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Filmbesprechung

Die Lichter von Mumbai

Prabha und Anu arbeiten in einem Spital in Mumbai und teilen sich eine Wohnung. Prabha hat seit Jahren nichts von ihrem Mann gehört und verbietet sich jedes Liebesleben, die jĂŒngere Anu ist frisch verliebt und trifft sich heimlich mit einem jungen Mann, den sie nicht lieben darf. Vor der schillernden Kulisse des nĂ€chtlichen Mumbais inszeniert Payal Kapadia einen vertrĂ€umt-poetischen Film und schreibt damit Geschichte: In Cannes wurde sie als erste Inderin mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet.

Vor All We Imagine as Light war dreissig Jahre lang kein indischer Film mehr im Wettbewerb von Cannes zu sehen. Zuletzt war das Destiny von Shaji N. Karun im Jahr 1994, der das Schicksal einer Witwe in Kerala ins Zentrum rĂŒckt und sich fĂŒr die Rechte der Frau in der indischen Gesellschaft stark macht. Die UnterreprĂ€sentation auf dem renommiertesten Festival der Welt erscheint paradox, wenn man bedenkt, dass Indien weltweit die grösste Filmproduktion aufweist und tĂ€glich ĂŒber 20 Millionen Zuschauer:innen in die rund 15 000 Kinos strömen.

Die Filmindustrie wird von einem mĂ€chtigen Star-System und dem alles ĂŒberstrahlenden Genre der populĂ€ren Musikkomödie dominiert, doch das indische Kino zeigt eine bemerkenswerte Vielfalt – sowohl in Bezug auf Genres als auch auf die vertretenen Kulturen und Sprachen. Es ist oft weit weniger kitschig, als man es aus westlicher Sicht annimmt. Zwar erfreuen sich viele Inder:innen an romantischen Filmen mit vorhersehbarem Ende, doch es wĂ€re ein Fehler, das indische Kino auf diese Form der Unterhaltung zu reduzieren.

Vielfalt und UnabhÀngigkeit

Indien kann auf eine lange Tradition des unabhĂ€ngigen Kinos zurĂŒckblicken, die bis in die 1950er Jahre zurĂŒckreicht. Damals ebneten talentierte junge Regisseure wie Satyajit Ray, Ritwik Ghatak oder Guru Dutt den Weg fĂŒr ein sozialkritisches Kino, das durch seinen Realismus auffĂ€llt und das Kastensystem anprangert. Gut vertreten im Katalog von trigon-film, fanden sie im Heimatland ob der allgemeinen Vorliebe fĂŒr Musicals wenig Verbreitung, wĂ€hrend sich Bollywood (eine Wortschöpfung aus Bombay und Hollywood) zum Zentrum der Hindi-Filmproduktion und des indischen Mainstream-Kinos entwickelte.

Einige der populĂ€ren Bollywoodfilme finden ihren Weg an grosse Festivals und auf die internationale Kinoleinwand, wie der sozialkritische Lagaan von Ashutosh Gowariker, der 2001 mit seinem packenden Cricketspiel und herrlichen Gesangs- und Tanzeinlagen die Piazza Grande in Locarno verzauberte. Dank der Stiftung trigon-film, die sich bemĂŒht, die ganze Bandbreite des indischen Kinos abzubilden, eroberte Lagaan spĂ€ter die Herzen eines breiten Schweizer Publikums. Daneben erweitern zahlreiche andere Titel im Katalog den Blickwinkel auf die vielgestaltige indische RealitĂ€t, wie etwa A Peck on the Cheek (2002) von Mani Ratnam, Peepli (Live) (2010) von Anusha Rizvi oder jĂŒngst eben All We Imagine as Light.

Filmstill «All We Imagine as Light»

Ihren zweiten Langfilm drehte Payal Kapadia in Mumbai, wo sie geboren wurde. Bevor sie im vergangenen Mai mit ihren Darstellerinnen ĂŒber den roten Teppich tanzen konnte und fĂŒr einen hoch emotionalen Moment sorgte, musste sich die junge Regisseurin in Bollywood, wo junge und unabhĂ€ngige Filmschaffende wenig Beachtung finden, gegen einige WiderstĂ€nde behaupten – umso mehr, als sie in ihren Filmen die LebensrealitĂ€t der Frauen in einem Land thematisiert, wo die Gewalt gegen sie nicht abreisst.

Als Tochter eines KĂŒnstlerpaars und filmbegeisterte Jugendliche engagierte sich Payal Kapadia schon im Internats-Filmclub, wo sie Ausstellungen zu Filmemachern wie Ritwik Ghatak oder Andrei Tarkowski organisierte. Ihren Traum, Filmemacherin zu werden, verfolgte sie beharrlich, obwohl sie erst nach zwei AnlĂ€ufen am renommierten Film and Television Institute of India (FTII) in Pune angenommen wurde. WĂ€hrend der Studienzeit wurde ihre Stipendienförderung ausgesetzt, weil sie gegen die Ernennung eines nationalistischen Schauspielers an die Spitze des Instituts protestierte.

Die Stimme der Frauen

Unbeirrt von diesen RĂŒckschlĂ€gen prĂ€sentierte Kapadia 2021 ihren ersten Langfilm A Night of Knowing Nothing, der in der Quinzaine des cinĂ©astes in Cannes lief und mit dem ƒil d’or fĂŒr den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde. Der in Schwarzweiss gedrehte Film zeigt eine Studentenrevolte durch Archivbilder von Protesten, die mit den Liebesbriefen einer jungen Frau verwoben werden, deren Beziehung an den Kastengrenzen zerbricht. Diese Elemente – eine Mischung aus Poesie, Politik und Romantik – finden sich auch in All We Imagine as Light wieder, das Frauen eine Stimme gibt, die in ihrer Gesellschaft oft keine haben.

Der Film beginnt mit einer dokumentarischen Sequenz: In einer Kamerafahrt durch die belebten Strassen von Mumbai sieht man MarktstĂ€nde und hört die inneren Stimmen der Menschen. Sie geistern durch die nĂ€chtliche Stadt und ermöglichen einen intimen Zugang zu den Menschenmassen und dem bunten Treiben in der Mega-Metropole. Im nĂ€chsten Augenblick gleiten wir an der Seite von Prabha in die Fiktion, die sehr wohl in der RealitĂ€t verankert ist, aber mit lyrischen Exkursen besticht, die Payal Kapadia auch mal an die RĂ€nder des Fantastischen fĂŒhren.

Filmstill «All We Imagine as Light»

Die Liebe und ihre VergÀnglichkeit

Im Mittelpunkt steht Prabha (Kani Kusruti), eine pflichtbewusste Krankenschwester, die sich einer arrangierten Ehe mit einem Mann beugen musste, der sie sogleich in Richtung Deutschland verlassen und in Einsamkeit zurĂŒckgelassen hat. Immerhin teilt sie ihre kleine Wohnung mit der jĂŒngeren Kollegin Anu (Divya Prabha). Sie kommen beide aus Kerala, wo viele Krankenpflegerinnen ausgebildet werden, um spĂ€ter in Mumbai zu arbeiten. Kraft ihres Berufs kennen die Frauen den menschlichen Körper bis ins Detail, wissen ĂŒber die Fortpflanzung oder deren Verhinderung vom Spekulum ĂŒber die Pille bis zur Vasektomie bestens Bescheid.

Was Prabha hingegen nicht weiss: was aus ihrem Ehemann geworden ist. Ohne Lebenszeichen von ihm, fĂŒhlt sie sich dennoch gebunden und weist AnnĂ€herungsversuche entschieden ab. Die junge Anu hingegen erlebt eine aufkeimende, heimliche Liebe mit dem muslimischen Shiaz (Hridhu Haroon), eine Verbindung, die in der heutigen indischen Gesellschaft nicht mehr akzeptiert wird. Ihre Treffen beschrĂ€nken sich auf flĂŒchtige Verabredungen, immer auf der Suche nach einem Versteck, um sich bald auch körperlich lieben zu können.

Anu wirkt erstaunlich unverkrampft. Sie lĂ€sst es sich nicht nehmen, amĂŒsiert zu erzĂ€hlen, wie eine Auszubildende wegen der Erektion einer Ă€lteren Patienten in Panik geriet. Prabha wirkt im Gegensatz zu ihr ernster und fast schon prĂŒde. Trotz ihren eigenen Sorgen greifen die beiden der Ă€lteren Kollegin Parvati unter die Arme, als sie aus ihrer Wohnung geworfen werden soll, weil diese einem Luxuskomplex zu weichen hat. Überzeugt von ihrem Recht als Mieterin, weigert sich die Witwe auszuziehen, ist aber ohne offizielle Dokumente der WillkĂŒr hilflos ausgesetzt.

Abwesende MĂ€nner

Mit Prabha im Zentrum spiegelt der Film das Leben dreier Frauen unterschiedlichen Alters, die im Trubel der Stadt und ihrer Arbeit gefangen sind. Ihre Beziehungen zu MĂ€nnern, die entweder abwesend, unerreichbar oder verschwunden sind, lassen Raum fĂŒr eine tief verbundene Schwesternschaft. Inmitten des sozialen Determinismus, der von Traditionen, arrangierten Ehen und Klassenunterschieden geprĂ€gt ist, verkörpern sie eine kraftvolle Resilienz.

Kapadia inszeniert die schillernde Stadt in starken Farben, selbst bei Nacht: das Blau der Spitaluniformen, das Gelb der sich hĂ€ufenden Textnachrichten, das Rot der Lichter der Stadt. Sie zögert nicht, mit krĂ€ftigen Tönen und dem Licht zu spielen, das im vielseitig lesbaren Filmtitel angelegt ist: «Alles, was wir uns als Licht ertrĂ€umen.» Mit kreativem Schwung durchsetzt sie die konkrete, auch sinnliche Beobachtung des Lebens in Mumbai mit wunderbar poetischen Bildern, zum Beispiel, wenn sie den Blick ihrer Protagonistin in die Ferne schweifen lĂ€sst oder der Regen die Stadt in eine elegische Kulisse verwandelt, die die widersprĂŒchlichen Schicksale von Prabha, Anu und Parvati perfekt widerspiegelt.

Filmstill «All We Imagine as Light»

Realismus und Lyrik

Die Verankerung in der RealitĂ€t ist von höchster Aussagekraft. Der Film spielt in den Vierteln Lower Parel und Dadar, in denen in den 1980er-Jahren Textilfabriken angesiedelt waren und Baumwolle gesponnen wurde. Als die ersten Schliessungen erfolgten und die Menschen ihre Jobs verloren, begann man den Immobilienpark zu verscherbeln. Die ansĂ€ssigen Familien wurden vertrieben, um Luxuswohnungen und funkelnden Einkaufszentren Platz zu machen. Die soziopolitische Entwicklung des Viertels ist omniprĂ€sent: Payal Kapadia drehte in einem Krankenaus, das bald abgerissen wird, dasselbe gilt fĂŒr die Wohnung von Prabha und Anu.

Die drei Protagonistinnen verkörpern die Situation vieler indischer Frauen, die wie die Krankenschwestern aus Kerala nach Mumbai gekommen sind und trotz der finanziellen UnabhÀngigkeit, die ihnen ihre Arbeit oft verschafft, unter dem Einfluss ihrer Verwandten stehen, die in der Provinz geblieben sind oder auch nicht. Patriarchalische Familien kontrollieren ihren Umgang und entscheiden, wen sie lieben und heiraten sollen.

In diesem empörenden sozialen Determinismus liegt zweifellos die grösste Motivation der Regisseurin. Dank des lyrischen Ansatzes, der mit einer starken Verwurzelung im Alltag einhergeht, zeichnet sie alle Facetten der LebensrealitÀt ihrer Figuren nach.

Filmstill «All We Imagine as Light»

Ihre Sehnsucht nach Liebe unter prekĂ€ren Lebensbedingungen offenbart die Ungerechtigkeiten von Geschlecht und Klasse, zeigt Gentrifizierung und Islamophobie. Man muss die Szene gesehen haben, in der Anu auf der Suche nach einer Burka ist, um unauffĂ€llig zu bleiben und vielleicht mit ihrem muslimischen Geliebten zusammenzukommen. Oder jene, in der Parvati und Prabha Steine auf ein Werbeschild werfen, das die VorzĂŒge der geplanten Luxuswohnungen preist und skrupellos verkĂŒndet: «Privilegien den Privilegierten!»

Seit Jahrhunderten strukturiert das aus dem Hinduismus stammende Kastensystem die indische Gesellschaft. Es unterteilt sie in vier grosse Gruppen und eine fĂŒnfte Kategorie, die Dalits (frĂŒher die «UnberĂŒhrbaren»), die historisch ausserhalb des Kastensystems standen und Opfer sozialer Ausgrenzung sind. In GrossstĂ€dten wie Mumbai haben Urbanisierung und Modernisierung die Bedeutung der Kasten zwar abgeschwĂ€cht: Viele Menschen bewegen sich heute in beruflichen Umfeldern, in denen die Kaste zwar noch prĂ€sent, aber weniger sichtbar ist – wie in dem Krankenhaus, in dem Anu, Parvati und Prabha arbeiten.Alle drei Figuren werden mit subtiler PrĂ€zision dargestellt. Sie verleihen ihren Charakteren abwechselnd Melancholie und Rebellion und stehen dabei in einem dynamischen Dialog. So entsteht eine klare und kraftvolle Schwesternschaft zwischen diesen Seelen, die nach und nach ihre Geheimnisse miteinander teilen. Ihre Verbundenheit bringt das Anliegen der Filmemacherin mit Blick auf die ZwĂ€nge, denen Frauen ausgesetzt sind, noch deutlicher auf den Punkt. Wenn die Spannung zwischen UnterdrĂŒckung und SolidaritĂ€t steigt, kann ein scheinbar banaler Gegenstand wie ein HaushaltsgerĂ€t zum Symbol der Hoffnung werden. In diesem Fall ist es ein Reiskocher, der den Verlauf der ErzĂ€hlung verĂ€ndert und die Möglichkeit einer neu zu entdeckenden Welt versinnbildlicht.

Filmstill «All We Imagine as Light»

Der Reiskocher

Der Reiskocher ermöglicht es der Regisseurin, die Stadt zu verlassen und uns an die KĂŒste von Ratnagiri im SĂŒdwesten Maharashtras zu fĂŒhren. In den 1980er Jahren kamen genau aus dieser Region Menschen nach Mumbai, um in den Baumwollspinnereien zu arbeiten. Sie waren es, die das urbane Gesicht von Lower Parel und Dadar prĂ€gten, bevor Bauherren und Spekulanten das Zepter ĂŒbernahmen.

Die nĂ€chtlichen Aufnahmen von Mumbai weichen der Natur, die an der KĂŒste von Ratnagiri immer grĂŒner und feuchter wird. Die Monsunzeit verwandelt den trockenen, roten Boden in eine ĂŒppige Landschaft. Ab diesem Moment öffnet sich der Film einem mystischen und sentimentalen Ton, der eher lĂ€ndlich als stĂ€dtisch ist. An der KĂŒste angekommen, begegnen die Freundinnen Fischern und Dorfbewohnerinnen, die sie dazu inspirieren, ihre SehnsĂŒchte noch klarer auszudrĂŒcken. An andere asiatische Filmemacher:innen erinnernd, die dem ÜbernatĂŒrlichen zugeneigt sind, greift Kapadia dies in der Metapher eines wohlgesinnten Geistes auf. Der Ausflug ins Fantastische markiert den Wendepunkt und symbolisiert eine Erneuerung fĂŒr die drei Frauen, deren Wunden im Rhythmus der Gezeiten heilen. Und erneut zeigt sich: In einer Gesellschaft, die so stark von sozialer und familiĂ€rer Kontrolle geprĂ€gt ist, wird Liebe zu einem Akt politischer Revolte, sobald sie tatsĂ€chlich möglich wird.

portrait Payal Kapadia

Payal Kapadia:

Payal Kapadia wurde 1986 in Mumbai geboren. Als Tochter eines KĂŒnstlerpaars und filmbegeisterte Jugendliche engagierte sich Payal Kapadia schon im Internats-Filmclub, wo sie Ausstellungen zu Filmemachern wie Ritwik Ghatak oder Andrei Tarkowski organisierte. Ihren Traum, Filmemacherin zu werden, ver


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