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Träume der Jugend
Verspielt und zugleich von tiefer Sehnsucht durchzogen erzählt «Where the Wind Comes From» von einer tunesischen Jugend, die träumt – vom Aufbruch, vom Anderswo, von besseren Chancen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine innige Freundschaft. Da ist Alyssa, eine rebellische 19-Jährige, die sich neben schulischen Verpflichtungen um ihre kleine Schwester und ihre kranke Mutter kümmern muss. Tagein, tagaus träumt sie davon, der Perspektivlosigkeit in Tunis zu entfliehen, am liebsten nach Europa. Ihr bester Freund Mehdi ist deutlich zurückhaltender mit seinen Wünschen. Während er sich mehr schlecht als recht auf IT-Jobs bewirbt, hofft er insgeheim, von seiner Zeichenkunst leben zu können. In derselben Nachbarschaft aufgewachsen, stehen sich Alyssa und Mehdi seit jeher wie Geschwister zur Seite – und trotzen beharrlich den Erwartungen ihres Umfelds an eine romantische Beziehung.

Nichtsdestotrotz tüftelt Alyssa an der gemeinsamen Zukunft. Als sie zufällig auf einen Kunstwettbewerb aufmerksam wird, überredet sie Mehdi kurzerhand zur Teilnahme. Als Preis für den ersten Platz lockt eine Reise nach Deutschland. Obwohl das Auswandern eher Alyssas als sein eigener Traum ist, lässt sich Mehdi von ihrem Enthusiasmus anstecken. Einziger Haken: Der Wettbewerb findet auf der Insel Djerba im Süden Tunesiens statt, über 500 Kilometer von Tunis entfernt. Es bedarf Alyssas Gewitztheit, dass die beiden ein Auto auftreiben und sich schon bald auf den Weg machen können.

Einmal durch Tunesien
In der Folge entspinnt sich ein zweitägiger Roadtrip, währenddem wir als Zuschauer:innen nicht nur die beiden Protagonist:innen kennenlernen, sondern auch tief in die Gefühlswelt einer ganzen Generation eintauchen. So gelingt es Amel Guellaty in ihrem Debütfilm mit beeindruckender Leichtigkeit, ein Roadmovie zu inszenieren, das zugleich ein vielschichtiges Porträt des modernen Tunesiens und eine poetische Hommage an die Jugend des Landes ist. Besonders spürbar: deren enttäuschte Hoffnungen nach dem Arabischen Frühling.

Dieser hatte seinen Ausgangspunkt 2010 in Tunesien, als sich ein Gemüsehändler selbst anzündete, um damit gegen Polizeiwillkür und soziale Ungerechtigkeit zu protestieren. Sein Tod löste landesweite Demonstrationen gegen das autoritäre Regime von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali aus, der das Land seit 1987 regierte. Trotz zunächst brutaler Unterdrückung wuchs der Druck auf die Regierung, ehe Ben Ali 2011 ins Exil floh. Tunesien galt damit als erstes Land des Arabischen Frühlings, das seinen Machthaber durch Proteste stürzte.
Ich wollte zeigen, dass junge Menschen kämpfen, aber gleichzeitig wollte ich kein Drama gestalten. Ich wollte eine Komödie machen, in der wir diese Kreativität, diese Energie sehen können. Es ist eine Art Ode an die Jugend in meinem Land.
Regisseurin Amel Guellaty

Die demokratischen Reformen brachten viel Hoffnung, doch letztlich wenig Veränderung in Bezug auf die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes. Seit Kais Saied 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, nimmt die Repression oppositioneller Stimmen stetig zu. 2021 setzte Saied das Parlament ausser Kraft und entliess den damaligen Premierminister. Im darauffolgenden Jahr liess er eine neue Verfassung verabschieden, die seine Macht- befugnisse als Präsident erheblich stärkte. Besonders schmerzhaft trifft das jene Jungen, die mit der Revolution gross geworden sind. Ihre Enttäuschung über den politischen Stillstand mischt sich mit einer Jugendarbeitslosigkeit von um die 40 Prozent, vor allem Hochschulabgänger:innen finden kaum Arbeit. Das Ergebnis: Viele junge Tunesier:innen migrieren nach Europa – oder hegen zumindest den Wunsch dazu.
Fantasie als Gegenmittel
Alyssa und Mehdi stehen stellvertretend für diese Generation, deren Traum es ist, ihr Heimatland Tunesien aufgrund fehlender Perspektiven zu verlassen. Eine Ausgangslage, die nach dem Stoff eines ernsten Dramas klingt. Doch Amel Guellaty schlägt eine gänzlich andere Richtung ein und zeichnet das Bild junger, lebensfroher Menschen, die der Realität mit einer gehörigen Portion Humor und Fantasie begegnen. Um das bestmöglich einzufangen, reichert sie ihr Roadmovie wohldosiert sowohl mit komödiantischen als auch surrealen Elementen an. So werden Alyssas Tagträume als musikalische Einlagen dargestellt, die ihre Umgebung in leuchtenden Farben erstrahlen lassen. Und während Mehdis Illustrationen zum Leben erwachen, besticht der Soundtrack neben klassischen arabischen Liedern durch zeitgenössische Indie-Musik aus der Region.

Es entsteht das komplexe Gesamtbild einer aufgeschlossenen tunesischen Jugend, die nicht klein beigibt – ohne dass der Film den ungewissen Weg verkennt, der vor ihr liegt. Wesentlich zur Authentizität tragen die beiden Hauptdarsteller:innen bei: Eya Bellagha überzeugt als Alyssa mit ihrem energiegeladenen, frischen Spiel, während Slim Baccar der Rolle von Mehdi eine feine Sensibilität verleiht. Die fantastische Chemie zwischen den beiden unterhält und sorgt für Lacher.
Meine beiden Figuren haben eine überbordende Vorstellungskraft, die ihnen helfen kann, manchmal der rauen Wirklichkeit zu entkommen. Sie nutzen ihre Fantasie, um einander näherzukommen. Gemeinsam von einer besseren Zukunft zu träumen ist viel wirkungsvoller, als allein zu fantasieren.
Amel Guellaty

Filmland im Aufschwung
Die Weltpremiere ihres Erstlingswerks feierte Amel Guellaty am Sundance Film Festival. Ihr spielerischer Umgang mit Form und Erzählung zeugt vom bemerkenswerten Aufschwung des tunesischen Kinos in den letzten Jahren – nicht zuletzt dank Regisseurinnen wie Kaouther Ben Hania (zweifach oscarnominiert für The Man Who Sold His Skin und Les Filles d’Olfa) oder Erige Sehiri (Under the Fig Trees, Promis le ciel). Mit einem feinen Gespür für gesellschaftliche Themen und einem besonderen Verständnis für Zwischentöne erzählen sie vielschichtige Geschichten aus einem Land im Wandel. Ihre Filme feiern internationale Erfolge und verleihen dem nordafrikanischen Kino neue Sichtbarkeit. Mit Amel Guellaty kommt nun eine weitere vielversprechende Stimme dazu.

Amel Guellaty:
Amel Guellaty (*1988) ist eine tunesische Regisseurin, Drehbuchautorin und Fotografin. Nach einem Jurastudium an der Sorbonne arbeitete sie als Regieassistentin in Frankreich, u. a. bei Olivier Assayas (Personal Shopper). Ihr Kurzfilmdebüt Black Mamba (2017) lief auf mehr als 60 Festivals und gewan…

Where the Wind Comes From
Artikel veröffentlicht: 26. August 2025
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