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Interview

«Bhutan mag klein sein, aber es gibt viel, das wir teilen können»

Ein Gespräch mit dem bhutanischen Regisseur Pawo Choyning Dorji über seinen Film «The Monk and the Gun».

Lunana wurde bekanntlich mit einer sehr kleinen Crew und Solarenergie in einem entlegenen Hochgebirgstal in Bhutan gedreht. Waren die Bedingungen für The Monk and the Gun ähnlich?

Bei Lunana war es eine kreative Entscheidung, den Film tatsächlich im Dorf Lunana zu drehen, einem der abgelegensten Orte der Welt. Das Thema der Abgeschiedenheit war für die Geschichte von wesentlicher Bedeutung und ich wollte, dass die Gemeinde so authentisch wie möglich rüberkommt. Das stellte uns vor unglaubliche Herausforderungen: Wir waren eine kleine Crew, weil wir den Hauptdrehort nur über einen beschwerlichen zweiwöchigen Trek über hohe Gipfel des Himalaya erreichen konnten. Unsere Ausrüstung und das Equipment waren absolut simpel, und das nicht, weil wir es so wollten, sondern weil teure moderne Technik schlicht nicht zu gebrauchen gewesen wäre, denn das Dorf verfügte nicht einmal über einen Stromanschluss.

The Monk and the Gun musste nicht an einem so isolierten Ort spielen. Ura, der Hauptschauplatz, ist zwar eine ländliche Gemeinde, hat jedoch Zugang zu moderner Infrastruktur wie Strom und gut befahrbaren Strassen. Das habe ich ausgenutzt, um eine grössere Crew und eine modernere Drehausrüstung am Set zu haben. Gemessen an internationalen Standards war unsere Produktion wohl aber immer noch recht einfach. In Bhutan gibt es kein Kamera- und Beleuchtungsequipment, also musste unsere Mietausrüstung den ganzen Weg von Neu-Delhi bis ans Set zurücklegen, was eine ganze Woche in Anspruch nahm.

Filmstill aus «The Monk and the Gun»

Haben Sie sowohl mit professionellen Schauspieler:innen als auch mit Einheimischen gedreht? Wussten die Darstellenden vom internationalen Erfolg von Lunana?

Es gibt keine professionellen Schauspieler:innen in Bhutan und damit meine ich solche, die eine entsprechende Ausbildung absolviert haben. Die nationale Filmindustrie hier ist sehr klein und produziert Filme für das bhutanische Publikum. Bei The Monk and the Gun war das Casting wesentlich grösser angelegt als bei Lunana, da ein ganzes Ensemble im Mittelpunkt der Geschichte steht. Ich habe versucht, möglichst einheimische Darsteller:innen zu engagieren. Tandin Sonam und Deki Lhamo, die Benji und Tshomo spielen, sind Schauspieler aus der lokalen bhutanischen Filmindustrie. Die Zusammenarbeit mit ihnen war eine sehr bereichernde Erfahrung und ich war äusserst beeindruckt von ihrem Engagement und ihrer Arbeitshaltung.

Bei beiden meiner Filme versuchte ich, das, was man als Herausforderung betrachten könnte, in einen Vorteil umzumünzen. Da es keine ausgebildeten Schauspieler:innen gibt, caste ich meine Darstellenden so früh wie möglich im Entstehungsprozess, damit ich Zeit habe für Proben, aber auch dafür, sie und ihre Charakterzüge, ihre Eigenschaften kennenzulernen, die ich dann durchaus auch den Figuren zuschreibe und ins Drehbuch einfliessen lasse. So sind alle im Film mehr sich selbst als Schauspieler:innen. Das hilft bei der Performance und ist etwas, das zum Beispiel beim Casting von Pem Zam (Anm.: dem Mädchen) in Lunana wunderbar funktioniert hat.

Auch bei The Monk and the Gun habe ich Leute aus der kleinen Gemeinde für Schlüsselrollen im Film gecastet. Die meisten Statist:innen leben in Ura und der Lama (buddhistischer Meister) im Film ist der tatsächliche und einzige Lama des Dorfes.

Der Trailer zum Film

Beide Ihrer Filme beginnen mit der Darstellung der Unterschiede zwischen der Hauptstadt Thimphu und den ländlichen, bergigen Teilen Bhutans. Gibt es Spannungen oder kulturelle Missverständnisse zwischen der Stadt- und Landbevölkerung in Bhutan?

Diese inneren und äusseren Kontraste zwischen dem städtischen und dem ländlichen Bhutan spielen in beiden meiner Filmen eine Rolle, weil sie beide mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Geschichte eines Landes und eines Volkes erzählen, das sich in einem Zustand der Veränderung und des Übergangs befindet. Das Motiv des Übergangs wird am deutlichsten im Vergleich zwischen den traditionellen, kulturellen und spirituellen Werten des ländlichen Bhutan und dem modernen, entwicklungsorientierten und westlich geprägten städtischen Bhutan.

Mit beiden Filmen möchte ich den Wert und die Einzigartigkeit der bhutanischen Kultur und Traditionen vermitteln. Wie jedes andere Land ist auch Bhutan ständig bestrebt, modern, gebildet und westlich zu werden. Im Zuge dessen geben wir teilweise unsere Kultur und Traditionen auf, die uns so einzigartig machen. Da diese Werte in der Stadt mehr oder weniger im Verschwinden begriffen sind, musste ich ins ländliche Bhutan reisen, um sie zu verdeutlichen.

In Lunana ging es um Heimat, in The Monk and the Gun hingegen um den Wert der Unschuld – ein besonders wichtiger Aspekt im Leben der Bhutaner:innen. Mit dem Wandel und dem Übergang zu einem moderneren und gebildeten Land geht dieser schöne Wert leider verloren und verschwindet, weil der moderne Verstand anscheinend nicht zwischen Unschuld und Unwissenheit unterscheiden kann.

In The Monk and the Gun wird das Publikum sehen, dass viele der ländlichen Charaktere von Unschuld angetrieben sind, was sich mit dem Vergleich von Land und Stadt nur noch verdeutlicht.

Filmstill aus «The Monk and the Gun»

Mönche sind im Film von zentraler Bedeutung. Welche Rolle spielen sie in der bhutanischen Gesellschaft, gibt es auch hier einen Stadt-/Landgraben? Wären die meisten Menschen schockiert, einen Mönch mit einer Waffe zu sehen?

Der Buddhismus in Bhutan ist nicht nur ein spiritueller Weg, sondern eine Lebensweise. Die Lehren des Buddha beeinflussen jeden Aspekt der bhutanischen Kultur und Traditionen. Vor diesem Hintergrund sind die Mönche, die als physische Verkörperung der Lehren des Buddha gelten, in Bhutan Personen, denen man mit grossem Respekt, Verehrung und Hingabe begegnet. Man kann sagen, dass dies in den ländlichen Teilen Bhutans, wo die Verstädterung und die Verwestlichung noch nicht so weit fortgeschritten sind, stärker und offensichtlicher ist.

Der Lama und die Mönche im Film sollten die bhutanische Verehrung für die Kultur und die Traditionen des Buddhismus verkörpern. Der Respekt vor den Geweihten ist so gross, dass die Landbevölkerung die Dreistigkeit eines Mönchs mit einem Gewehr nicht einmal zu hinterfragen scheint. Das Vertrauen in die Lehren des Buddha reicht derart tief, dass das «Motiv einer Handlung viel wichtiger ist als die Handlung selbst». Es ist auch wichtig, den Stellenwert der Symbolik in der bhutanischen Kultur zu betonen und zu zeigen, dass die symbolische Kraft von Gegenständen manchmal wichtiger sein kann als der Gegenstand selbst.

Filmstill aus «The Monk and the Gun»

Der Film spielt zu Beginn der schrittweisen Einführung der Demokratie. In vielen anderen Gesellschaften hat sich die Demokratie nach einer Art Revolution aus einer anderen Ordnung heraus durchgesetzt. Wie war das in Bhutan?

Einer der Hauptgründe, warum mir diese Geschichte am Herzen liegt, ist, dass ich der Welt zeigen und meine Landsleute daran erinnern wollte, wie einzigartige die Umstände waren, die zur Öffnung und Modernisierung Bhutans führten.

In der modernen Geschichte hing die Existenz des kleinen Bhutan von seiner Fähigkeit ab, unbedeutend zu bleiben. Die Politik der Selbstisolierung half Bhutan zu überleben und dem Kolonialismus und dem ausländischen Einfluss zu widerstehen, während seine Nachbarn Tibet und Sikkim ihre Unabhängigkeit verloren. Als der Rest der Welt Trends der Globalisierung wie Coca-Cola, McDonald's, MTV und Demokratie übernahm, klammerte sich Bhutan hartnäckig an die Sicherheitsnetze der Vergangenheit, mit dem König als einziger Autorität und den 2500 Jahre alten Lehren des Buddha als Wegweiser für das eigene Leben. Mit dem Beginn des digitalen Zeitalters beschlossen die Bhutaner:innen, das Internet, Mobiltelefone und Kabelfernsehen zu meiden, um ihre eigene einzigartige Lebensweise zu schützen.

Doch Mitte der 2000er Jahre, zu der Zeit, in der der Film spielt, sah sich Bhutan in seiner Existenz bedroht, da es sich in einer digitalisierten, politisierten Welt abgehängt sah. Ich dachte mir, dass dies eine grossartige Kulisse für die Geschichte von The Monk and the Gun wäre: Eine Zeit, in der Bhutan das letzte Land der Welt war, das ans TV-Netz angeschlossen wurde und das Internet erlaubte, und vermutlich eines der wenigen Länder, in dem ein demokratisches System nicht durch eine Revolution herbeigeführt werden musste, sondern ein König freiwillig abdankte, damit sein Land und sein Volk seinen eigenen, ganz besonderen Platz in der Welt finden konnten.

Filmstill aus «The Monk and the Gun»

Mehr als 15 Jahre sind seit der Einführung vergangen. Wie steht es Ihrer Ansicht nach heute um die Demokratie in Bhutan?

Der Zeitraum scheint mir zu kurz, um ein Urteil über den demokratischen Prozess zu fällen. In den letzten 15 Jahren fanden drei Mal Wahlen statt und drei demokratisch gewählte politische Parteien haben das Land geführt. Nehmen wir als Beispiel die Demokratie in den USA: Es hat 72 Jahre und 18 Wahlgänge gedauert, bis sich die politischen Parteien der konservativen Republikaner und der liberalen Demokraten herauskristallisiert haben.

Die Demokratie in Bhutan steckt noch in den Kinderschuhen, wir sind erst dabei, uns an sie zu gewöhnen. Da ist es nur verständlich, dass es noch viele Situationen gibt, in denen die Menschen lernen, Dispute auszutragen, etwas, das unserer Kultur sehr fremd ist.

Im Film wirken die meisten Menschen misstrauisch gegenüber der Demokratie und sind unsicher, ob sie ihrem Land tatsächlich Wohlstand und Zufriedenheit bringen wird. Hat sich diesbezüglich etwas verändert?

In einer Kultur, in der der Gemeinschaftssinn tief verwurzelt ist, hat das Aufkommen von Individualismus und individualistischen Ideologien für Unbehagen gesorgt und dürfte es weiterhin tun. Das Geschenk der Demokratie wurde mit der weitsichtigen Vision Seiner Majestät, des Königs, und der gelehrten Mitglieder unserer Gesellschaft mit Blick auf das Wohl der Nation sorgfältig geplant und umgesetzt. Jetzt liegt es an uns, dem Volk, diese Vision und Motivation zu ehren und unseren Pflichten als demokratisches Land gerecht zu werden.

Filmstill aus «The Monk and the Gun»

Was bedeutet es für den König von Bhutan, einen Bruttonationalglücksindex zu haben? War die Demokratie Teil davon?

Konzepte wie das Bruttonationalglück und das Würdigen von Werten wie Unschuld sind die Gründe, warum ich versuche, die bhutanischen Geschichten in die Welt zu tragen. Bhutan mag klein sein, aber es gibt viel, das wir teilen können.

Das Streben nach Glück mag von einigen als etwas Abstraktes und Wunschdenken angesehen werden. Aber für uns Bhutaner:innen ist es kein Marketing-Gag, sondern ein Leitprinzip, das in unserer Kultur und Spiritualität verankert ist. Als die bhutanische Regierung 1729 ihr erstes Gesetzbuch verfasste, hiess es in der Einleitungserklärung, dass «der Zweck einer Regierung darin besteht, für das Glück ihres Volkes zu sorgen, und wenn eine Regierung nicht dafür sorgen kann, sie keinen Grund hat zu existieren». Das Bruttonationalglück ist das Leitmotiv unserer Entwicklung und die Vision, die wir als Volk und Nation anstreben. Das Konzept des Bruttonationalglücks entstand in einer Zeit, in der Bhutans Status als unabhängige Nation auf der Kippe stand und wir uns gerade als Teil der Vereinten Nationen der globalen Welt anschlossen. Der Begriff des Bruttonationalglücks verkörpert das, wofür Bhutan steht und was es für sein Volk anstrebt. Es ist die Fähigkeit, sich mit Verstand und Geschick an veränderte Situationen anzupassen. Sie hat es unseren Königen ermöglicht, das Land durch Zeiten zu führen, die die Souveränität der Nation gefährdeten. Genauso werden wir behutsam dazu geführt, die Demokratie anzunehmen und schliesslich als solche zu gedeihen.

portrait Pawo Choyning Dorji

Pawo Choyning Dorji:

Pawo Choyning Dorji is a writer, photographer and filmmaker from the Kingdom of Bhutan. Pawo's introduction to film came in 2012 when he worked as Khyentse Norbu's assistant for the later's feature Vara – A Blessing. In 2016 he produced the critically acclaimed Bhutanese feature Hema Hema – Sing me…

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