sonst hättest du nicht immer «Hör zu» zu mir gesagt. Sie sagen alle, dass du weggegangen seist. Und du hast mir nicht mal gesagt, wohin. Sicher bist du an einem Ort, den ich deiner Ansicht nach kennen sollte. Aber Oma, ich weiss nur so wenig. Weisst du, was ich machen will, wenn ich erwachsen bin? Ich will den Leuten Dinge erzählen, die sie nicht wissen. Ihnen Dinge zeigen, die sie noch nie gesehen haben. Das wäre prima! Vielleicht finde ich eines Tages heraus, wohin du gegangen bist. Wenn ich dich finde, darf ich es dann den anderen sagen? Darf ich sie dann mit zu dir bringen? Oma, ich vermisse dich sehr. Vor allem, wenn ich meinen neugeborenen Cousin sehe, der immer noch keinen Namen hat. Er erinnert mich daran, wie du immer sagtest, dass du dich alt fühlst. Ich möchte ihm sagen, dass ich mich auch alt fühle.»
Damit klingt der Film in der Sanftheit aus, in der er angestimmt wurde und in der er inszeniert ist: nebenbei im Zentrum.
Edward Yang:
Yi Yi
Article published: 14. November 2023
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